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Informationen zum Dokument  BGer 9C_640/2015  Materielle Begründung
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BGer 9C_640/2015 vom 06.07.2016
 
{T 0/2}
 
9C_640/2015
 
 
Urteil vom 6. Juli 2016
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
 
Gerichtsschreiber Grünenfelder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Advokat Sebastian Laubscher,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 27. Juli 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 1987 geborene A.________, gelernter Lastwagenmonteur, leidet infolgeeines Motorradunfalles aneiner Tetraparese mit Tetraspastik, schweren neuropsychologischen Defiziten und einer stark eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit, weshalb ihm die IV-Stelle des Kantons St. Gallen ab Juli 2011 eine ganze Invalidenrente zusprach (Verfügung vom 18. Juli 2013). Über drei Jahre nach dem Unfall trat A.________ nach langen Rehabilitationsaufenthalten Ende August 2013 in das Wohnheim B.________ des Vereins C.________ ein. Die Finanzierung diverser baulicher Massnahmen in der Wohnung der Eltern des A.________ lehnte die IV-Stelle nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 16. Mai 2013 ab, weil der Versicherte grundsätzlich im Heim wohne und sich nur besuchsweise bei seinen Eltern aufhalte.
1
B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. Juli 2015 teilweise gut und wies die Sache zu weiteren Abklärungen und anschliessender Neuverfügung an die IV-Stelle zurück.
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Verfügung vom 16. Mai 2013 sei zu bestätigen.
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Das kantonale Gericht und A.________ schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Sie ist zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG) sowie gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren (Art. 92 Abs. 1 BGG). Gegen andere selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist die Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 BGG zulässig, sofern - alternativ - der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).
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1.2. Beim vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG. Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil ist zu bejahen, wenn der Versicherungsträger durch die Rückweisung gezwungen wird, eine seines Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). Dies ist hier der Fall. Die Vorinstanz hat die Pflicht zur Kostenübernahme für die beantragten baulichen Massnahmen im Grundsatz bejaht. Insoweit hat sie materiellrechtliche Vorgaben getroffen, welche die IV-Stelle als untere Instanz binden (BGE 140 V 282 E. 4.2 S. 285 f. mit Hinweisen). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
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2. Im Streit liegt, ob die beantragten baulichen Anpassungen in der Wohnung der Eltern des Beschwerdegegners von der Invalidenversicherung zu übernehmen sind. Dabei handelt es sich um eine Rechtsfrage, welche das Bundesgericht frei prüft (Art. 95 BGG; vgl. Urteil 9C_314/2014 vom 7. November 2014 E. 4).
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2.1. Gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG hat der Versicherte, der infolge seiner Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel. Der Bundesrat hat die Erstellung der Liste über die im Rahmen von Art. 21 IVG abzugebenden Hilfsmittel an das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) delegiert (Art. 14 IVV), welches die entsprechende Verordnung erlassen hat (Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung, HVI [SR 831.232.51]).
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2.2. Im Rahmen der im Anhang zur HVI aufgeführten Liste besteht gemäss Art. 2 Abs. 1 HVI Anspruch auf Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind. Anspruch auf die in dieser Liste mit (*) bezeichneten Hilfsmittel besteht nach Art. 2 Abs. 2 HVI nur, soweit diese für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung, die funktionelle Angewöhnung oder für die in der zutreffenden Ziffer des Anhangs ausdrücklich genannte Tätigkeit notwendig sind.
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2.3. In BGE 134 I 105 hat sich das Bundesgericht mit dem Anspruch auf Hilfsmittel in Form von baulichen Massnahmen in einer zweiten Wohnung, in welcher die versicherte Person nur einen Teil ihres Lebens verbringt, befasst. Es hat erwogen, dass sich aus Ziff. 14 HVI Anhang zwar nicht ausdrücklich ergibt, ob die Leistungen nur für eine Wohnung oder allenfalls auch für zwei erbracht werden können; die Frage könne jedoch im Lichte von Art. 21 Abs. 2 IVG und Art. 2 HVI beantwortet werden. Gemäss den bundesgerichtlichen Erwägungen entspricht es den genannten Bestimmungen, dass die Hilfsmittelregelung keine optimale Versorgung, sondern nur eine Grundversorgung deckt. Denn auch Leistungen, die im Anhang aufgeführt sind, werden nicht ohne weiteres, sondern nur soweit erforderlich und in einfacher und zweckmässiger Ausführung erbracht (Art. 21 Abs. 2 IVG; Art. 2 Abs. 4 HVI). Sodann hat das Bundesgericht dargelegt, dass die Invalidenversicherung auch im Bereich der Hilfsmittel keine umfassende Versicherung ist, welche sämtliche durch die Invalidität verursachten Kosten deckt, sondern das Gesetz die Eingliederung lediglich soweit sicherstellen will, als diese im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist, und zudem der voraussichtliche Erfolg der Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten steht (Art. 8 Abs. 1 IVG; BGE 134 I 105 E. 3 S. 107 mit Hinweisen). Gestützt darauf hat das Bundesgericht insbesondere einen Anspruch auf bauliche Anpassungen in einer Ferienwohnung oder einer sonstigen Wohnung, in welcher sich die versicherte Person nur sporadisch aufhält, verneint (BGE 134 I 105 E. 7 S. 110).
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3. Das kantonale Gericht ist zum Schluss gelangt, dass gestützt auf Art. 21 Abs. 1 IVG ein Anspruch auf bauliche Anpassungen für jede Wohnung besteht, in welche sich die versicherte Person regelmässig zurückziehen will. Nach Auffassung der Vorinstanz lässt sich aus Art. 2 Abs. 4 HVI einzig die Einschränkung ableiten, dass solche Massnahmen von der Invalidenversicherung in der Regel bloss an einem Ort finanziert werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um die eigene Wohnung oder um diejenige der Eltern des Betroffenen handelt. Das kantonale Gericht hat Art. 2 Abs. 4 HVI als lückenhaft erachtet, weil dadurch nur das Verhältnismässigkeitsprinzip hinsichtlich der Ausführung des Hilfsmittels konkretisiert werde, aber nicht geregelt sei, dass auch der Entscheid, ob überhaupt ein Hilfsmittel abgegeben werde, verhältnismässig sein müsse. Insgesamt hat die Vorinstanz einen Anspruch auf Finanzierung baulicher Massnahmen in der Wohnung der Eltern des Versicherten im Grundsatz bejaht, weil die Leistungen - nachdem im Wohnheim B.________ keine Anpassungen notwendig sind - nur ein Mal erbracht werden. Die Rückweisung an die IV-Stelle hat sie im Wesentlichen damit begründet, dass massgeblich ist, ob der Versicherte tatsächlich den Wunsch verspüre, regelmässig einige Tage bei seinen Eltern zu verbringen; darüber sei dieser persönlich zu befragen.
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Erwägung 4
 
4.1. In sachverhaltlicher Hinsicht ist erstellt, dass der Beschwerdegegner seit September 2013 zur Hauptsache im Wohnheim B.________ lebt und dort den grössten Teil seiner Zeit verbringt. Ebenso steht fest, dass die Besuche in der elterlichen Wohnung nur einen sehr beschränkten Zeitraum betreffen, nämlich gemäss Angaben der Eltern des Versicherten jedes zweite Wochenende sowie die Feiertage (Schreiben vom 5. März 2013).
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Erwägung 4.2
 
4.2.1. Dieerforderliche, zweckmässige und wirtschaftlich angemessene Versorgung des Beschwerdegegners ist unbestritten bereits im Wohnheim B.________ sichergestellt. Mit anderen Worten liegt der Schwerpunkt der Grundversorgung nicht in der Wohnung der Eltern des Versicherten, was die dortige Abgabe von Hilfsmitteln in Form von baulichen Änderungen ausschliesst (vgl. BGE 135 I 161 E. 7.2 S. 168). Da ausserdem kein Anspruch auf eine optimale Versorgung besteht (vgl. E. 2.3 hievor), ist nicht relevant, dass der Versicherte ausserhalb des Wohnheimes am meisten Zeit bei seinen Eltern verbringt, solange er dort nicht lebt. Die Ansicht des kantonalen Gerichts, das den Gesetzeszweck darin ersieht, dass (idealerweise) an jedem Aufenthaltsort des Betroffenen ein Anspruch besteht, findet keine Stütze. Dass die Abgabe eines Hilfsmittels in der Regel (nur) ein Mal bzw. in concreto erstmals erfolgt - im Wohnheim B.________ sind keine Anpassungen erforderlich, weil die Institution zum vorneherein für die Bedürfnisse der Bewohner eingerichtet ist - ändert nichts. Wie sich sowohl BGE 134 I 105 als auch BGE 135 I 161 entnehmen lässt, sind die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen (Art. 8 Abs. 1 lit. a und 21 Abs. 2 IVG; Art. 2 Abs. 4 HVI) nicht nur für die Frage massgeblich, in wie vielen Exemplaren (wie oft) ein Hilfsmittel zu gewähren ist. Vielmehr bestimmen diese auch, ob ein solches überhaupt zugesprochen wird. Eine (Verordnungs-) Lücke, welche Voraussetzung für das Vorgehen der Vorinstanz wäre (vgl. BGE 141 V 481 E. 3.1 S. 485), liegt nicht vor. E benso wenig hängt die Leistungszusprache von der (ausdrücklichen) Zustimmung des Beschwerdegegners ab. Insoweit kann mit Blick auf dessen Beschwerdeantwort vom 1. Oktober 2015 und die damit neu eingereichten - als echte Noven unzulässigen (Art. 99 Abs. 1 BGG) - Unterlagen dahingestellt bleiben, ob er in der Lage ist, eine entsprechende Frage sicher zu beantworten oder nicht.
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4.2.2. Das kantonale Gericht hat sich explizit mit dem Anspruch auf einen regelmässigen "Urlaub" des Versicherten vom Heimbetrieb befasst. Ob und inwieweit hier eine vergleichbare Situation vorliegt wie bei einer Ferienwohnung oder einer anderen, nur sporadisch genutzten Wohnung, wofür die Invalidenversicherung gemäss BGE 134 I 105 keine baulichen Anpassungen zu finanzieren hat (E. 2.3 hievor in fine), kann offenbleiben. Ein "Heimzwang" fällt ausser Betracht, zumal keine Anhaltspunkte bestehen und die Vorinstanz nicht dargelegt hat, dass Besuche bei den Eltern ohne die geltend gemachten Vorkehren für den Versicherten gänzlich unmöglich wären. Spezielle persönliche Bedürfnisse, die eine Gewährung der geltend gemachten baulichen Massnahmen ausnahmsweise rechtfertigen könnten (vgl. BGE 133 V 257 E. 6 S. 259 ff.), sind nicht ersichtlich. Schliesslich steht - anders als in BGE 134 I 105 - auch keine grundrechtlich geschützte Position des Betroffenen zur Diskussion, worauf die IV-Stelle zu Recht verwiesen hat.
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4.3. Nach dem Gesagten sind die Kosten für die beantragten baulichen Massnahmen durch die Invalidenversicherung nicht zu vergüten. Weitere Abklärungen, insbesondere eine persönliche Befragung des Versicherten, entfallen ohne weiteres (antizipierende Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236; 134 I 140 E. 5.3 S. 148; 124 V 90 E. 4b S. 94). Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG). Die Beschwerde ist begründet.
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5. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. April 2015 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 16. Mai 2013 bestätigt.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 6. Juli 2016
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
 
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