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Informationen zum Dokument  BGer 8C_735/2015  Materielle Begründung
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BGer 8C_735/2015 vom 22.01.2016
 
{T 0/2}
 
8C_735/2015
 
 
Urteil vom 22. Januar 2016
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiber Jancar.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Branchen Versicherung,
 
Sihlquai 255, 8005 Zürich,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Adelrich Friedli,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Unfallbeweis),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
 
vom 26. August 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1962 geborene A.________ war vom 8. Januar 2008 bis 30. Juni 2013 bei der Firma B.________ AG (nachfolgend: Firma), angestellt und damit bei der Branchen Versicherung obligatorisch unfallversichert. Am 21. November 2012 diagnostizierte Dr. med. C.________, Orthopädie, bei der Versicherten aufgrund eines MRI vom 15. Oktober 2012 eine Partialruptur der Supraspinatussehne und ein subacromiales Impingement Schulter rechts. Mit Schreiben vom 29. September 2014 gab die Rechtsvertreterin der Versicherten der Firma einen Unfall vom 10. September 2012 an; die rechte Schulter der Versicherten sei durch eine sich schliessende Lagerraum-Metalltüre verletzt worden, worauf sie zu Boden geworfen worden sei. Mit Verfügung vom 27. Oktober 2014 verneinte die Branchen Versicherung die Leistungspflicht, da dieser Unfall nicht nachgewiesen sei. Die Einsprache der Versicherten wies sie mit Entscheid vom 13. März 2015 ab.
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B. Die hiegegen geführte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 26. August 2015 ab.
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C. Mit Beschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides seien ihr die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen, bis jetzt in Form von Heilungskosten und bis jetzt aufgelaufenen Taggeldern; eventuell sei die Firma gerichtlich anzuweisen, schriftlich zuzusichern, den beiden Mitarbeiterinnen nicht zu kündigen, falls sie eine Zeugenaussage betreffend das vorliegende Unfallgeschehen machten; sobald diese schriftlichen Zusicherungen für die beiden Mitarbeiterinnen vorlägen, werde die Versicherte die beiden Namen mit Adressen nennen; diese Personen und der Ehemann der Versicherten seien als Zeugen einzuvernehmen; eventuell sei die Versicherte durch einen Schulterspezialisten zu begutachten. Es sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
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Die Branchen Versicherung schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389).
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2. Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zum Unfallbeweis (BGE 114 V 298 E. 5b S. 305; vgl. auch BGE 116 V 136 E. 4b S. 140) und zum Beweiswert der "Aussagen der ersten Stunde" (BGE 121 V 45 E. 2a S. 47; vgl. auch Urteil 8C_648/2013 vom 18. Februar 2014 E. 3) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass unter Umständen aufgrund des medizinischen Befunds erstellt sein kann, eine Schädigung sei auf eine ungewöhnliche äussere Einwirkung und somit auf ein Unfallereignis zurückzuführen. Der mangelnde Nachweis eines Unfalls lässt sich zwar nur selten durch medizinische Feststellungen ersetzen. Diese dienen mitunter aber als Indizien im Beweis für oder gegen das Vorliegen eines Unfalls (BGE 134 V 72 E. 4.3.2.2 S. 81).
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3. Die Vorinstanz hat in Würdigung der Aktenlage mit einlässlicher Begründung - auf die verwiesen wird - im Wesentlichen erwogen, der von der Versicherten behauptete Unfall vom 10. September 2012 - wonach ihre rechte Schulter durch eine sich schliessende Lagerraum-Metalltüre verletzt und sie zu Boden geworfen worden sei - sei der Arbeitgeberin nicht echtzeitlich gemeldet worden. Diese habe im Schreiben vom 19. Dezember 2014 angegeben, der Ehemann der Versicherten sei im Mai 2014 - also eineinhalb Jahre nach dem angeblichen Unfall - zum erstem Mal bei ihr vorbeigekommen und habe sie aufgefordert, die Krankheit als Unfall anzumelden. Auch den behandelnden Ärzten gegenüber habe die Versicherte kein Unfallereignis genannt. Dem stehe nicht entgegen, dass Dr. med. D.________, Facharzt FMH für Chirurgie, im Bericht vom 27. Januar 2015 ausgeführt habe, dem Hausarzt Dr. med. E.________, Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, Gesundheitszentrum F.________, sei vom Ehemann und vom Sohn der Versicherten mitgeteilt worden, es handle sich um einen Unfall. Denn Dr. med. D.________ habe diese Angaben lediglich ungeprüft von der Versicherten übernommen. Zusammenfassend sei der Unfall vom 10. September 2012 mit Beteiligung der rechten Schulter nicht mit Wahrscheinlichkeit erstellt. Auf eine Zeugeneinvernahme des Ehemanns der Versicherten könne verzichtet werden, da die Arbeitgeberin klar verneine, er habe eine Unfallmeldung vor Mai 2014 gemacht. Die von der Versicherten erwähnten zwei Unfallzeugen würden zudem nicht namentlich genannt, weshalb sie nicht befragt werden könnten.
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Erwägung 4
 
4.1. Die Versicherte macht im Wesentlichen geltend, sie und ihr Ehemann hätten den Unfall vom 10. September 2012 echtzeitlich und nicht erst im Mai 2014 dem Personalverantwortlichen der Firma gemeldet; dieser habe aber entgegen seiner Zusicherung keine Unfallmeldung gemacht. Die Versicherte und ihr Ehemann hätten den Unfall auch dem Hausarzt Dr. med. E.________ gemeldet. Beide Meldungen könne ihr Ehemann als Zeuge bestätigen. Die vorinstanzliche Weigerung, ihn als Zeugen einzuvernehmen, sei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 29 Abs. 2 BV. Gleiches gelte für die Weigerung der Vorinstanz, die von ihr genannten zwei Zeuginnen, die den Unfall bestätigen könnten, einzuvernehmen. Diese Zeuginnen fürchteten sich davor, sie würden ihre Stelle verlieren, wenn sie betreffend einer bereits gekündigten Mitarbeiterin aussagten. Es sei daher völlig unverständlich, dass die Vorinstanz ihren entsprechenden Antrag abgewiesen habe; deshalb werde er noch einmal gestellt (vgl. Sachverhalt lit. C hievor). Sobald die beantragten schriftlichen Zusicherungen für die beiden Mitarbeiterinnen der Firma vorlägen, werde die Versicherte ihre beiden Namen mit Adresse nennen. Die Kausalität zwischen ihren Schulterbeschwerden und dem Unfall vom 10. September 2012 sei durch das Arthro-MRI und den Bericht des Dr. med. D.________ vom 2. Februar 2015 klar belegt.
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4.2. Hinsichtlich der Nichteinvernahme der von der Versicherten namentlich nicht genannten zwei Unfallzeuginnen erwog die Vorinstanz, es stehe nicht in ihrer Kompetenz, von der Firma schriftliche Zusicherungen in Bezug auf aussenstehende Dritte zu verlangen; ein entsprechender Kündigungsschutz ergebe sich bereits aus Art. 336 OR. Dies ist nicht zu beanstanden. Denn gemäss Art. 336 Abs. 1 lit. e OR gilt der gesetzliche Kündigungsschutz u.a. für Zeugen (Ullin Streiff/Adrian von Kaenel/Roger Rudolph, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR, 7. Aufl. 2012, N. 9 zu Art. 336 OR). Die Versicherte macht nicht geltend, die Vorinstanz habe durch die Nichteinholung der beantragten Nichtkündigungs-Zusicherungen seitens der Firma für die beiden Zeuginnen kantonales Verfassungsrecht verletzt (zur diesbezüglich qualifizierten Rügepflicht vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53, 133 II 396 E. 3.2 S. 400; nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 8C_590/2015 vom 24. November 2015). Eine Gehörs- oder anderweitige Rechtsverletzung ist mithin nicht ersichtlich.
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Erwägung 4.3
 
4.3.1. Betreffend die Unfallmeldung ist festzuhalten, dass die Versicherte in der Einsprache vom 27. November 2014 ausführte, erst im Oktober 2012 sei Dr. med. E.________ bereit gewesen, sie zu einem MRI zu schicken; gestützt auf dieses sei festgestellt worden, dass ihre Supraspinatussehne partial gerissen sei bei ausgedehnter Tendinitis und Bursitis subacromialis/subdeltoidea. Nach dieser Feststellung habe ihr Ehemann die Angelegenheit umgehend dem Personalverantwortlichen der Firma gemeldet und ihn gebeten, einen Unfallschein auszustellen, damit eine Schadenmeldung an die Unfallversicherung gemacht werden könne. Dagegen gab die Versicherte in der vorinstanzlichen Replik vom 15. Juni 2015 an, ihr Ehemann habe unmittelbar nach dem Unfall vom 10. September 2012 beim Personalchef vorgesprochen und ihn gemeldet. Nach dem Gesagten sind bereits die Angaben der Versicherten zum Zeitpunkt der Unfallmeldung bei der Firma widersprüchlich.
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4.3.2. Aus den bei den Akten liegenden Unterlagen des Hausarztes Dr. med. E.________, den die Versicherte erst am 9. Oktober 2012 aufsuchte, ergibt sich nicht, dass sie oder ihr Ehemann ihm einen Unfall vom 10. September 2012 gemeldet hätten. Vielmehr ging er in der Krankentag-Kontrolle zuhanden der ÖKK von einer Krankheit und Aussetzung der Arbeit ab 9. Oktober 2012 aus. Der von der Versicherten weiter angeführte Dr. med. C.________, der Kenntnis vom MRI vom 15. Oktober 2012 hatte, legte im Bericht vom 21. November 2012 dar, seit September dieses Jahres bestünden anhaltende Schulterbeschwerden rechts; es sei kein adäquates Trauma erinnerlich. Auf diese Angabe der Versicherten gegenüber Dr. med. C.________ ist aufgrund der Aktenlage abzustellen, zumal "Aussagen der ersten Stunde" in der Regel unbefangener und zuverlässiger sind als spätere Schilderungen des Ereignisses, die bewusst oder unbewusst von Überlegungen versicherungsrechtlicher oder anderer Art beeinflusst sein können (BGE 121 V 45 E. 2b S. 47). Demnach gab die Versicherte auch gegenüber Dr. med. C.________ keinen Unfall an.
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4.4. Aus den Angaben des Dr. med. D.________ kann die Versicherte nichts zu ihren Gunsten ableiten. Er sah sie erstmals am 22. Januar 2015, mithin mehr als 2 Jahre nach dem behaupteten Unfall vom 10. September 2012. Seine Angabe im Bericht vom 27. Januar 2015, der Sohn bzw. der Vater (recte wohl: Ehemann) der Versicherten hätten dem Hausarzt Dr. med. E.________ mitgeteilt, es handle sich um einen Unfall, kann - wie die Vorinstanz richtig erkannt hat - nicht als belegt gelten (vgl. E. 3 und 4.3 hievor). Weiter führte Dr. med. D.________ in diesem Bericht aus, die Kausalitätsfrage richtig zu beantworten, sei äusserst schwierig; es müsse durch irgendwelche Dokumentation belegt sein, dass sie gestürzt sei. Ein solcher Beleg liegt indessen nicht vor. Wenn Dr. med. D.________ im Bericht vom 2. Februar 2015 aufgrund des Arthro-MRI ausführte, es handle sich mit überaus grosser Wahrscheinlichkeit um eine traumatische Durchtrennung der Supraspinatussehne, kommt diesen Angaben - wie dargelegt (E. 2 hievor) - für den Beweis eines Unfalls vom 10. September 2012 nur Indiziencharakter zu, und sie allein vermögen diesen Beweis aufgrund der dargelegten Aktenlage nicht zu leisten.
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4.5. Nach dem Gesagten ist die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz weder als unrichtig noch als unvollständig anzusehen (Art. 97 Abs. 2 BGG). Unter den gegebenen Umständen verzichtete sie in antizipierender Beweiswürdigung zu Recht darauf, den Ehemann der Versicherten als Zeugen einzuvernehmen oder anderweitige Abklärungen vorzunehmen (vgl. auch Urteil 8C_482/2015 vom 19. August 2015 E. 3.3). Dies verstösst weder gegen den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) noch gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör bzw. auf Beweisabnahme (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG) noch gegen das Gebot eines fairen Verfahrens nach Art. 9 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236, 134 I 140 E. 5.3 S. 148, BGE 124 V 90 E. 4b S. 94; Urteil 8C_680/2015 vom 14. Dezember 2015 E. 5.5).
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5. Die unterliegende Versicherte trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihr gewährt werden (Art. 64 BGG). Sie hat indessen der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler wird als unentgeltliche Anwältin der Beschwerdeführerin bestellt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4. Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 22. Januar 2016
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar
 
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