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Informationen zum Dokument  BGer 9C_600/2018  Materielle Begründung
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BGer 9C_600/2018 vom 07.01.2019
 
 
9C_600/2018
 
 
Urteil vom 7. Januar 2019
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Parrino,
 
nebenamtlicher Bundesrichter Weber,
 
Gerichtsschreiberin Stanger.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kreso Glavas,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 29. Juni 2018 (VBE.2018.23).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Mit Verfügung vom 24. April 2013 hob die IV-Stelle des Kantons Aargau die bisher ausgerichtete ganze Invalidenrente des 1958 geborenen A.________ auf. Im Januar 2014 meldete sich der Versicherte erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch. Insbesondere veranlasste sie eine polydisziplinäre Begutachtung beim ABI, Ärztliches Begutachtungsinstitut, Basel (Expertise vom 25. September 2017; Fachrichtungen: Allgemeine Innere Medizin, Psychiatrie, Orthopädie, Neurologie, Neuropsychologie, Pneumologie, Viszeralchirurgie, Kardiologie, Otorhinolaryngologie, Endokrinologie). Mit Verfügung vom 30. November 2017 verneinte sie einen Rentenanspruch.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 29. Juni 2018 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, der Entscheid vom 29. Juni 2018 sei aufzuheben und es sei ihm mindestens eine halbe Rente zuzusprechen.
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Erwägungen:
 
1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen vor Bundesgericht nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 135 V 194 E. 2.2 S. 196), was in der Beschwerde näher darzulegen ist (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395). Der vorinstanzliche Verfahrensausgang allein bildet noch keinen hinreichenden Anlass im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG für die Zulässigkeit von unechten Noven, die bereits im kantonalen Verfahren ohne weiteres hätten vorgebracht werden können. Das Vorbringen von Tatsachen, die sich erst nach dem angefochtenen Entscheid ereigneten oder entstanden (echte Noven), ist vor Bundesgericht unzulässig (BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 22 f. mit Hinweisen).
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3. Das Versicherungsgericht verneinte in Bestätigung der Verfügung vom 30. November 2017 einen Rentenanspruch. Es stützte sich hierzu insbesondere auf das Gutachten des ABI vom 25. September 2017, wonach der Versicherte für sämtliche körperlich leichte, adaptierte Tätigkeiten zu 100 % arbeitsfähig sei. Auf dieser Grundlage ermittelte es in Anwendung der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG) - unter Berücksichtigung eines maximalen Tabellenlohnabzugs von 25 % (BGE 126 V 75) - einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von gerundet 24 % (Art. 28 Abs. 2 IVG).
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4. Der Beschwerdeführer bestreitet den Beweiswert des Administrativgutachtens (vgl. zum Beweiswert ärztlicher Berichte BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232 mit Hinweis) in verschiedener Hinsicht:
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4.1. Zunächst macht er geltend, der psychiatrische Experte sei davon ausgegangen, er sei "im Mai/Juni 2017" alleine mit dem Flugzeug nach B.________ geflogen, was nicht zutreffe; er sei zusammen mit seiner Ehefrau geflogen. Durch diese falsche Annahme werde "die zentrale Würdigung des Gutachters zur Makulatur". Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Zwar erwähnte der Experte im Zusammenhang mit der psychiatrischen Anamnese, dass der Versicherte im besagten Zeitraum alleine mit dem Flugzeug gereist sei. Bei der Beurteilung der Schwere der Erkrankung stellte der Experte bezüglich dieser Reise jedoch einzig fest, es bestehe gegenwärtig "sicher" keine schwere depressive Episode, "sonst wäre es dem Exploranden nämlich auch nicht möglich, Flugreisen zu unternehmen". Bei einer schweren depressiven Episode seien nach ICD-10 Tätigkeiten und Aktivitäten praktisch nicht mehr möglich. Damit negierte der Experte eine schwere depressive Episode aufgrund der (unbestrittenen) Tatsache, dass der Beschwerdeführer eine Flugreise angetreten hat, unabhängig davon, ob er alleine oder mit Begleitung geflogen ist. Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob die zum Beweis der gemeinsam mit seiner Ehefrau angetretenen Reise eingereichten Unterlagen unzulässige Noven (vgl. E. 2) darstellen.
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4.2. Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, im Januar 2018 habe ein operativer Eingriff stattgefunden, obschon der orthopädische Gutachter nachdrücklich vor jeder neuen Operation gewarnt habe. Entweder habe der Experte die Situation "verniedlichend dargestellt" oder die behandelnden Ärzte hätten einen Kunstfehler begangen, indem sie eine unnötige Operation durchgeführt haben. Dieser Sachverhalt sei auf jeden Fall im Rahmen einer Gerichtsexpertise zu klären. Auch dieser Einwand zielt ins Leere. In den Akten findet sich einzig ein Operationsaufgebot; einen Operationsbericht oder andere medizinische Unterlagen, welche Aufschluss über Inhalt und Verlauf der (angeblich) im Januar 2018 durchgeführten Operation gäben, legte er nicht ins Recht. Abgesehen davon ist ohnehin lediglich der Sachverhalt zu beurteilen, wie er sich bis zum Verfügungszeitpunkt (30. November 2017) entwickelt hat (BGE 121 V 362 E. 1b S. 366mit Hinweisen). Im Übrigen scheint der Versicherte zu übersehen, dass eine abweichende fachärztliche Beurteilung über eine Operationsindikation allein nicht genügt, um den Beweiswert eines medizinischen Gutachtens entscheidend zu mindern (vgl. Urteile 8C_146/2017 vom 7. Juli 2017 E. 4.2.2 und 9C_190/2016 vom 20. Juni 2016 E. 4).
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4.3. Sodann moniert der Beschwerdeführer, während der orthopädischen Begutachtung sei eine schwere Konfliktsituation entstanden, wobei er "in eine Aussichtslosigkeit getrieben und bedrängt" worden sei, was ein aussagekräftiges und schlüssiges Gutachten verunmögliche. Diese Darstellung findet in den Akten keine Stütze. Der orthopädische Experte gab an, der Explorand habe von Beginn an aufgebracht gewirkt und sei immer wieder laut geworden, jedoch habe das Gespräch problemlos geführt werden können. Dem Schreiben der damaligen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers an die IV-Stelle vom 26. Juli 2017 ist zu entnehmen, die Situation habe durch den Chefarzt der Gutachterstelle beruhigt werden können und die Untersuchung sei abgeschlossen worden, nachdem der Versicherte einen Gefühlsausbruch gehabt und das Untersuchungszimmer verlassen habe.
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4.4. Unbehelflich ist der Einwand des Beschwerdeführers, er weise "gemäss Pneumatologen" (richtig: Pneumologen) eine schwere Dyspnoe auf, welche im ABI-Gutachten als Diagnose nicht einmal aufgeführt worden sei. Auch die Ärzte des Spitals C.________, Abteilung Pneumologie, stellten in ihrem Bericht vom 12. Januar 2016 keine solche Diagnose. Wie der pneumologische Experte stellten sie ein Schlaf-Apnoe Syndrom fest. Sie führten aus, dass in der Zusammenschau der erhobenen Befunde eine relevante verkehrsmedizinische Erkrankung bestehe, welche jedoch subjektiv stabil und erfolgreich behandelt sei. Der Gutachter hielt fest, dass bei gut kontrolliertem Schlaf-Apnoe Syndrom aus rein pneumologischer und schlafmedizinischer Sicht keine Arbeitsunfähigkeit bestehe.
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4.5. Auch die weiteren Vorbringen des Beschwerdeführers sind nicht geeignet, den Beweiswert des ABI-Gutachtens zu schmälern. Insbesondere setzte sich der psychiatrische Experte mit den Unfallereignissen und der nicht eingetretenen Beschwerdefreiheit auseinander. Dabei ging er davon aus, diese hätten (zusammen mit den somatischen Problemen) zu Verunsicherung und Enttäuschung geführt, verneinte jedoch "deutlich schwere Belastungen mit einer deutlichen Relevanz, um sich negativ auf die Gesundheitsentwicklung auszuwirken" (Gutachten S. 23). Auch erwähnte der Experte die aktenanamnestisch beschriebene Aggressivität. Er stellte anlässlich der Begutachtung fest, dass der Explorand doch recht klagend gewesen sei und etwas wenig frustrationstolerant gewirkt habe, er habe sich aber doch auch zusammennehmen können, eine Willensanstrengung aufbringen und kooperativ verhalten können (Gutachten S. 19 und S. 23 f.). Ebenso befasste sich der neurologische Gutachter mit den erlittenen Hirntraumata. Dabei würdigte er auch die vom Beschwerdeführer geklagten Kopfschmerzen und zeigte auf, weshalb diese keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit haben (Gutachten S. 33 f.).
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4.6. Zusammenfassend verletzt das Abstellen der Vorinstanz auf das ABI-Gutachten kein Bundesrecht.
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5. Weiter richten sich die Vorbringen in der Beschwerde gegen den vorinstanzlichen Einkommensvergleich. Sie sind nicht stichhaltig:
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5.1. Soweit der Versicherte die Ausführungen der Vorinstanz zum ausgeglichenen Arbeitsmarkt moniert, beschränkt er sich darauf, geltend zu machen, er sei aufgrund seines Alters auf dem konkreten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar. Indessen ist einzig massgebend, ob der Beschwerdeführer seine (Rest-) Arbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 16 ATSG) noch wirtschaftlich nutzen könnte. Der ausgeglichene Arbeitsmarkt ist ein theoretischer und abstrakter Begriff und berücksichtigt die konkrete Arbeitsmarktlage gerade nicht (BGE 134 V 64 E. 4.2.1 S. 70f. mit Hinweis).
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5.2. Was die Vorbringen des Versicherten im Zusammenhang mit dem leidensbedingten Abzug anbelangt, hat bereits die Vorinstanz zutreffend darauf hingewiesen, dass selbst bei Berücksichtigung eines Abzugs in maximal zulässiger Höhe ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von gerundet 24 % resultieren würde (vgl. E. 3). Die Beschränkung des Abzuges auf maximal 25 % entspricht langjähriger Rechtsprechung (BGE 126 V 75 E. 5b/cc S. 80). Der Beschwerdeführer zeigt nicht auf, warum sich diesbezüglich eine Praxisänderung aufdrängen sollte. Damit hat es sein Bewenden.
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Die übrigen Faktoren der Invaliditätsbemessung sind unbestritten. Zu einer näheren Prüfung besteht kein Anlass.
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6. Nach dem Gesagten hält der angefochtene Entscheid vor Bundesrecht stand. Die Beschwerde ist unbegründet.
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7. Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 7. Januar 2019
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Pfiffner
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Die Gerichtsschreiberin: Stanger
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