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Informationen zum Dokument  BGer 9C_676/2016  Materielle Begründung
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BGer 9C_676/2016 vom 17.11.2016
 
{T 0/2}
 
9C_676/2016
 
 
Urteil vom 17. November 2016
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Willy Bolliger,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 24. August 2016.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach dem 1960 geborenen A.________, Inhaber des Einzelunternehmens B.________, mit Verfügung vom 31. Oktober 2011 eine ganze Rente der Invalidenversicherung ab 1. Dezember 2009 zu (Invaliditätsgrad 77 %). Im September 2014 leitete sie von Amtes wegen ein Revisionsverfahren ein. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob sie die Rente mit Verfügung vom 2. Februar 2016 auf das Ende des der Zustellung folgenden Monats auf mit der Begründung, der Gesundheitsschaden bewirke keine Erwerbseinbusse mehr.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 24. August 2016 ab.
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C. A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 24. August 2016 und der Verfügung vom 2. Februar 2016 sei ihm weiterhin eine ganze Invalidenrente auszuzahlen.
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A.________ hat Gelegenheit erhalten, sich zur Zulässigkeit einer Rentenaufhebung mit substituierter Begründung zu äussern, und lässt eine weitere Eingaben einreichen.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 134 I 65 E. 1.3 S. 67 f.; 134 V 250 E. 1.2 S. 252; je mit Hinweisen).
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Erwägung 2
 
2.1. Die Vorinstanz hat das Valideneinkommen (für das Jahr 2016) auf Fr. 82'012.- festgesetzt. Weiter hat sie festgestellt, der Versicherte habe trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen in den Jahren 2010 bis 2014 durchschnittlich ein höheres tatsächliches Einkommen erzielen können, als in der Verfügung vom 31. Oktober 2011 angenommen worden war. Damals habe die IV-Stelle ein Invalideneinkommen von Fr. 18'211.-, in der angefochtenen (rentenaufhebenden) Verfügung hingegen ein solches von Fr. 92'773.-ermittelt. Daraus hat das kantonale Gericht auf eine Einkommensverbesserung im Sinne eines Revisionsgrundes geschlossen und mangels Erwerbseinbusse die Rentenaufhebung bestätigt.
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2.2. Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, es sei ihm nicht das aktuelle Einkommen anzurechnen, da es nicht durch seine Tätigkeit, sondern durch jene seiner Mitarbeiter erzielt worden sei; zudem liege keine Verbesserung der Gesundheit oder des Einkommens und somit kein Revisionsgrund vor. Die wiedererwägungsweise Rentenaufhebung hält er ebenfalls für unzulässig.
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Erwägung 3
 
3.1. Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG).
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3.2. Das 2016 massgebliche Valideneinkommen beruht - wie bereits jenes, das bei der Rentenzusprache 2011 berücksichtigt wurde - auf dem tatsächlichen Einkommen der Jahre 2004 bis 2007; es bleibt für das Bundesgericht verbindlich (E. 1).
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Für die Bestimmung des Invalideneinkommens (2016) ist von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht (vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen; Urteil 8C_898/2015 vom 13. Juni 2016 E. 3.2). Erwirtschaftet ein selbstständig erwerbender Versicherter als Inhaber einer Einzelfirma einen Gewinn, welcher der Arbeit seiner Angestellten zu verdanken ist, wird ihm dieser als Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit angerechnet (Urteil 9C_453/2014 vom 17. Februar 2015 E. 4.2). Weshalb das anders sein soll, leuchtet nicht ein. Insbesondere liegt es in der Natur der Sache, dass der Arbeitgeber, der das unternehmerische Risiko trägt, auch von einem allfälligen, aus der Arbeit seiner Angestellten resultierenden Gewinn profitiert. Dass der Gewinn allenfalls nur durch eine Umstellung des Betriebs (Verlagerung von Dachdeckerarbeiten zum Gerüstbau; Anstellung von Handwerkern) erzielt werden konnte, ändert daran nichts, zumal dem Leistungsansprecher die Schadenminderung auch ohne explizite Auflage der Invalidenversicherung obliegt (vgl. E. 3.6.1). Somit bleibt es auch beim vorinstanzlich berücksichtigten Invalideneinkommen von Fr. 92'773.-.
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Das kantonale Gericht hat somit zu Recht bei der Invaliditätsbemessung (2016) eine Erwerbseinbusse verneint. Zu prüfen bleibt, ob in Bezug auf die Rentenzusprache 2011 ein Rückkommenstitel vorliegt.
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3.3. Ändert sich der Invaliditätsgrad eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG [SR 830.1]). Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente (zum massgeblichen Vergleichszeitpunkt vgl. BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114), die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes revidierbar. Weiter sind, auch bei an sich gleich gebliebenem Gesundheitszustand, veränderte Auswirkungen auf den Erwerbs- oder Aufgabenbereich von Bedeutung; dazu gehört die Verbesserung der Arbeitsfähigkeit aufgrund einer Angewöhnung oder Anpassung an die Behinderung. Hingegen ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f. mit Hinweisen).
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3.4. Als Revisionsgrund fällt einzig eine Verbesserung der erwerblichen Auswirkungen der Gesundheitsbeeinträchtigung, mithin eine Erhöhung des Invalideneinkommens in Betracht.
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Dass die IV-Stelle in der ursprünglichen Verfügung vom 31. Oktober 2011 ein im Vergleich zu 2016 wesentlich geringeres Invalideneinkommen von Fr. 18'211.- berücksichtigte, lässt für sich allein noch nicht auf eine Veränderung in den tatsächlichen Einkommensverhältnissen schliessen. Diesbezüglich fällt auf (vgl. Abklärungsberichte für Selbstständige vom 14. September 2010 und 4. Juni 2015), dass sich der Betriebsgewinn nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 1. März 2008 nicht reduziert hat; selbst 2009, als der Versicherte durchgehend (durchschnittlich zu 68 %) arbeitsunfähig war, war der Betriebsgewinn rund 10 % höher als im Durchschnitt der Jahre 2004 bis 2007. Einzig im Jahr 2010 wurde ein geringerer Betriebsgewinn erwirtschaftet, was aber im Rahmen normaler Schwankungen erklärbar ist, war doch der Gewinn 2011 wieder deutlich höher. Insofern ist in der Tat fraglich, ob sich das Invalideneinkommen seit der Rentenzusprache wesentlich erhöht hat. Wie es sich damit verhält, kann indessen offenbleiben, wie sich aus dem Folgenden (E. 3.5-3.7) ergibt.
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3.5. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann die IV-Stelle jederzeit auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Mit der gleichen (substituierten) Begründung kann die kantonale Beschwerdeinstanz resp. das Bundesgericht die zunächst auf Art. 17 ATSG gestützte Rentenaufhebung schützen (SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53, 9C_303/2010 E. 4; Urteil 9C_201/2016 vom 18. Juli 2016 E. 4.2; 9C_770/2015 vom 24. März 2016 E. 2.1). Die Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung. Darunter fällt insbesondere eine Leistungszusprache aufgrund falscher Rechtsregeln bzw. ohne oder in unrichtiger Anwendung der massgeblichen Bestimmungen (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f.; SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014 E. 3.2.1; Urteile 8C_680/2014 vom 16. März 2015 E. 3.1; 9C_427/2014 vom 1. Dezember 2014 E. 2.2).
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Ob die Verwaltung bei der Rentenzusprache die massgeblichen bundesrechtlichen Vorschriften beachtet hat, ist frei überprüfbare Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteile 9C_882/2014 vom 23. Juni 2015 E. 3.2; 9C_397/2012 vom 30. Oktober 2012 E. 3.2).
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Erwägung 3.6
 
3.6.1. Bevor die versicherte Person Leistungen verlangt, hat sie aufgrund der Schadenminderungspflicht alles ihr Zumutbare selber vorzukehren, um die Folgen der Invalidität bestmöglich zu mindern. Ein Rentenanspruch ist zu verneinen, wenn sie selbst ohne Eingliederungsmassnahmen, nötigenfalls mit einem Berufswechsel, zumutbarerweise (vgl. Art. 16 ATSG) in der Lage ist, ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen zu erzielen. Eine Betriebsaufgabe ist nur unter strengen Voraussetzungen unzumutbar, und es kann ein Betrieb selbst dann nicht auf Kosten der Invalidenversicherung aufrecht erhalten werden, wenn die versicherte Person darin Arbeit von einer gewissen erwerblichen Bedeutung leistet (Urteile 9C_644/2015 vom 3. Mai 2016 E. 4.3.1; 9C_624/2013 vom 11. Dezember 2013 E. 3.1.1; 8C_492/2015 vom 17. November 2015 E. 2.2; 9C_834/2011 vom 2. April 2012 E. 4 mit Hinweis).
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3.6.2. Aus den medizinischen Unterlagen (insbesondere handchirurgisches Gutachten des Dr. med. C.________ vom 16. Oktober 2009 und Bericht des Dr. med. D.________ vom 29. September 2009) ergibt sich, dass die attestierte Arbeitsunfähigkeit auf Beschwerden an der rechten Hand beruhte und ausschliesslich die handwerkliche Tätigkeit als Dachdecker oder Gerüstbauer betraf. Arbeiten wie "reine Schreibtischtätigkeit oder am PC" sowie die Geschäftsführung wurden explizit als uneingeschränkt zumutbar erachtet. In Bezug auf leidensangepasste Tätigkeiten sind keine konkreten Hinweise auf eine verminderte Arbeitsfähigkeit aktenkundig.
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In einer angepassten Tätigkeit (vgl. Urteil 8C_37/2016 vom 8. Juli 2016 E. 5.1.2 mit Hinweisen) hätte der Versicherte ein bedeutend höheres Einkommen erzielen können als jenes, das die IV-Stelle bei der Rentenzusprache als Invalideneinkommen berücksichtigte: Ausgehend von einem Tabellenlohn (vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen; Urteil 8C_898/2015 vom 13. Juni 2016 E. 3.2) der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE 2010, Tabelle TA1, Männer total, Anforderungsniveau 4) wäre 2011 unter Berücksichtigung der betriebsüblichen Wochenarbeitszeit und der Nominallohnentwicklung (Fr. 4'901.- x 12 : 40 x 41,7 x 1.01) ein Invalideneinkommen von Fr. 61'925.- resultiert, was im Vergleich zum Valideneinkommen von Fr. 80'168.- einem Invaliditätsgrad von 23 % entspricht. Selbst die Berücksichtigung eines Tabellenlohnabzuges von 20 % (vgl. BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301; 126 V 75 E. 5b S. 80) hätte lediglich eine Einschränkung von 38 %, was einen Rentenanspruch ausschliesst (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG), ergeben.
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Anhaltspunkte dafür, dass ein Berufswechsel resp. die Aufgabe des Betriebs unter den gegebenen Umständen nicht zumutbar gewesen sein soll, sind nicht ersichtlich.
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3.7. Nach dem Gesagten war die ursprüngliche Verfügung vom 31. Oktober 2011 zweifellos unrichtig, weil die IV-Stelle darin das Invalideneinkommen auf lediglich Fr. 18'211.- festlegte, ohne das in einer (neuen) zumutbaren Tätigkeit erzielbare Einkommen auch nur in Betracht gezogen zu haben. Sodann ist offensichtlich, dass die Berichtigung der genannten Verfügung von erheblicher Bedeutung ist. Damit sind die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung erfüllt. Im Ergebnis hat das kantonale Gericht die Rentenaufhebung zu Recht bestätigt; die Beschwerde ist unbegründet.
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4. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 17. November 2016
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann
 
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