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Informationen zum Dokument  BGer 9C_437/2015  Materielle Begründung
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BGer 9C_437/2015 vom 30.11.2015
 
{T 0/2}
 
9C_437/2015
 
 
Urteil vom 30. November 2015
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
vertreten durch Fürsprecher Daniel Küng,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 3. Juni 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1972 geborene A.________ meldete sich im August 2009 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an unter Hinweis auf reaktive depressive Verstimmungen, innere Unruhe, Lustlosigkeit, Schlafstörungen, Müdigkeit, Angstgefühle, Spannungskopfschmerzen, Diskushernie, Schmerzen in den Gelenken, im Nacken, in der Hüfte, in den Beinen und in den Händen. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen klärte die medizinische Situation ab, wozu sie zahlreiche Berichte zu den Akten nahm und bei der Begutachtungsstelle B.________, ein psychiatrisch-orthopädisches Gutachten einholte (erstattet am 19. November 2011). Des Weitern prüfte sie die erwerblichen Verhältnisse und liess eine Haushaltabklärung durchführen. Mit Vorbescheid vom 1. Februar 2012 und Verfügung vom 12. Juli 2012 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente (ermittelter Invaliditätsgrad: 27 bzw. 37 %). Im Verlaufe des von der Versicherten hierauf eingeleiteten Beschwerdeverfahrens widerrief die IV-Stelle die Verfügung vom 12. Juli 2012, nachdem sie aufgrund weiterer Abklärungen zu einer Erwerbseinbusse von 40 % gelangt war (Verfügung vom 20. September 2012). In der Folge schrieb das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde ab (Entscheid vom 2. Oktober 2012).
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In einem weiteren Vorbescheid vom 19. November 2012 stellte die IV-Stelle der Versicherten erneut die Verneinung des Rentenanspruches in Aussicht (ermittelter Invaliditätsgrad: 0 %). In diesem Sinne verfügte sie am 28. Januar 2013.
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B. Beschwerdeweise liess A.________ beantragen, die Verfügung sei aufzuheben, und es sei ihr spätestens ab März 2010 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei die Angelegenheit zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 3. Juni 2015 hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde gut, hob die Verfügung vom 28. Januar 2013 auf und sprach A.________ für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Mai 2010 eine ganze und ab 1. Juni 2010 eine halbe Rente zu (wobei es die Sache zur Festsetzung der Rentenhöhe an die IV-Stelle zurückwies).
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben, soweit er der Versicherten ab 1. Juni 2010 eine halbe Rente zuspricht, und es sei festzustellen, dass ab 1. Juni 2010 Anspruch auf eine Viertelsrente besteht. Der Beschwerde sei insoweit die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, als der Versicherten ab 1. Juni 2010 mehr als eine Viertelsrente zugesprochen worden ist.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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Erwägung 2
 
2.1. Aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ist einzig streitig und zu prüfen, ob die Vorinstanz für die Zeit ab 1. Juni 2010 - für welche sie der Versicherten eine halbe Rente zusprach - im Rahmen der Ermittlung des Invaliditätsgrades anhand eines Einkommensvergleichs beim gestützt auf Tabellenlöhne festgesetzten Invalideneinkommen zu Recht einen Abzug von 15 % vorgenommen hat. Demgegenüber ist unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Mai 2010 Anspruch auf eine ganze Rente hat.
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2.2. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323). Aufgrund dieser Faktoren kann die versicherte Person die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt möglicherweise nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten (BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80). Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 134 V 322 E. 5.2 S. 327 f.; 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80; Urteil 9C_368/2009 vom 17. Juli 2009 E. 2.1).
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Die Rechtsprechung gewährt insbesondere dann einen Abzug auf dem Invalideneinkommen, wenn eine versicherte Person selbst im Rahmen körperlich leichter Hilfsarbeitertätigkeit in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist (BGE 126 V 75 E. 5a/bb S. 78). Sind hingegen leichte bis mittelschwere Arbeiten zumutbar, ist allein deswegen auch bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit noch kein Abzug gerechtfertigt, weil der Tabellenlohn im Anforderungsniveau 4 bereits eine Vielzahl von leichten und mittelschweren Tätigkeiten umfasst (Urteil 8C_97/2014 vom 16. Juli 2014 E. 4.2 mit Hinweis).
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Ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, stellt eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage dar (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 f. mit Hinweis auf BGE 132 V 393 E. 3.3 in fine S. 399).
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2.3. Zur Begründung des gewährten Abzuges von 15 % wird im vorinstanzlichen Entscheid angeführt, die Versicherte leide unter drei verschiedenen psychischen Störungen. Ein potentieller Arbeitgeber würde sie nur zu einem unterdurchschnittlichen Lohn anstellen, da bei einer an erheblichen psychischen Defiziten leidenden Arbeitnehmerin ein grosses Risiko von vermehrten gesundheitlichen Absenzen bestehe. Auch werde die Versicherte aufgrund der psychischen Problematik einen grösseren Betreuungsaufwand benötigen als eine gesunde Arbeitnehmerin. Diese rein betriebswirtschaftlichen bzw. ökonomischen Faktoren seien in der Arbeitsfähigkeitsschätzung gemäss psychiatrisch-orthopädischem Gutachten vom 19. November 2011 nicht berücksichtigt. In ihrer im letztinstanzlichen Verfahren eingereichten Stellungnahme ergänzte die Vorinstanz, der Tabellenlohnabzug diene dazu, ausgehend vom Zentralwert der Löhne gesunder Arbeitnehmer dem betriebswirtschaftlich offensichtlichen, aber nur sehr schwer bezifferbaren Minderwert der Arbeitsleistung eines in seiner Gesundheit und damit seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigten Arbeitnehmers Rechnung zu tragen. Es gehe nicht an, diesem Arbeitnehmer auf der Seite des Invalideneinkommens einen Sozialteil anzurechnen, resultierend aus dem Umstand, dass der indirekte Lohnkostenaufwand des Arbeitgebers bei Beschäftigung eines gesundheitlich angeschlagenen Arbeitnehmers (wegen der damit verbundenen Nachteile wie z.B. der Gefahr einer höheren Fehlerquote in der Arbeitsleistung, der geringeren Flexibilität etc. im Vergleich zu gesunden Arbeitnehmern) höher sei als bei den in die Statistik allein einbezogenen gesunden Arbeitnehmern. Da diese indirekten Nachteile bei Vorliegen einer psychischen Beeinträchtigung grösser seien als bei einer körperlichen (indem grössere Schwankungen in der Höhe und/oder der Qualität der Arbeitsleistung, häufigere Absenzen etc. zu erwarten seien), werde "in Fällen wie dem vorliegenden praxisgemäss ein Tabellenlohnabzug von 15 % vorgenommen".
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2.4. Soweit sich die Vorinstanz in ihrer im letztinstanzlichen Verfahren eingereichten Stellungnahme dahingehend geäussert hat, dass im Falle psychisch beeinträchtigter Arbeitnehmer wegen der indirekten Nachteile generell ein Abzug von 15 % gewährt werde, widerspricht dies der Rechtsprechung, gemäss welcher der Abzug nicht automatisch erfolgen soll, sondern stets unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen ist (vgl. dazu E. 2.2 hiervor).
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Nach den verbindlichen, sich im Wesentlichen auf das bidisziplinäre Gutachten vom 19. November 2011 stützenden Feststellungen im angefochtenen Entscheid ist die Versicherte seit Februar 2009 zu 40 % (für die Dauer der Hospitalisationen [Juni/Juli 2009 und Oktober bis Februar 2010] zu 100 %) arbeitsunfähig, dies aufgrund einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode, einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-abhängigen, histrionischen, selbstunsicheren und emotional instabilen Anteilen, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und einer Cervicobrachialgie rechts bei kleiner Diskushernie C5/C6 rechts (wobei gemäss Gutachten die somatoforme Schmerzstörung ohne Einfluss auf Arbeitsfähigkeit ist). Da die gutachterliche Arbeitsfähigkeitsschätzung sämtliche gesundheitlichen Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit miteinschliesst, darf der Polymorbidität - entgegen dem angefochtenen Entscheid - nicht (zusätzlich) mit einem Abzug vom Tabellenlohn Rechnung getragen werden, weil sie sonst doppelt berücksichtigt würde (vgl. auch Urteile 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.1; 9C_191/2015 vom 1. Juni 2015 E. 3.2; 8C_283/2011 vom 26. Mai 2011 E. 4).
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Nicht beigepflichtet werden kann der Vorinstanz auch, soweit sie den gewährten Abzug des Weitern darauf stützt, dass die psychisch beeinträchtigte Versicherte ein grosses Risiko von vermehrten gesundheitlichen Absenzen habe und deshalb mit einem unterdurchschnittlichen Lohn rechnen müsse. Denn rechtsprechungsgemäss stellt dies bei Versicherten, deren verminderte psychische Belastbarkeit - wie hier - bereits im Rahmen der Arbeitsfähigkeit berücksichtigt ist, kein anerkanntes, eigenständiges Abzugskriterium dar (Urteil 8C_283/2011 vom 26. Mai 2011 E. 4; SVR 2010 IV Nr. 28 S. 87, 9C_708/2009 E. 2.3.2).
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Auch in Bezug auf die Abzugsrelevanz des erhöhten Betreuungsaufwandes kann der Vorinstanz nicht gefolgt werden. Nach der Rechtsprechung (Urteil 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.1) bildet Gegenstand des Abzugs die Frage, ob mit Bezug auf eine konkret in Betracht fallende Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage verglichen mit einem gesunden Mitbewerber nur bei Inkaufnahme einer Lohneinbusse reale Chancen für eine Anstellung bestehen. Wenn von einem genügend breiten Spektrum an zumutbaren Verweisungstätigkeiten auszugehen ist, können unter dem Titel des leidensbedingten Abzuges grundsätzlich nur Umstände berücksichtigt werden, die auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt als ausserordentlich zu bezeichnen sind (Urteil 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.1). Aus diesem Grund wurde die Notwendigkeit einer psychisch bedingt verstärkten Rücksichtnahme seitens Vorgesetzter und Arbeitskollegen in der Gerichtspraxis nicht als eigenständiger Abzugsgrund anerkannt (Urteil 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.1 mit Hinweis auf SVR 2010 IV Nr. 28 S. 87, 9C_708/2009 E. 2.3.2; Urteile 8C_283/2011 vom 26. Mai 2011 E. 4 und 9C_474/2010 vom 11. April 2011 E. 3.4). Gleiches hat hinsichtlich des der verstärkten Rücksichtnahme sehr nahe kommenden, hier zur Diskussion stehenden erhöhten Betreuungsaufwandes zu gelten. Denn angesichts des Zumutbarkeitsprofils (möglichst selbständig auszuübende, körperlich leichte Tätigkeit in einem wohlwollenden Umfeld mit der Möglichkeit des Wechselns zwischen Sitzen, Gehen und Stehen, ohne Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, ohne Zwangspositionen oder repetitive Bewegungen der Wirbelsäule, ohne Absolvieren längerer Gehstrecken und ohne Überwinden von Höhendifferenzen) ist im Falle der Beschwerdegegnerin von einem breiten Spektrum an zumutbaren Verweisungstätigkeiten auszugehen; da ein erhöhter Betreuungsaufwand auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt keinen ausserordentlichen Faktor darstellt, rechtfertigt er keinen Abzug.
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2.5. Aus den dargelegten Gründen verletzt der von der Vorinstanz gewährte Abzug vom Tabellenlohn Bundesrecht.
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2.6. Ohne Abzug ergibt sich aus dem (im Übrigen unbestrittenen) vorinstanzlichen Einkommensvergleich ein Invaliditätsgrad von gerundet 42 % (Valideneinkommen: Fr. 55'004.-; Invalideneinkommen: Fr. 31'636.80). Der Versicherten steht damit ab 1. Juni 2010 eine Viertelsrente zu.
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3. Mit dem Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
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4. Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdegegnerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 3. Juni 2015 wird insoweit abgeändert, als die Beschwerdegegnerin ab 1. Juni 2010 Anspruch auf eine Viertelsrente hat.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. November 2015
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann
 
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