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Informationen zum Dokument  BGer 1B_376/2016  Materielle Begründung
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BGer 1B_376/2016 vom 10.11.2016
 
{T 0/2}
 
1B_376/2016
 
 
Urteil vom 10. November 2016
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Karlen, Kneubühler,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern,
 
Maulbeerstrasse 10, Postfach 6250, 3001 Bern,
 
vertreten durch die Regionale Staatsanwaltschaft
 
Berner Jura-Seeland, Ländtestrasse 20,
 
Postfach 1180, 2501 Biel.
 
Gegenstand
 
Haftentlassung,
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 4. Oktober 2016 des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland verurteilte A.________ am 24. März 2016 unter anderem wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, gewerbsmässigen Betrugs und mehrfacher Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von 54 Monaten. Gleichzeitig ordnete es Sicherheitshaft an. A.________ erhob gegen das Urteil Berufung. Am 5. August 2016 verlängerte der Verfahrensleiter im Berufungsverfahren die Sicherheitshaft auf unbestimmte Zeit.
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Mit Eingabe vom 27. September 2016 beantragte A.________ die Entlassung aus der Sicherheitshaft. Mit Verfügung vom 4. Oktober 2016 wies der Verfahrensleiter das Gesuch ab.
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B. Mit Eingabe vom 7. Oktober 2016 ans Bundesgericht beantragt A.________ die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, damit diese sein Haftentlassungsgesuch erneut beurteile.
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Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Der Beschwerdeführer erhielt Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen.
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Erwägungen:
 
1. Der angefochtene Entscheid betrifft die Entlassung aus der Sicherheitshaft (Art. 220 Abs. 2 StPO). Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil und befindet sich nach wie vor in Haft. Er ist deshalb nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Auf die Beschwerde ist im Grundsatz einzutreten.
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Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde jedoch insofern, als der Beschwerdeführer die Haftverfügung vom 5. August 2016 kritisiert. Diese bildet nicht Prozessgegenstand.
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2. Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Abs. 1 lit. c).
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2.1. Nach der Rechtsprechung kann sich Wiederholungsgefahr ausnahmsweise auch aus Vortaten ergeben, die dem Beschuldigten im hängigen Strafverfahren erst vorgeworfen werden, wenn die Freilassung des Ersttäters mit erheblichen konkreten Risiken für die öffentliche Sicherheit verbunden wäre. Erweisen sich die Risiken als untragbar hoch, kann vom Vortatenerfordernis sogar ganz abgesehen werden (BGE 137 IV 13 E. 2 ff. S. 15 ff.; Urteil 1B_155/2015 vom 27. Mai 2015 E. 2.2; je mit Hinweisen). Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist allerdings restriktiv zu handhaben (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85 f.; 135 I 71 E. 2.2 f. S. 72 f.; je mit Hinweisen). Seine Anwendung über den gesetzlichen Wortlaut hinaus auf Ersttäter muss auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und setzt voraus, dass nicht nur ein hinreichender Tatverdacht besteht, sondern erdrückende Belastungsbeweise gegen den Beschuldigten vorliegen, die einen Schuldspruch als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen. Zudem muss die Rückfallprognose sehr ungünstig ausfallen, und zwar in Bezug auf Delikte, die die Sicherheit anderer erheblich gefährden. Darunter fallen in erster Linie Gewalt-, aber auch schwere Betäubungsmitteldelikte, die unmittelbar gegen die psychische und physische Integrität ihrer Opfer gerichtet sind und damit deren Sicherheit beeinträchtigen können (zum Ganzen: Urteil 1B_247/2016 vom 27. Juli 2016 E. 2.1 mit Hinweisen).
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2.2. Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich verurteilt. Damit erscheint ein (definitiver) Schuldspruch als sehr wahrscheinlich (vgl. Urteil 1B_276/2014 vom 2. September 2014 E. 2; vgl. auch Urteil 1B_322/2014 vom 9. Oktober 2014 E. 3.2). Das Vorbringen des Beschwerdeführers, er sei weder rechtskräftig verurteilt worden, noch sei von einem Geständnis oder einer erdrückenden Beweislast auszugehen, verfängt somit nicht. Die Verurteilung erfolgte unter anderem wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung, begangen in den Jahren 2006 bis 2015. Das Vortatenerfordernis ist damit erfüllt (vgl. Urteil 1B_71/2013 vom 13. März 2013 E. 2.3, wonach die Zahl der Straftaten, nicht der Strafurteile massgebend ist).
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2.3. Zur Rückfallgefahr hält die Vorinstanz fest, der Beschwerdeführer habe sich weder durch die Untersuchungshaft noch durch die bereits erfolgte zweimalige Schliessung seiner Praxis davon abhalten lassen, Patienten zu behandeln. Seinen Beteuerungen, nicht mehr auf dem Gebiet der Zahnmedizin arbeiten zu wollen, sei kein Glaube zu schenken. Entgegen seiner Behauptung bestehe die B.________ GmbH weiterhin. Noch am 30. September 2016 habe er in einem Gesuch um Ausrichtung von Kinderzulagen diese Gesellschaft als Arbeitgeberin eingetragen und angegeben, dauerhaft, ganzjährig und unbefristet bei einem Monatslohn von Fr. 4'500.-- für sie zu arbeiten.
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2.4. Die zahnmedizinischen Behandlungen, die der Beschwerdeführer im Laufe mehrerer Jahre an verschiedenen Patienten ohne die erforderliche Qualifikation vornahm, hatten für diese gemäss der Urteilsbegründung des Regionalgerichts teils schwere gesundheitliche Folgen. Eine der Patientinnen soll danach etwa unter einem Abszess, einer Nervenentzündung und Knochenabbau gelitten haben. Bislang seien bei ihr 54 Nachbehandlungen erforderlich gewesen, wobei fünf Zähne durch Implantate hätten ersetzt werden müssen. Eine zweite Patientin habe an langandauernden schweren Schmerzen gelitten, ihre Kaufähigkeit sei nachhaltig beeinträchtigt und die Sensibilität ihrer Oberlippe vermindert worden. Bei anderen Patienten festgestellte Beeinträchtigungen umfassten Entzündungen, teils chronische Zahn- und Kopfschmerzen, unsachgemässes Abschleifen der Zähne, Behinderungen beim Essen, der Verlust sämtlicher Mahl- und Kauzähne, eine irreversible Nervenschädigung in der Oberlippe etc.
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2.5. Die Erwägungen der Vorinstanz werden durch die Urteilsbegründung des Regionalgerichts bestätigt. Danach ist dem Beschwerdeführer bereits im Jahr 2006 durch das Kantonsarztamt zweimal per Verfügung verboten worden, im Mund von Patienten Arbeiten vorzunehmen. Dessen ungeachtet habe er sein Tun fortgesetzt und sich auch von Zwangsmassnahmen wie Hausdurchsuchungen, Versiegelungen seiner Praxisräumlichkeiten und selbst von einem Monat Untersuchungshaft im Jahr 2009 nicht davon abbringen lassen. Er habe immer wieder Wege gefunden, um zumindest für eine gewisse Zeit unbemerkt von den Behörden weiterhin selber im zahnmedizinischen Bereich tätig werden zu können, dies selbst noch nach der Vorladung zur Hauptverhandlung. Schliesslich habe er auch versucht, mit gefälschten Dokumenten eine Eintragung in die österreichische Zahnärzteliste zu erwirken.
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2.6. Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz von einer sehr ungünstigen Rückfallprognose in Bezug auf Delikte, die die Sicherheit anderer erheblich gefährden, ausgehen. Die in der Beschwerdeschrift vorgebrachten Beteuerungen des Beschwerdeführers, er habe konkrete Vorkehren zur Auflösung seines Praxis-Labors getroffen und wolle nie mehr auf dem Gebiet der Zahnmedizin arbeiten, vermögen daran nichts zu ändern.
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3. Die Beschwerde ist aus diesen Gründen abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
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Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dieser hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, sowie Urs Wüthrich schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 10. November 2016
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Dold
 
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