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Informationen zum Dokument  BGer 9C_56/2016  Materielle Begründung
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BGer 9C_56/2016 vom 24.10.2016
 
{T 0/2}
 
9C_56/2016
 
 
Urteil vom 24. Oktober 2016
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dominique Chopard,
 
Beschwerdegegner,
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. November 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Mit Verfügung vom 23. Juni 2010 lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich den Anspruch des A.________ auf eine Invalidenrente ab. In teilweiser Gutheissung der vom Versicherten hiegegen eingereichten Beschwerde stellte das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 20. Mai 2011 fest, dass dieser vom 1. Dezember 2009 bis 30. April 2010 Anspruch auf eine befristete ganze Invalidenrente habe. Am 15. Juni 2011 meldete sich A.________ erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Am 24. Juli 2014 lehnte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente wiederum verfügungsweise ab.
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B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich teilweise gut. Es stellte fest, dass der Versicherte vom 1. Juni 2011 bis 31. Mai 2012 sowie vom 1. Januar bis 31. August 2013 jeweils Anspruch auf eine befristete ganze Rente der Invalidenversicherung habe. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom 30. November 2015).
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei dahin zu ändern, dass die befristete Invalidenrente statt ab 1. Juni 2011 erst ab 1. Dezember 2011 zuzusprechen sei. Ferner ersucht sie um die Gewährung der aufschiebenden Wirkung.
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Erwägungen:
 
1. Anspruch auf eine Invalidenrente haben nach Art. 28 Abs. 1 IVG Versicherte, die
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a. ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wiederherstellen, erhalten oder verbessern können;
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b. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen sind; und
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c. nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 % invalid (Art. 8 ATSG) sind.
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Wurde die Rente nach Verminderung des Invaliditätsgrades aufgehoben, erreicht dieser jedoch in den folgenden drei Jahren wegen einer auf dasselbe Leiden zurückzuführenden Arbeitsunfähigkeit erneut ein rentenbegründendes Ausmass, so werden gemäss Art. 29bis IVV bei der Berechnung der Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG früher zurückgelegte Zeiten angerechnet.
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Laut Art. 29 Abs. 1 IVG (in der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung) entsteht der Rentenanspruch frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 ATSG, jedoch frühestens im Monat, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt.
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Erwägung 2
 
2.1. Mit Bezug auf die vorliegend allein interessierende Frage nach dem Rentenbeginn nach der erneuten Anmeldung des Beschwerdegegners zum Leistungsbezug am 15. Juni 2011 hielt die Vorinstanz fest, die neue Anmeldung sei innert dreier Jahre nach Einstellung der Invalidenrente per Ende April 2010 erfolgt. Ursächlich für die neuerliche Arbeitsunfähigkeit seien die Kniebeschwerden gewesen, somit das gleiche Leiden, das bereits zuvor zur Zusprechung einer befristeten Rente geführt hatte. Deshalb habe die Wartezeit von einem Jahr nach Art. 29bis IVV nicht neu erfüllt werden müssen. Was die Anwendung von Art. 29 Abs. 1 IVG in der vorliegenden Konstellation betrifft, sei nicht ersichtlich, weswegen Versicherte, die gemäss Art. 29bis IVV von der Erfüllung der Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG befreit sind, erneut die Karenzzeit von sechs Monaten nach Art. 29 Abs. 1 IVG bestehen sollten. Art. 29 Abs. 1 IVG bezwecke die Schaffung eines Anreizes, sich möglichst frühzeitig, spätestens sechs Monate nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, bei der Invalidenversicherung anzumelden, damit gegebenenfalls frühzeitig Eingliederungsmassnahmen eingeleitet werden können. Es solle keine Schlechterstellung stattfinden. Bei rechtzeitiger Anmeldung komme die versicherte Person weiterhin nach Ablauf des Wartejahres in den Genuss der Rente. Wenn die versicherte Person, die im Sinne von Art. 29bis IVV erneut eine Rente beansprucht und damit vom Bestehen der Wartezeit gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG befreit ist, gleichwohl die Karenzzeit von Art. 29 Abs. 1 IVG abwarten soll, führe dies zu einer vom Gesetzgeber gerade nicht gewollten Schlechterstellung.
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2.2. Die IV-Stelle wendet sich in der Beschwerde gegen die vorinstanzliche Betrachtungsweise. Sie bringt vor, der Wortlaut von Art. 29bis IVV beziehe sich ausdrücklich und ausschliesslich auf die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG. Davon unabhängig bestimme Art. 29 Abs. 1 IVG, dass der Rentenanspruch frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 ATSG entsteht. Im Gegensatz zur Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG werde in Bezug auf die sechsmonatige Karenzzeit gemäss Art. 29 Abs. 1 IVG im Falle eines Wiederauflebens der Invalidität gemäss Art. 29bis IVV keine Ausnahme gemacht. Die Rentenzusprechung ab dem Monat der Neuanmeldung im Juni 2011 durch die Vorinstanz verletze daher Art. 29 Abs. 1 IVG. In Anwendung dieser Bestimmung habe der Rentenanspruch frühestens am 1. Dezember 2011 entstehen können.
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Erwägung 3
 
3.1. Zum Verhältnis zwischen Art. 28 Abs. 1 lit. b und Art. 29 Abs. 1 IVG sowie Art. 29bis IVV im Zusammenhang mit dem Invalidenrentenbeginn nach einer Neuanmeldung hat sich das Bundesgericht bislang nicht geäussert. Im Urteil 8C_888/2011 vom 7. Mai 2012, das ebenfalls eine Neuanmeldung zum Rentenbezug zum Gegenstand hatte, hat das Bundesgericht offengelassen, ob beim Wiederaufleben der Invalidität innerhalb von drei Jahren nach Aufhebung der Rente die für das Revisionsverfahren geltende Sonderregelung des Art. 88bis Abs. 1 lit. a IVV, wonach eine Erhöhung frühestens vom Monat der Geltendmachung an möglich ist, analog anwendbar ist oder ob die allgemeine gesetzliche Regelung des Art. 29 Abs. 1 IVG mit der sechsmonatigen Wartezeit zum Zuge kommt. Im Urteil 9C_942/2015 vom 18. Februar 2016 E. 3.3.3 hat das Bundesgericht sodann festgestellt, Art. 29bis IVV sei nicht anwendbar, wenn nach Ablauf der Wartezeit kein rentenbegründender Invaliditätsgrad vorgelegen hat. Diesfalls sei die nachfolgende gesundheitliche Verschlechterung als neuer Versicherungsfall zu bezeichnen mit der Folge, dass die Wartezeit erneut zu bestehen war.
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3.2. Ausgangspunkt ist der Umstand, dass das IVG in den Art. 28 Abs. 1 lit. b und Art. 29 Abs. 1 zwei unterschiedliche Arten von Wartezeiten statuiert. Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG betrifft die materielle Seite des Rentenanspruchs, indem für den Beginn der Invalidenrente u.a. eine im Wesentlichen ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit von durchschnittlich mindestens 40 % während eines Jahres vorausgesetzt wird. Es handelt sich somit um eine materielle Anspruchsvoraussetzung für die Rentenberechtigung. Demgegenüber stellt die Frist von sechs Monaten nach Art. 29 Abs. 1 IVG zwar auch eine Anspruchsvoraussetzung dar (vgl. BGE 140 V 470 E. 3.3.1 in fine S. 474), jedoch eine verfahrensmässiger Natur, indem sie an die Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 ATSG anknüpft. Diese Bestimmung sieht vor, dass die Person, die eine Versicherungsleistung beansprucht, sich beim zuständigen Versicherungsträger in der für die jeweilige Sozialversicherung gültigen Form anzumelden hat. Die Wartezeiten von Art. 28 Abs. 1 lit. b und Art. 29 Abs. 1 IVG haben somit völlig unterschiedliche Funktionen - als materielle Anspruchsvoraussetzung (ein Jahr dauernde Arbeitsunfähigkeit) und als formelle Karenzfrist, die mit Blick auf den frühest möglichen Rentenbeginn einzuhalten ist. Es besteht daher kein Grund, Art. 29bis IVV, der das Wiederaufleben der Invalidität nach Aufhebung einer Rente zufolge Verminderung des Invaliditätsgrades regelt und laut welchem bei der Berechnung der Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG früher zurückgelegte Zeiten angerechnet werden, auch auf die Festlegung der in der Bestimmung nicht erwähnten sechsmonatigen Karenzzeit nach Art. 29 Abs. 1 IVG anzuwenden.
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3.3. Zum gleichen Ergebnis führt die Normenhierarchie. Als lex superior (höherstufige Norm; Urteil 9C_921/2008 vom 23. April 2009 E. 3.3) und lex posterior (neuere Bestimmung; BGE 138 V 2 E. 4.3.1 S. 7, 136 I 149 E. 7.4 S. 157, 135 V 353 E. 5.3.1 S. 357) hat Art. 29 Abs. 1 IVG als Gesetzesbestimmung (in der Fassung vom 6. Oktober 2006 [5. IV-Revision], in Kraft seit 1. Januar 2008) Vorrang vor der älteren, seit 1. Januar 1977 in Kraft stehenden, tieferrangigen Verordnungsbestimmung des Art. 29bis IVV. Soweit das kantonale Gericht dem Beschwerdegegner die Invalidenrente entgegen Art. 29 Abs. 1 IVG bereits ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung (Juni 2011) zugesprochen hat, hat es Bundesrecht verletzt. Die (befristete) Invalidenrente steht dem Versicherten entsprechend den Ausführungen der IV-Stelle erst ab 1. Dezember 2011 zu.
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4. Mit dem Entscheid in der Hauptsache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.
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5. Dem Gesuch des unterliegenden Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die Bedürftigkeit aktenkundig und die Verbeiständung durch einen Anwalt notwendig ist (Art. 64 Abs. 1-3 BGG). Er wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen; danach hat der Beschwerdegegner der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. November 2015 wird insoweit geändert, dass der Versicherte in der Zeit vom 1. Dezember 2011 bis 31. Mai 2012 sowie in der Zeit vom 1. Januar bis 31. August 2013 jeweils befristet Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung hat.
 
2. Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4. Rechtsanwalt Dominique Chopard wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'400.- ausgerichtet.
 
5. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
6. Dieses Urteil wird den Parteien, der BVG-Stiftung der B.________, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 24. Oktober 2016
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer
 
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