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Informationen zum Dokument  BGer 1C_482/2015  Materielle Begründung
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BGer 1C_482/2015 vom 15.03.2016
 
{T 0/2}
 
1C_482/2015
 
 
Urteil vom 15. März 2016
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Merkli, Karlen,
 
Gerichtsschreiber Uebersax.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Iliev,
 
gegen
 
Verkehrsamt des Kantons Schwyz,
 
Schlagstrasse 82, Postfach 3214, 6431 Schwyz.
 
Gegenstand
 
Strassenverkehrsrecht
 
(Zuständigkeit für ein Administrativverfahren),
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 26. August 2015 des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz, Kammer III.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Am 20. September 2013 überschritt A.________, der damals Wohnsitz in Mies/VD hatte, auf der Autobahn A1-West (Bern/ Neufeld) mit seinem Personenwagen mit Kennzeichen VD "..." die vor Ort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um mindestens 31 km/h. In diesem Zusammenhang lief gegen A.________ ein Strafverfahren im Kanton Bern. Mit zwei Schreiben vom 17. und 28. Oktober 2013 teilte das Verkehrsamt des Kantons Waadt (Service des automobiles et de la navigation; SAN) A.________ mit, dass ein Administrativverfahren eingeleitet worden sei und ein Entzug des Führerausweises auf unbestimmte Zeit, mindestens aber für 24 Monate, in Betracht gezogen werde. Mit Eingabe vom 1. November 2013 opponierte A.________ gegen die vorgesehene Massnahme und verwies auf einen im parallelen Strafverfahren erhobenen Einspruch. Am 4. November 2013 teilte das Verkehrsamt des Kantons Waadt mit, dass das Verwaltungsverfahren bis zum Ausgang des Strafprozesses sistiert werde. Gleichzeitig ersuchte es die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, dem Verkehrsamt eine Kopie des Strafentscheids zuzustellen.
1
A.b. Am 1. Dezember 2013 verlegte A.________ seinen Wohnsitz nach Pfäffikon/SZ.
2
A.c. Mit Urteil vom 1. Dezember 2014 bestrafte das Regionalgericht Bern-Mittelland A.________ wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln durch Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit mit einer Busse von Fr. 600.--. Auf eine dagegen erhobene Berufung trat das Obergericht des Kantons Bern am 4. Februar 2015 nicht ein.
3
A.d. Mit Schreiben vom 20. März 2015 gewährte das Verkehrsamt des Kantons Waadt A.________ das rechtliche Gehör zum in Betracht gezogenen Führerausweisentzug auf unbestimmte Zeit. Nachdem A.________ die Zuständigkeit des waadtländischen Verkehrsamts bestritten hatte, übermittelte dieses das Dossier dem Verkehrsamt des Kantons Schwyz. Am 1. Mai 2015 lehnte dieses die Übernahme des Verfahrens ab. In der Folge verlangte A.________ eine anfechtbare Verfügung zur Zuständigkeit des Schwyzer Verkehrsamts.
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A.e. Parallel dazu verfügte am 11. Juni 2015 das Waadtländer Verkehrsamt, für das Verwaltungsverfahren über den Führerausweisentzug zuständig zu sein. Nachdem A.________ dagegen Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Waadt erhoben hatte, verfügte dieses die Sistierung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Kanton Waadt, bis das Verfahren vor den Schwyzer Behörden abgeschlossen sei.
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A.f. Am 21. Juli 2015 entschied das Verkehrsamt des Kantons Schwyz, es sei zur Durchführung des Administrativverfahrens über den Führerausweisentzug von A.________ im Zusammenhang mit der am 20. September 2013 im Kanton Bern begangenen Verkehrsregelverletzung nicht zuständig, und trat auf das Begehren um Verfahrensübernahme nicht ein.
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B. Dagegen erhob A.________ sowohl beim Regierungsrat als auch beim Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz Beschwerde. Mit Entscheid vom 26. August 2015 trat das Schwyzer Verwaltungsgericht auf die Beschwerde ein, wies sie jedoch im Sinne der Erwägungen ab und stellte fest, dass das schwyzerische Verkehrsamt nicht zuständig sei, für die von A.________ am 20. September 2013 im Kanton Bern begangene Verkehrsregelverletzung eine administrative Massnahme gemäss dem Strassenverkehrsgesetz auszufällen.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht vom 21. September 2015 beantragt A.________, den Entscheid des Schwyzer Verwaltungsgerichts aufzuheben und das schwyzerische Verkehrsamt für administrative Massnahmen im Zusammenhang mit der am 20. September 2013 begangenen Verkehrsregelverletzung für zuständig zu erklären; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz zurückzuweisen.
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Das schwyzerische Verkehrsamt liess sich innert Frist nicht vernehmen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz hält an seinen Ausführungen im angefochtenen Entscheid fest, ohne dazu einen ausdrücklichen Antrag zu stellen. Das Bundesamt für Strassen ASTRA schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
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D. Mit Verfügung vom 13. Oktober 2015 gab der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts einem Verfahrensantrag von A.________ statt und erteilte der Beschwerde die aufschiebende Wirkung.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über die Zuständigkeit für die Ausfällung einer Administrativmassnahme im Strassenverkehr. Gemäss Art. 24 Abs. 1 SVG richtet sich das Beschwerdeverfahren nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege. Gegen den angefochtenen Entscheid fällt grundsätzlich die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG in Betracht. Ein Ausnahmegrund liegt nicht vor.
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1.2. Ob es sich allenfalls um einen anfechtbaren Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG handelt, kann offen bleiben. Jedenfalls liegt ein selbständig anfechtbarer Zwischenentscheid über die Zuständigkeit gemäss Art. 92 BGG vor.
12
1.3. Der Beschwerdeführer nahm am vorinstanzlichen Verfahren teil und ist als direkter Adressat des angefochtenen Entscheides sowie als Person, gegen die sich eine allfällige Administrativmassnahme richtet, zur Beschwerde legitimiert (vgl. Art. 89 Abs. 1 BGG).
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1.4. Mit der Beschwerde an das Bundesgericht kann, von hier nicht interessierenden weiteren Möglichkeiten abgesehen, nur die Verletzung von Bundesrecht (vgl. Art. 95 lit. a BGG) sowie die offensichtlich unrichtige, d.h. willkürliche, Feststellung des Sachverhaltes (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) gerügt werden.
14
1.5. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft die bei ihm angefochtenen Entscheide aber grundsätzlich nur auf Rechtsverletzungen hin, die von den Beschwerdeführern geltend gemacht und begründet werden (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). Erhöhte Anforderungen an die Begründung gelten, soweit die Verletzung von Grundrechten (unter Einschluss der willkürlichen Feststellung des Sachverhalts) gerügt wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254 mit Hinweisen).
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2. Soweit der Beschwerdeführer dem Bundesgericht eine eigene Schilderung der tatsächlichen Verhältnisse unterbreitet, legt er nicht dar, inwiefern sich diese von den Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz unterscheiden bzw. das Verwaltungsgericht den Sachverhalt offensichtlich unrichtig erhoben haben sollte. Die tatsächlichen Feststellungen des schwyzerischen Verwaltungsgerichts sind daher für das Bundesgericht verbindlich.
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Erwägung 3
 
3.1. Nach Art. 22 SVG werden die Ausweise von den Verwaltungsbehörden erteilt und entzogen. Zuständig ist für Fahrzeuge der Standortkanton, für Führer der Wohnsitzkanton (Abs. 1). Für Fahrzeuge ohne festen Standort und Führer ohne Wohnsitz in der Schweiz ist der Ort massgebend, an dem sie sich vorwiegend befinden. Im Zweifelsfall ist der Kanton zuständig, der das Verfahren zuerst einleitet (Abs. 3). Das Bundesgericht entschied dazu, dass im Falle eines Wohnsitzwechsels des Fahrzeugführers während des Adminstrativverfahrens auf Entzug des Führerausweises die bei dessen Einleitung begründete örtliche Zuständigkeit bestehen bleibt (BGE 108 Ib 139; sog. "perpetuatio fori"). Als massgeblicher Zeitpunkt gilt derjenige, in dem die für den Entzug an sich zuständige Behörde dem Führer Gelegenheit gibt, die Akten einzusehen und sich mündlich oder schriftlich zu der in Aussicht genommenen Massnahme zu äussern (BGE 108 Ib 139 E. 2c S. 141; BERNHARD RÜTSCHE/DANIELLE SCHNEIDER, in: Niggli/Probst/Waldmann [Hrsg.], Strassenverkehrsgesetz, Basler Kommentar, 2014, N. 35 zu Art. 22).
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3.2. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, erst nach Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens habe er sich zur Frage des Ausweisentzugs sinnvoll äussern können. In diesem Zeitpunkt habe er seinen Wohnsitz bereits im Kanton Schwyz gehabt, nachdem er ihn am 1. Dezember 2013 dorthin verlegt habe. Die Adminstrativbehörden hätten grundsätzlich den Abschluss des Strafverfahrens abzuwarten und seien an die Tatsachenfeststellungen aus dem Strafverfahren gebunden. Es sei daher notwendig, dass zwei unterschiedliche Zeitpunkte für die Fixierung der Zuständigkeit bestünden je nachdem, ob sich der Fahrzeugführer im Strafverfahren gegen die ihm gemachten Vorwürfe wehre oder nicht. Dauere das Strafverfahren wie hier längere Zeit, erscheine die Beurteilung der Administrativmassnahme durch eine Behörde, zu der aufgrund eines Wohnsitzwechsels seit längerer Zeit kein Bezug mehr bestehe, wenig sinnvoll und bundesrechtswidrig.
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3.3. Im vorliegenden Fall gelangt nicht die Regel von Art. 22 Abs. 3 SVG zur Anwendung, wonach im Zweifelsfall die Behörde zuständig ist, die das Verfahren eingeleitet hat, da es sich beim Beschwerdeführer nicht um einen Fahrzeugführer ohne Wohnsitz in der Schweiz handelt. Massgeblich ist vielmehr die Rechtsprechung zu Art. 22 Abs. 1 SVG bei einem Wohnsitzwechsel des Fahrzeugführers während des Verfahrens. Wie der Beschwerdeführer geltend macht, haben die Administrativbehörden nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Regelfall den Abschluss des Strafverfahrens abzuwarten (BGE 119 Ib 158 E. 2c/bb S. 161 f.) und sind grundsätzlich, wenn auch nicht zwingend immer, an die Tatsachenfeststellungen aus dem Strafverfahren gebunden (BGE 121 II 214). Das ändert aber nichts an der örtlichen Zuständigkeit für das Verwaltungsverfahren. Würde der Auffassung des Beschwerdeführers gefolgt, könnte sich die Zuständigkeit im Verlauf des Verwaltungsverfahrens ändern, im Extremfall, namentlich bei wiederholtem Wechsel des Wohnsitzes, sogar mehrmals. Nach jeder Verlegung des Wohnsitzes könnte sich mit jeder zusätzlichen Beweiserhebung eine neue Situation und eine andere Zuständigkeit ergeben. Es ist offensichtlich, dass das nicht effizient ist, denn jedes Mal müsste das Verfahren wieder neu aufgegleist und durchgeführt werden. Die Fixierung der Zuständigkeit verfolgt denn auch vorrangig drei Ziele: Erstens soll ein unnötiger Zusatzaufwand durch die Wiederholung von bereits an einem anderen Ort vorgenommenen Verfahrensschritten vermieden werden. Zweitens geht es darum, den Einfluss des Fahrzeugführers auf die Bestimmung der Zuständigkeit zu beschränken; diese soll sich durch objektive Kriterien ergeben und nicht subjektiv beeinflusst bzw. ausgewählt werden können. Und drittens soll eine einzige Behörde das Verfahren von dessen Anfang an bis zum Ende leiten und entsprechend den Gesamtüberblick wahren und die Verantwortung für das ganze Verfahren tragen. Insofern spielt genauso wenig wie im Strafverfahren eine Rolle, ob bei längerer Verfahrensdauer im Entscheidzeitpunkt noch ein geografischer oder persönlicher Bezug zur entscheidenden Administrativbehörde besteht oder nicht.
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3.4. Diese Überlegungen sind präzisierend beim Verständnis der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts zu beachten, wonach der Zeitpunkt der Gewährung des rechtlichen Gehörs massgeblich sein soll. Entscheidend ist dabei, dass die Behörde durch ihre Verfahrensführung klar zu erkennen gibt, sich für das Verfahren örtlich als zuständig zu erachten, was spätestens mit der Gehörsgewährung zutrifft, sich aber auch aus anderen Amtshandlungen ergeben kann. Sofern die von der Behörde in Anspruch genommene Zuständigkeit im fraglichen Zeitpunkt den objektiven Umständen und den entsprechenden rechtlichen Vorgaben entspricht, soll diese Zuständigkeit nicht allein wegen eines Wohnsitzwechsels der von einer allfälligen Massnahme betroffenen Person aufgehoben werden. Vielmehr gilt sie grundsätzlich als bis zum Verfahrensabschluss verfestigt.
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3.5. Im vorliegenden Fall fand das Strafverfahren am Ort der Verkehrsregelverletzung, d.h. im Kanton Bern statt, wo der Beschwerdeführer im wesentlichen Zeitraum überhaupt nie wohnte. Der Beschwerdeführer hatte im Zeitpunkt des Verstosses gegen das Strassenverkehrsgesetz vielmehr Wohnsitz im Kanton Waadt. Das traf auch noch zu, als das Waadtländer Verkehrsamt am 17. und 28. Oktober 2013 das Verwaltungsverfahren im Hinblick auf einen allfälligen Entzug des Führerausweises einleitete und dem Beschwerdeführer eine erste Möglichkeit gab, sich dazu zu äussern. Das Verkehrsamt des Kantons Waadt gab dabei klar zu erkennen, sich als zuständig zu erachten, und dies entsprach auch, angesichts des damaligen Wohnsitzes des Beschwerdeführers im Kanton Waadt, den damals objektiven Umständen und der Rechtslage. Damit war die örtliche Zuständigkeit für das Administrativverfahren festgelegt. Dass dieses in der Folge sistiert wurde, um das Ergebnis des Strafverfahrens abzuwarten, und der Beschwerdeführer später nach seinem Wohnsitzwechsel, aber unabhängig davon, völlig korrekt nochmals die Gelegenheit zur Stellungnahme erhielt, ändert daran nichts. Die Zuständigkeit für das Verwaltungsverfahren verblieb beim Verkehrsamt des Kantons Waadt.
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3.6. Der angefochtene Entscheid, der den Nichteintretensentscheid des Schwyzer Verkehrsamts schützt, verstösst somit nicht gegen Bundesrecht.
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4. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen.
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Bei diesem Verfahrensausgang wird der unterliegende Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1, Art. 65 BGG).
24
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Verkehrsamt des Kantons Schwyz, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz, Kammer III, dem Bundesamt für Strassen ASTRA, Sekretariat Administrativmassnahmen, dem Tribunal cantonal du canton de Vaud, Cour de droit administratif et public, und dem Service des automobiles et de la navigation du canton de Vaud (SAN) schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 15. März 2016
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Uebersax
 
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