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Informationen zum Dokument  BGer 9C_8/2016  Materielle Begründung
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BGer 9C_8/2016 vom 01.09.2016
 
{T 0/2}
 
9C_8/2016
 
 
Urteil vom 1. September 2016
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________ GmbH,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des
 
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
 
vom 18. November 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. B.________ ist Gesellschafter und Geschäftsführer mit Einzelunterschrift der A.________ GmbH, die betreute Wohngemeinschaften betreibt. Vom Stammkapital in der Höhe von Fr. 40'000.- befinden sich Fr. 39'000.- im Besitz von B.________. Für das Jahr 2009 erfasste die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau bei der A.________ GmbH eine beitragspflichtige Lohnsumme von Fr. 1'280'740.55. Bei einer Arbeitgeberkontrolle vom 28. August 2014 stellte die Ausgleichskasse fest, für 2009 sei eine Lohnsumme in Form von Leasingaufwand und Unterhaltskosten für einen von B.________ genutzten Personenwagen VW Touareg im Betrag von Fr. 17'040.- nicht abgerechnet worden. Am 15. September 2014 erliess die Ausgleichskasse eine Nachzahlungsverfügung für diese Summe in der Höhe von Fr. 2'045.35 für AHV/IV/EO-Beiträge, Beiträge an die Familienausgleichskasse und Verwaltungskosten. Zudem verfügte sie Verzugszinsen von Fr. 481.50. Auf Einsprache hin hielt die Ausgleichskasse an beiden Verfügungen fest (Entscheid vom 3. Juli 2015).
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B. In Gutheissung der von der A.________ GmbH eingereichten Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau den Einspracheentscheid vom 3. Juli 2015 mit Entscheid vom 18. November 2015 auf.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Ausgleichskasse, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Die A.________ GmbH schliesst sinngemäss auf Abweisung der Beschwerde.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Die Vorinstanz hat die Bestimmung über den der AHV-Beitragspflicht unterliegenden massgebenden Lohn (Art. 5 Abs. 2 AHVG) sowie die Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen beitragspflichtigem Erwerbseinkommen und beitragsfreiem Vermögensertrag (BGE 134 V 297 E. 2.1 S. 299; SVR 2015 AHV Nr. 7 S. 25, 9C_837/2014) sowie zur Parallelität zwischen sozialversicherungs- und steuerrechtlicher Qualifikation (Urteile 9C_837/2014 vom 8. April 2015 E. 1.5 und 9C_302/2011 vom 22. Juni 2011 E. 3.1) zutreffend wiedergegeben. Darauf sowie auf die Erwägungen zu den verdeckten Gewinnausschüttungen wird verwiesen.
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Erwägung 3
 
3.1. Das Verwaltungsgericht stellte fest, der Leasingaufwand und die Unterhaltskosten für den von B.________ als Zweitwagen privat genutzten VW Touareg in der Höhe von Fr. 11'940.- und Fr. 5'100.- seien gemäss Bundessteuerveranlagung 2009 vom 14. Dezember 2010 zum steuerbaren Gewinn der A.________ GmbH gerechnet worden. Diese Positionen seien damit als verdeckte Gewinnausschüttung qualifiziert worden. Ebenso seien B.________ in der Veranlagung für die Staats- und Gemeindesteuern 2009 des Gemeindesteueramtes C.________ vom 2. März 2011 der Leasingaufwand und die Unterhaltskosten für den VW Touareg angerechnet worden. In steuerrechtlicher Hinsicht seien der Leasingaufwand und die Unterhaltskosten somit als geldwerte Leistungen aus dem Beteiligungsverhältnis zwischen B.________ und der A.________ GmbH qualifiziert und besteuert worden. Sodann prüfte die Vorinstanz in Anlehnung an BGE 134 V 297 E. 2.3 S. 301, ob zwischen Arbeitsleistung und Entgelt bzw. eingesetztem Vermögen und Dividende ein offensichtliches Missverhältnis bestehe. Sie gelangte zum Schluss, der B.________ ausgerichtete Lohn sei mit Blick auf die Arbeitsleistung nicht als unangemessen hoch zu bezeichnen. Die Ausgleichskasse habe die Leasing- und Unterhaltskosten zu Unrecht als massgebenden Lohn qualifiziert. Die Voraussetzungen für ein Abweichen von der von den Steuerbehörden vorgenommenen Qualifikation sei nicht gegeben.
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3.2. Die Ausgleichskasse wendet zunächst ein, gemäss Art. 7 lit. f AHVV seien regelmässige Naturalbezüge zum massgebenden Lohn zu zählen, sofern sie nicht Spesenersatz darstellen. Die Überlassung eines Geschäftswagens für Privatzwecke gehöre nach der Verwaltungspraxis zum anders gearteten Naturaleinkommen nach Art. 13 AHVV. Der Wert der privaten Nutzung zähle zum massgebenden Lohn. Ob Zuwendungen aus dem Reingewinn einer juristischen Person an Arbeitnehmer, die gleichzeitig an der Gesellschaft beteiligt sind, zum massgebenden Lohn gehören, hänge davon ab, ob das Arbeitsverhältnis den ausschlaggebenden Grund für deren Ausrichtung bildet. Stellen hingegen die Beteiligungsrechte den Grund für die Auszahlung dar, gehörten geldwerte Leistungen einer juristischen Person an ihre Arbeitnehmer, die gleichzeitig an der Gesellschaft beteiligt sind, nicht zum massgebenden Lohn. Trotz gegenteiliger steuerrechtlicher Betrachtungsweise sei AHV-rechtlich davon auszugehen, dass es sich beim Überlassen des Geschäftswagens für private Zwecke um eine regelmässige geldwerte Naturalleistung handelt, die im Arbeits- und nicht im Gesellschaftsverhältnis ihren hinreichenden Grund hat. Ein gegenteiliges Gesellschaftsdokument liege nicht im Recht. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Arbeitnehmer, die mit dem Geschäftsfahrzeug Dienste für den Arbeitgeber verrichten, regelmässig in den Genuss der freien privaten Nutzung des Geschäftswagens kämen. Durch das Überlassen des Fahrzeugs werde eine arbeitsrechtliche Leistung honoriert. Das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt, indem es die Prüfung unterliess, ob vorliegend Beteiligungsrechte Grund für die Auszahlung waren und die Benützung des Geschäftswagens vorschnell als Dividende und damit beitragsfreien Vermögensertrag qualifizierte.
7
4. 
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4.1. In tatsächlicher Hinsicht sind keine rechtserheblichen Fragen ungeklärt. Ob die Zuwendungen seitens der A.________ GmbH in Form von Leasingaufwand und Unterhaltskosten im Jahr 2009 in der Höhe von Fr. 17'040.- an ihren Gesellschafter und Geschäftsführer B.________ als beitragsfreier Kapitalertrag oder als beitragspflichtiger Lohn zu qualifizieren sind, ist entgegen der Ansicht der Ausgleichskasse eine Rechtsfrage, die letztinstanzlich frei zu prüfen ist (E. 1 hievor).
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4.2. Wie die Beschwerdeführerin richtig bemerkt, zählen zu dem für die Berechnung der Beiträge massgebenden Lohn insbesondere regelmässige Naturalbezüge (Art. 7 lit. f AHVV). Art. 13 AHVV bestimmt, dass der Wert anders gearteten Naturaleinkommens von Fall zu Fall den Umständen entsprechend von der Ausgleichskasse zu schätzen ist. Zu diesen Naturalbezügen gehört auch das Überlassen eines Personenwagens durch den Arbeitgeber (ZAK 1989 S. 383, H 269/87). Rz. 2062 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) über den massgebenden Lohn, WML, Stand 1. Januar 2016, hält sodann fest, dass das Zurverfügungstellen eines Geschäftswagens für private Zwecke zum anders gearteten Naturaleinkommen nach Art. 13 AHVV gehört. Der Umstand, dass die Steuerbehörden die Übernahme des Leasingaufwandes und der Unterhaltskosten für den Personenwagen VW Touareg als Vermögensertrag eingestuft haben, von dem keine Beiträge geschuldet sind, ist entgegen den Ausführungen der Vorinstanz nicht entscheidend. Denn es ist Sache der Ausgleichskassen, zu beurteilen, ob ein Einkommensbestandteil als massgebender Lohn oder als Kapitalertrag zu qualifizieren ist. Soweit es vertretbar ist, halten sie sich an die bundessteuerrechtliche Betrachtungsweise, was wiederum impliziert, dass Abweichungen von der steuerrechtlichen Sichtweise möglich sind (vgl. BGE 134 V 297 E. 2.3 S. 301; SVR 2007 AHV Nr. 1 S. 1 E. 3.2). Richtig ist, dass Vergütungen, die als reiner Kapitalertrag zu betrachten sind, nicht zum massgebenden Lohn gehören. Wie es sich diesbezüglich verhält, ist nach Wesen und Funktion einer Zuwendung zu beurteilen. Deren rechtliche oder wirtschaftliche Bezeichnung ist nicht entscheidend und höchstens als Indiz zu werten. Unter Umständen können auch Zuwendungen aus dem Reingewinn einer Aktiengesellschaft massgebender Lohn sein, was nach Art. 7 lit. h AHVV insbesondere für Tantiemen gilt. Es handelt sich dabei um Vergütungen, die im Arbeitsverhältnis ihren hinreichenden Grund haben. Zuwendungen, die nicht durch das Arbeitsverhältnis gerechtfertigt sind, gehören nicht zum massgebenden Lohn (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 49/02 vom 19. November 2002 mit Hinweisen).
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4.3. Wird die Vergütung des Leasingaufwandes und der Unterhaltskosten für den vom Geschäftsführer und Eigentümer der Beschwerdegegnerin mit einem Anteil von 97,5 % der Stammanteile privat benutzten Personenwagen VW Touareg betrachtet, wird klar, dass die entsprechenden Zahlungen in einem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen. Es ist von einer typischen geldwerten Naturalleistung auszugehen, die im Arbeitsverhältnis und nicht im Gesellschaftsverhältnis begründet ist, zumal sich in den Akten keine gegenteiligen Anhaltspunkte finden, wie die Ausgleichskasse zu Recht geltend macht. Eine Würdigung der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz führt zum Schluss, dass im vorliegenden Fall - wie in zahllosen Fällen von Geschäftsführern und anderen Mitarbeitern ohne massgebliches Eigentum am Aktien- oder Stammkapital der Arbeitgeberin, die in den Genuss der freien privaten Nutzung des Geschäftswagens kommen - die Benützung des Personenwagens der Arbeitgeberin Teil des Entgelts für die von B.________ im Rahmen des Arbeitsverhältnisses erbrachte Leistung bildet. Weshalb gerade hier - anders als nach der allgemeinen Lebenserfahrung - der Leasingaufwand und die Unterhaltskosten für den von B.________ privat genutzten VW Touareg statt eines Lohnanteils eine verdeckte Gewinnausschüttung darstellen sollten, vermag das kantonale Gericht nicht einleuchtend zu begründen. Die Betrachtungsweise der Bundessteuerbehörde, welche die Aufwendungen der Beschwerdegegnerin für den Personenwagen zu deren steuerbaren Gewinn gezählt hat, erscheint nicht in einem Masse überzeugend, dass sich die Ausgleichskasse mit Blick auf Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung daran zu halten hätte (vgl. SVR 2007 AHV Nr. 1 S. 1 E. 3.2, H 93/06).
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Weitere stichhaltige Argumente für die Auffassung, bei den in Frage stehenden Zahlungen für den vom Geschäftsführer privat genutzten VW Touareg handle es sich um Kapitalertrag, finden sich im angefochtenen Gerichtsentscheid nicht. Der Hinweis auf BGE 134 V 297 E. 2.3 geht an der Sache vorbei, da die in jenem Urteil behandelte Rechtsfrage nach dem Vorliegen eines offensichtlichen Missverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und Entgelt bzw. eingesetztem Vermögen und Dividende sich hier nicht stellt.
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5. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Die Ausgleichskasse hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 18. November 2015 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau vom 3. Juli 2015 bestätigt.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 600.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 1. September 2016
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer
 
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