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Informationen zum Dokument  BGer 8C_626/2015  Materielle Begründung
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BGer 8C_626/2015 vom 24.11.2015
 
8C_626/2015 {T 0/2}
 
 
Urteil vom 24. November 2015
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiber Lanz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Noëlle Cerletti,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Juni 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ besuchte in seinem Ursprungsland Russland das Gymnasium. Danach migrierte er nach Frankreich und erhielt in der Folge das dortige Staatsbürgerrecht. Er studierte an der Universität B.________ Russisch, Slawistik, vergleichende Literatur und Philosophie (gemäss anderer Angabe in den Akten: Russisch, Slawistik, Geschichte und Kultur). Anschliessend begann er ein Doktorat, welches er 2011 (andere Angabe: 2010) abschloss. Seit 1999 lebt A.________ in der Schweiz, wo er zwischenzeitlich auch eingebürgert wurde. Von 2001 bis 2003 arbeitete er als Dozent (andere Angabe: Lektor) an der Universität B._______. Am 27. Dezember 2006 sprach ihm die Caisse C.________, offenbar für die Folgen eines erlittenen Überfalls, ab 1. Dezember 2006 eine Invalidenrente zu. Im Oktober 2009 meldete sich A.________ bei der Schweizerischen Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Er gab an, infolge des Überfalls an Depressionen, Nacken- und Rückenschmerzen zu leiden. Von September 2010 bis Mai 2011 war A.________ an der Universität D.________ teilzeitlich als Lehrer und Leiter des Instituts E.________ tätig. Die IV-Stelle des Kantons Zürich holte nebst weiteren Abklärungen ein polydisziplinäres medizinisches Gutachten vom 28. September 2012 ein. Mit Verfügung vom 11. November 2012 verneinte sie einen Rentenanspruch, da der Invaliditätsgrad unter 40 % liege.
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B. Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nach Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege mit Entscheid vom 19. Juni 2015 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem sei die unentgeltliche Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren zu bewilligen.
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Es wird kein Schriftenwechsel durchgeführt.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 mit Hinweis).
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Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob Anspruch auf eine (ganze) Invalidenrente der schweizerischen Invalidenversicherung besteht.
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Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zu den Begriffen Invalidität und Erwerbsunfähigkeit, zum nach dem Invaliditätsgrad abgestuften Anspruch auf eine Invalidenrente (mit den vorausgesetzten Mindestinvaliditätsgraden von 40 % für eine Viertelsrente, 50 % für eine halbe Rente, 60 % für eine Dreiviertelsrente und 70 % für eine ganze Rente), zur Invaliditätsbemessung mittels Einkommens- oder Prozentvergleich, zur Aufgabe von Arzt und Ärztin bei der Invaliditätsbemessung sowie zur Beweiswürdigung, namentlich bezüglich ärztlicher Berichte und Gutachten, zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
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3. Die Vorinstanz hat erkannt, gemäss Gutachten vom 28. September 2012 sei der Beschwerdeführer aufgrund psychischer Leiden insbesondere hinsichtlich einer Lehrtätigkeit vor Gruppen beeinträchtigt. In einer anderen Tätigkeit im Rahmen seines Fachbereichs bestehe aufgrund erhöhten Pausenbedarfs und rascher Erschöpfbarkeit eine Einschränkung von 30 %. Somatisch bestehe einzig für mittelschwere bis schwere Tätigkeiten eine Beeinträchtigung, mit Ausweitung der Arbeitsfähigkeit auf mittelschwere Tätigkeiten nach erfolgreicher Hüfttotalprothesenversorgung. Aufgrund des gutachterlich bestätigten Belastungsprofils, des überdurchschnittlichen Bildungsniveaus, der Mehrsprachigkeit und der vorhandenen Berufserfahrung, auch ausserhalb einer Lehrtätigkeit, sei dem Versicherten in einer beliebigen anderen als der dozierenden Tätigkeit im Bereich seines Fachgebietes - namentlich als Übersetzer, Privatlehrer, Lektor, Schriftsteller oder Texter für Fachzeitschriften - zumutbar, einer Erwerbstätigkeit von 70 % nachzugehen. Auch ausserhalb seines Fachgebietes stünden ihm alle leichten bis mittleren Tätigkeiten offen. Diese seien ihm im Rahmen seiner Selbsteingliederungspflicht zumutbar. Vor diesem Hintergrund könne offen bleiben, ob im Fachgebiet des Beschwerdeführers tatsächlich keine Forschungstätigkeiten ohne gleichzeitigen Lehrauftrag wahrgenommen werden könnten. Denn nach dem Gesagten stehe ihm ungeachtet dessen ein breites Berufsspektrum zur Verfügung. Bezüglich der erwerblichen Auswirkungen erwog das k antonale Gericht, das hypothetische Valideneinkommen könne nicht genau ermittelt werden, da der Versicherte in der Schweiz nie erwerbstätig gewesen sei. Da ihm zumutbar sei, in seinem Fachgebiet - unter Ausschluss einer Tätigkeit als Dozent - erwerbstätig zu sein, könne zur Bestimmung des Validen- und des Invalideneinkommens auf denselben Lohn abgestellt und eine Gegenüberstellung blosser Prozentzahlen vorgenommen werden. Der resultierende Invaliditätsgrad von 30 % begründe keinen Rentenanspruch.
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Erwägung 4
 
4.1. Der Versicherte macht geltend, das kantonale Gericht stütze sich auf die Rechtsprechung betreffend Überwindbarkeit der Beschwerden gemäss BGE 131 V 49. Diese Rechtsprechung sei aber durch das zwischenzeitlich ergangene Grundsatzurteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2014 (publiziert: BGE 141 V 281) obsolet geworden. Die Arbeitsfähigkeit sei im Lichte dieser geänderten Praxis festzulegen.
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Das kantonale Gericht erwähnt zwar die sog. Überwindbarkeitsrechtsprechung (BGE 131 V 49, vgl. auch BGE 130 V 352) wie auch BGE 141 V 281. Aus seinen Erwägungen geht indessen hervor, dass es die Zumutbarkeit von Verweistätigkeiten nicht nach den Grundsätzen gemäss dieser Rechtsprechung, sondern nach den allgemeinen Regeln zur Zumutbarkeit beruflicher Tätigkeiten, unter Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht der versicherten Person, geprüft hat. Das ist nicht zu beanstanden, zumal die Überwindbarkeitsrechtsprechung wie auch BGE 141 V 281 für anhaltende somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Gesundheitsschäden gelten (vgl. BGE 141 V 281 E. 4.2 S. 298 mit Hinweis). Gemäss den medizinischen Akten besteht hier kein solches Leiden. Damit ist die besagte Rechtsprechung nicht anwendbar.
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4.2. Der Beschwerdeführer rügt weiter, die vorinstanzliche Beurteilung, wonach er in irgendeiner Tätigkeit aus seinem Fachgebiet zu 70 % arbeitsfähig sei, sei aktenwidrig und willkürlich. Hinzu komme, dass alle vom kantonalen Gericht beispielhaft aufgezählten Berufe, ausser dem eines Forschers, den gutachterlichen Anforderungen widersprächen, ausserhalb seines Fachgebiets lägen, Voraussetzungen und Qualifikationen erforderten, welche er nicht aufweise, und vom ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht angeboten würden. Auch die vorinstanzliche Feststellung, wonach ihm alle leichten bis mittleren Tätigkeiten ausserhalb seines Fachgebietes offen stünden und zumutbar seien, sei aktenwidrig und willkürlich.
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Die Einwände sind nicht geeignet, die einlässlich und überzeugend begründete Beurteilung der Vorinstanz in Frage zu stellen. Das kantonale Gericht stützt sich auf das unstreitig beweiswertige Gutachten vom 28. September 2012. Aus diesem geht hervor, dass der Beschwerdeführer aus psychiatrischer Sicht als Lehrkraft für Gruppen zu 50 % arbeitsunfähig ist. In anderen Tätigkeiten innerhalb seines Fachgebiet besteht eine Beeinträchtigung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit von 30 %. Die Tätigkeit als Forscher wird dabei lediglich als Beispiel eines solchen Berufes erwähnt. Weitere Tätigkeiten aus dem Fachgebiet lässt der Gesundheitszustand zu. Sie tragen der gesundheitsbedingten Beschränkung auf Tätigkeiten ohne Gruppenunterricht Rechnung. Das gilt namentlich für die von der Vorinstanz angeführten Verweistätigkeiten. Den aus psychiatrischer Sicht attestierten Einschränkungen bei solchen Tätigkeiten wird mit der um 30 % verminderten Arbeits- und Leistungsfähigkeit Rechnung getragen. Die für diese Berufe erforderlichen Fähigkeiten weist der Versicherte als Sprach- und Literaturwissenschafter der russischen Sprache mit (gemäss seinem Lebenslauf und seinen Angaben bei der Begutachtung) Zusatzstudien in Philosophie, Geschichte, Kultur, Geschäftsrussisch, zeitgenössischen und internationalen Beziehungen auf, zumal er nebst seiner Muttersprache Russisch die französische Sprache beherrscht und über Grundkenntnisse der deutschen, englischen, hebräischen und altgriechischen Sprache verfügt. Er hat zudem mehrere Bücher publiziert, nebst Fachliteratur auch Werke im Bereich Poetik sowie einen Roman und Novellen. Es ist sodann davon auszugehen, dass der ausgeglichene Arbeitsmarkt passende Stellen anbietet. Da nach dem Gesagten im angestammten Fachbereich ein breites Berufsspektrum besteht, kann offen bleiben, ob auch fachfremde Tätigkeiten zumutbar wären.
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4.3. Der Versicherte macht sodann geltend, sollte das Bundesgericht die Verweistätigkeiten als zumutbar erachten, sei die Anwendung der Methode des Prozentvergleichs nicht korrekt. Er begründet diesen Einwand aber nicht weiter, sondern führt an anderer Stelle der Beschwerde als Eventualbegründung lediglich auf, es sei eine Mischrechnung vorzunehmen. Dabei sei bei den ausgewiesenen Stellen gemäss den von ihm aufgelegten Ausschreibungen von einem Anteil Forschung von 20 % und einem Anteil Lehre von 80 % auszugehen. Mit diesem Vorbringen wird weder die Anwendbarkeit der Prozentvergleichsmethode noch deren korrekte Anwendung durch die Vorinstanz in Frage gestellt. Die erst letztinstanzlich aufgelegten Stellenausschreiben wären im Übrigen ohnehin als unzulässige neue Beweismittel (Art. 99 Abs. 1 BGG) zu qualifizieren.
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5. Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwältin Noëlle Cerletti wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 24. November 2015
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Leuzinger
 
Der Gerichtsschreiber: Lanz
 
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