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Informationen zum Dokument  BGer 8C_774/2018  Materielle Begründung
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BGer 8C_774/2018 vom 30.01.2019
 
 
8C_774/2018
 
 
Urteil vom 30. Januar 2019
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Susanne von Aesch,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Nidwalden,
 
Stansstaderstrasse 88, 6371 Stans,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung
 
(aufschiebende Wirkung; kantonales Verfahren),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts Nidwalden vom 10. Oktober 2018 (SV 18 27).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 1963 geborene A.________ erhielt mit Verfügung vom 22. Dezember 2014 gestützt auf das vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) Zentralschweiz erstellte versicherungspsychiatrisch-psychophysiologisch-neuropsychologische Gutachten vom 20. Mai 2014 eine ganze Invalidenrente ab 1. Mai 2013 zugesprochen. Im Rahmen des am  8. September 2015 eingeleiteten Revisionsverfahrens liess die IV-Stelle Nidwalden A.________ observieren und eröffnete ihm anlässlich einer Befragung zur aktuellen Situation am 17. April 2018 die Ergebnisse. Gleichentags teilte sie ihm mit, zur Klärung der Leistungsansprüche sei eine polydisziplinäre Begutachtung notwendig, stellte ihm die Fragen an die Gutachterstelle zu und räumte ihm Gelegenheit zur Einreichung von Zusatzfragen ein. Mit Mitteilung vom 8. Juni 2018 gab die IV-Stelle A.________ die zugeloste Gutachterstelle, die medizinische Abklärungsstelle Bern ZVMB GmbH (MEDAS Bern), sowie die Namen der einzelnen Gutachter bekannt. Der Versicherte liess mit Eingabe vom 14. Juni 2018 beantragen, es sei auf eine polydisziplinäre Begutachtung zu verzichten und er sei durch Dr. med. B.________, Leitender Arzt Fachstelle Forensik, Psychiatrie C.________, forensisch-psychiatrisch zu begutachten. Die IV-Stelle wies die erhobenen Einwände mit Schreiben vom 26. Juni 2018 ab. Nachdem A.________ mit Eingabe vom 12. Juli 2018 an seinen Anträgen festhielt und eventualiter eine bidisziplinäre Begutachtung durch Dr. med. B.________ und Dr. med. D.________, Chefarzt Wirbelsäulenchirurgie, Klinik E.________, beantragte, erliess die IV-Stelle am 18. Juli 2018 auf Ersuchen des Versicherten eine entsprechende Zwischenverfügung, in welcher sie an der geplanten Begutachtung durch die MEDAS Bern sowie an den begutachtenden Ärzten festhielt und einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzog.
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B. Dagegen liess A.________ am 6. September 2018 Beschwerde erheben und beantragen, die Zwischenverfügung vom 18. Juli 2018 sei aufzuheben, es sei eine mono-, eventualiter eine bidisziplinäre Begutachtung anzuordnen, die Angelegenheit sei zur Durchführung eines Einigungsverfahrens über die Gutachterperson (en) an die IV-Stelle zurückzuweisen, eventualiter sei von einer Begutachtung durch   Dr. med. F.________ abzusehen und es sei die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wiederherzustellen. Mit Entscheid vom 10. Oktober 2018 wies das Verwaltungsgericht Nidwalden den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, der vorinstanzliche Entscheid vom 10. Oktober 2018 sei aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die Zwischenverfügung vom 18. Juli 2018 sei wieder herzustellen.
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Die IV-Stelle beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Mit Eingabe vom 14. Januar 2019 lässt A.________ an seinen Anträgen festhalten.
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Erwägungen:
 
1. Das Bundesgericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 144 V 280 E. 1 S. 282 mit Hinweis).
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Erwägung 2
 
2.1. Die Vorinstanz hat das Gesuch des Beschwerdeführers um Wiederherstellung der von der IV-Stelle zuvor entzogenen aufschiebenden Wirkung seiner Beschwerde vom 6. September 2018 gegen die Zwischenverfügung vom 18. Juli 2018 abgewiesen. Weil dieser Entscheid das Verfahren nicht abschliesst, liegt kein Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG vor, sondern ein Vor- oder Zwischenentscheid über die Anordnung einer vorsorglichen Massnahme im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 137 III 324 E. 1.1 S. 327 f.). Derartige Zwischenentscheide sind beim Bundesgericht unter anderem anfechtbar, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1   lit. a BGG) und wenn auch in der Hauptsache die Beschwerde an das Bundesgericht offensteht (Grundsatz der Einheit des Prozesses; BGE 133 III 645 E. 2.2 S. 647 f.). Der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne des Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss rechtlicher Natur sein, d.h. auch durch einen günstigen Endentscheid nicht mehr behoben werden können. Eine rein tatsächliche oder wirtschaftliche Erschwernis genügt in der Regel nicht (BGE 137 V 314 E. 2.2.1 S. 317 mit Hinweisen). Grundsätzlich gilt, dass Zwischenentscheide, mit denen in eine Rechtsstellung, namentlich in Grundrechte, eingegriffen wird, einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können, wenn dieser Eingriff faktisch irreparabel ist (Urteil 9C_835/2015 vom 22. Dezember 2015 E. 2.1 mit Hinweis).
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2.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, der nicht wieder gutzumachende Nachteil liege darin, dass er sich aufgrund der Abweisung des Gesuchs um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde der von der IV-Stelle angeordneten Begutachtung zu unterziehen habe, ohne dass eine gerichtliche Instanz über deren Rechtmässigkeit entschieden habe. Damit würden die ihm zustehenden Mitwirkungsrechte bei der Sachverhaltsfeststellung in unrechtmässiger Weise vereitelt.
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2.2.1. Das Bundesgericht hat in BGE 138 V 271 E. 1.2 S. 275 f. bezüglich der Frage der Anfechtbarkeit der Anordnung eines Gutachtens darauf hingewiesen, dass für die Beurteilung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Kontext des IV-rechtlichen Abklärungsverfahrens mit seinen spezifischen Gegebenheiten berücksichtigt werden müsse, dass das Sachverständigengutachten im Rechtsmittelverfahren mit Blick auf die fachfremde Materie faktisch nur beschränkt überprüfbar sei. Der Rechtsanwender sehe sich mangels ausreichender Fachkenntnisse kaum in der Lage, in formal korrekt abgefassten Gutachten objektivfachliche Mängel zu erkennen. Zugleich stehe die faktisch vorentscheidende Bedeutung der medizinischen Gutachten für den Leistungsentscheid in einem Spannungsverhältnis zur grossen Streubreite der Möglichkeiten, einen Fall medizinisch zu beurteilen, und zur entsprechend geringen Vorbestimmtheit der Ergebnisse. Diesen Umständen sei mit verfahrensrechtlichen Garantien zu begegnen. Die Mitwirkungsrechte müssten im Beschwerdeverfahren durchsetzbar sein. Wenn dies durch Anfechtung des Endentscheids nicht mehr möglich sei, könne ein nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen, der den Rechtsweg an eine Beschwerdeinstanz öffne. Da systemimmanent kein Anspruch auf Einholung eines Gerichtsgutachtens bestehe, sei das Administrativgutachten häufig die wichtigste Entscheidungsgrundlage im Beschwerdeverfahren. In solchen Fällen kämen - so das Bundesgericht - die bei der Beweiseinholung durch ein Gericht vorgesehenen Garantien zugunsten der privaten Partei im gesamten Verfahren nicht zum Tragen. Um dieses Manko wirksam auszugleichen, müssten die gewährleisteten Mitwirkungsrechte durchsetzbar sein, bevor präjudizierende Effekte eintreten würden. Mit Blick auf das naturgemäss begrenzte Überprüfungsvermögen der rechtsanwendenden Behörden genüge es daher nicht, die Mitwirkungsrechte erst nachträglich, bei der Beweiswürdigung im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren, einzuräumen. Für die Annahme eines drohenden unumkehrbaren Nachteils spreche schliesslich auch, dass die mit medizinischen Untersuchungen einhergehenden Belastungen zuweilen einen erheblichen Eingriff in die physische oder psychische Integrität bedeuteten. Aus diesen Gründen hat das Bundesgericht die Anfechtbarkeitsvoraussetzung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren in IV-Angelegenheiten bejaht, zumal die nicht sachgerechte Begutachtung in der Regel einen rechtlichen und nicht nur tatsächlichen Nachteil bewirkt.
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2.2.2. Vorliegend geht es nicht um die Anfechtbarkeit der Anordnung des Gutachtens an sich, sondern um die Frage der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegen die Anordnung der Begutachtung. Da das kantonale Gericht mit Entscheid vom   10. Oktober 2018 den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abgewiesen hat, ist die IV-Stelle berechtigt, den Versicherten unter Androhung der Rechtsfolgen nach Art. 43 Abs. 3 ATSG zur umstrittenen polydisziplinären Begutachtung, gegen deren Anordnung der Versicherte Beschwerde erhoben hat, zu verpflichten, ohne dass ein Entscheid des kantonalen Gerichts über die Rechtmässigkeit der Anordnung dieser Begutachtung vorliegt. Dadurch würden die in E. 2.2.1 hievor dargelegten Mitwirkungsrechte des Versicherten bei der Beweiseinholung vereitelt und sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Bevor die erste Instanz einen materiellen Entscheid über die Rechtmässigkeit der umstrittenen Gutachtensanordnung gefällt hat, darf daher die Begutachtung, wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, nicht durchsetzbar sein. Die Verneinung der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung durch die Vorinstanz kann mithin einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von   Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken.
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2.3. Da auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
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Erwägung 3
 
3.1. Entscheide über die aufschiebende Wirkung sind Entscheide über vorsorgliche Massnahmen nach Art. 98 BGG (SVR 2012 IV Nr. 40   S. 151, 9C_652/2011 E. 4.1; Urteil 9C_241/2017 vom 14. Juni 2017 E. 1.1 mit Hinweis). Gemäss der in Art. 98 BGG enthaltenen Vorschrift kann mit der Beschwerde gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden.
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3.2. Das kantonale Gericht hat erwogen, die Frage, ob die aufschiebende Wirkung der Beschwerde (Suspensiveffekt) wiederherzustellen sei, beurteile sich aufgrund einer Interessenabwägung. Es legte dar, dass im Falle eines Entscheids in der Hauptsache zu Gunsten des Beschwerdeführers ein bereits erstelltes Gutachten tatsächlich nicht verwertbar wäre. Die entsprechenden (insbesondere finanziellen) Konsequenzen hätte indessen nicht der Beschwerdeführer, sondern die IV-Stelle zu tragen. Ein konkretes Interesse des Beschwerdeführers, dessen Rente die IV-Stelle weiterhin ausrichte, werde weder dargetan noch sei ein solches ersichtlich, wohingegen das seitens der IV-Stelle geltend gemachte Interesse an einer schnellen Klärung der gesundheitlichen Situation des Beschwerdeführers evident sei. Das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung sei daher abzuweisen.
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3.3. Entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen hat der Beschwerdeführer sein Interesse an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bereits im kantonalen Verfahren dargetan, indem er aufgezeigt hat, dass bei deren Nichtwiederherstellung die rechtsgenügliche Wahrung seiner Rechte vereitelt würde. Entsprechend rügt er auch vor Bundesgericht, dass er die ihm zustehenden Verfahrensgarantien gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 ff. BV nicht durchsetzen könne, wenn er sich der umstrittenen Begutachtung zu unterziehen habe, ohne dass deren Rechtmässigkeit von einer Gerichtsinstanz überprüft worden sei. Die Wahrung der verfassungsrechtlich geschützten Mitwirkungsrechte, die - wie in E. 2.2.1 hievor eingehend dargelegt - ja auch die Anfechtbarkeit der Anordnung eines Gutachtens rechtfertigt, ist mit dem Beschwerdeführer höher zu gewichten als das weitgehend finanzielle Interesse der IV-Stelle an einer schnellen Abklärung der gesundheitlichen Situation. Wie aufgezeigt, kommen bei der Einholung eines Administrativgutachtens die bei der Beweiseinholung durch ein Gericht vorgesehenen Garantien zu Gunsten des Versicherten nicht zum Tragen, weshalb die gewährleisteten Mitwirkungsrechte zum wirksamen Ausgleich dieses Mankos durchsetzbar sein müssen, bevor präjudizierende Effekte eintreten. Zudem stellen die mit medizinischen Untersuchungen einhergehenden Belastungen rechtsprechungsgemäss bisweilen einen erheblichen Eingriff in die physische und psychische Integrität dar, weshalb auch aus diesem Grund ein erhebliches Interesse daran besteht, sich einer umstrittenen Begutachtung nicht vor dem gerichtlichen Entscheid über deren Rechtmässigkeit zu unterziehen. Schliesslich hätte die IV-Stelle im Rahmen des hängigen Revisionsverfahrens ohnehin die Möglichkeit, die Ausrichtung der Invalidenrente zu sistieren (vgl. Urteil 9C_45/2010 vom 12. April 2010 E. 2), womit ihr finanzielles Interesse wegfallen würde.
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3.4. Zusammenfassend hat die Vorinstanz bei der vorgenommenen Interessenabwägung insbesondere die Wahrung der verfassungsrechtlich geschützten Mitwirkungsrechte des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt. Damit verletzt der angefochtene Entscheid in Begründung und Ergebnis offensichtlich Bundesrecht, indem er sich über die gesetzliche Regelung und die Rechtsgrundsätze zur aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde hinwegsetzt. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist mithin begründet.
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4. Mit dem vorliegenden Entscheid wird die Frage der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde für das bundesgerichtliche Verfahren gegenstandslos.
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5. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts Nidwalden, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 10. Oktober 2018 und die Verfügung der IV-Stelle Nidwalden vom 18. Juli 2018, soweit sie der Beschwerde vom 6. September 2018 gegen diese Verfügung die aufschiebende Wirkung entzog, werden aufgehoben.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht Nidwalden, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. Januar 2019
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch
 
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