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Informationen zum Dokument  BGer 6B_520/2015  Materielle Begründung
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BGer 6B_520/2015 vom 24.11.2015
 
{T 0/2}
 
6B_520/2015
 
 
Urteil vom 24. November 2015
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Oberholzer,
 
Bundesrichterin Jametti,
 
Gerichtsschreiberin Schär.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
X.________,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Übertretung von Verkehrsvorschriften (fahrlässiges Überfahren einer Sicherheitslinie),
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 9. April 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
X.________ überfuhr am 6. November 2013 um ca. 7.40 Uhr beim Autobahnabschnitt A1L2 Unterstrass, Ausfahrt Hirschwiesenstrasse in Zürich, als Lenker eines Motorrades eine Sicherheitslinie.
1
 
B.
 
Das Statthalteramt des Bezirks Zürich sprach X.________ mit Strafbefehl vom 28. November 2013 wegen fahrlässigen Überfahrens einer Sicherheitslinie schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 300.--. X.________ erhob Einsprache gegen den Strafbefehl.
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Das Bezirksgericht Zürich verurteilte X.________ am 27. Oktober 2014 in Anwendung des Ordnungsbussenverfahrens wegen Überfahrens einer Sicherheitslinie und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 100.--.
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Auf Berufung des Statthalteramtes hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 9. April 2015 das Urteil des Bezirksgerichts.
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C.
 
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das vorinstanzliche Urteil sei aufzuheben. X.________ sei im Sinne des Strafbefehls des Statthalteramtes Zürich vom 28. November 2013 schuldig zu sprechen und mit einer Busse von Fr. 300.-- zu bestrafen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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D.
 
Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. X.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Eventualiter seien die Busse und die Verfahrenskosten zu reduzieren oder zu erlassen.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
Der Beschwerdegegner bestreitet nicht, die Sicherheitslinie überfahren zu haben. Umstritten ist einzig, ob das Ordnungsbussenverfahren zur Anwendung gelangt.
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1.1. Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften des Bundes können nach dem Ordnungsbussengesetz (OBG; SR 741.03) in einem vereinfachten Verfahren mit Ordnungsbussen bis zu Fr. 100.-- geahndet werden (Ordnungsbussenverfahren; Art. 1 Abs. 1 OBG). Das Ordnungsbussenverfahren ist, wenn seine Voraussetzungen gegeben sind, obligatorisch anzuwenden. Die Fälle, in denen eine dem Ordnungsbussenrecht unterstehende Übertretung ausnahmsweise im ordentlichen Verfahren zu ahnden ist, werden durch Gesetz und Verordnung abschliessend geregelt (BGE 105 IV 136 E. 1-3; Urteil 6B_975/ 2008 vom 4. Juni 2009 E. 1.1 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 135 IV 221). Das Ordnungsbussenverfahren ist unter anderem ausgeschlossen bei Widerhandlungen, durch die der Täter Personen gefährdet oder verletzt oder Sachschaden verursacht hat (Art. 2 lit. a OBG).
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1.2. Die Beschwerdeführerin rügt vorab eine Verletzung von Art. 2 lit. a OBG. Das in Art. 34 Abs. 2 SVG aufgestellte Gebot (auf Strassen mit Sicherheitslinien rechts zu fahren) sei für die Verkehrssicherheit fundamental und habe entsprechend absolute Bedeutung. Die vom Beschwerdegegner begangene Übertretung sei geeignet, eine erhebliche Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer zu schaffen. Das Überfahren einer Sicherheitslinie auf Autobahnen und Autostrassen, insbesondere wenn rechts überholt werde und die Fahrzeuglenker nicht damit rechneten, stelle eine abstrakte Gefährdung dar. Das Ordnungsbussenverfahren respektive Ziff. 306.3 des Anhangs 1 zur Ordnungsbussenverordnung (OBV; SR 741.031) könne daher im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangen.
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1.3. Nach der Rechtsprechung ist Art. 2 lit. a OBG dahingehend zu verstehen, dass das Ordnungsbussenverfahren nicht nur bei einer konkreten, sondern bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung von Personen ausgeschlossen ist (BGE 114 IV 63 E. 3 mit Hinweisen). Auch eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG nimmt die Rechtsprechung bereits bei Vorliegen einer erhöhten abstrakten Gefährdung an. Diese setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus. Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines rücksichtslosen oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (BGE 131 IV 133 E. 3.2; 130 IV 32 E. 5.1; je mit Hinweisen).
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1.4. Auf Strassen mit Sicherheitslinien ist immer rechts dieser Linien zu fahren (Art. 34 Abs. 2 SVG). Insbesondere dürfen die Sicherheitslinien von Fahrzeugen weder überfahren noch überquert werden (Art. 73 Abs. 6 lit. a der Signalisationsverordnung [SSV; SR 741.21]). Diese Vorschrift ist für die Verkehrssicherheit fundamental. Es ist notorisch, dass ihre Übertretung grundsätzlich geeignet ist, eine erhebliche Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer zu schaffen (BGE 119 V 241 E. 3d/bb; Urteil 6S.416/2003 vom 10. Februar 2004 E. 2.3).
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1.5. Das Überfahren einer Sicherheitslinie kann nach der zitierten Rechtsprechung eine grobe Verkehrsregelverletzung darstellen. Es müssen allerdings jeweils die Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden. Das Bundesgericht hatte in diesem Zusammenhang häufig Fälle zu beurteilen, bei denen im Rahmen eines Überholmanövers im richtungsgetrennten Verkehr die Sicherheitslinie überfahren und die Fahrbahn des Gegenverkehrs befahren wurde (vgl. Urteile 6B_148/2008 vom 17. Juni 2008; 6B_329/2008 vom 20. Juni 2008; 6S.161/2006 vom 12. Mai 2006). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Ob durch das Verhalten des Beschwerdegegners eine erhebliche Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer im Sinne der zitierten Rechtsprechung geschaffen wurde, kann nicht überprüft werden. Weder die erste Instanz noch die Vorinstanz äussern sich zur Frage, welche konkreten Verhältnisse im Zeitpunkt des Verkehrsregelverstosses herrschten. Allerdings beantragt die Oberstaatsanwaltschaft, wie bereits das Statthalteramt, lediglich eine Verurteilung nach Art. 90 Abs. 1 SVG, womit sie selber impliziert, dass der Beschwerdegegner keine grobe Verkehrsregelverletzung begangen respektive keine erhöhte Gefährdung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG geschaffen hat. Ihre Argumentation ist insofern widersprüchlich. Indem sie behauptet, der Beschwerdegegner habe durch seinen Spurwechsel eine erhebliche Gefahr für die übrigen Verkehrsteilnehmer geschaffen, weicht sie überdies vom vorinstanzlichen Sachverhalt ab, ohne diesen als willkürlich zur rügen (Art. 97 Abs. 1, Art. 106 Abs. 2 BGG). Das vorinstanzliche Urteil verstösst nicht gegen Art. 2 lit. a OBG.
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Erwägung 2
 
Weiter rügt die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe Ziff. 306.3 Anhang 1 OBV zu Unrecht angewendet. Die Bestimmung lautet wie folgt: Nichtfortsetzen der Fahrt in Pfeilrichtung (einschliesslich allfälliges Überfahren einer Sicherheitslinie, welche die Fahrstreifen in gleicher Richtung voneinander abgrenzt [6.01]; Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 73 Abs. 6 Bst. a und Art. 74 Abs. 1 und 2 SSV). Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, es habe vorliegend an Pfeilmarkierungen auf der Fahrbahn gefehlt. Zudem gelange die Bestimmung nur im Innerortsbereich zur Anwendung. Mit keinem Wort werde das Überfahren von Sicherheitslinien auf der Autobahn erwähnt, wo das Gefährdungspotenzial viel höher sei.
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2.1. Die Vorinstanz ermittelt den Anwendungsbereich von Ziff. 306.3 Anhang 1 OBV durch Gesetzesauslegung. Demnach führe der Wortlaut als Ausgangspunkt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Auslegung nach systematischen, historischen und teleologischen Kriterien ergebe, dass das Überfahren einer Sicherheitslinie, welche die Fahrstreifen in gleicher Richtung voneinander abgrenze, auch dann im Ordnungsbussenverfahren zu ahnden sei, wenn keine Pfeilmarkierungen vorhanden seien. Dies ergebe sich zunächst aus einer schriftlichen Antwort des Bundesrates auf eine betreffend Ziff. 306.3 Anhang 1 OBV gestellte Frage eines Nationalrats (AB 1999 N 955). Demnach werde das Überfahren einer Sicherheitslinie, welche Fahrstreifen in gleicher Richtung voneinander abgrenze, als Nichtfortsetzen der Fahrt in Pfeilrichtung qualifiziert. Auch die Erläuterungen des Bundesamtes für Strassen ASTRA vom 19. März 2012 liessen diesen Schluss zu. Demnach begehe eine Widerhandlung gegen Ziff. 306.3 Anhang 1 OBV, wer seine Fahrt im einen Fahrstreifen beginne und vor dessen Ende einen unzulässigen Streifenwechsel vornehme (z.B. den durch eine Sicherheitslinie markierten Streifen überfahre). In Zusammenhang mit der teleologischen Auslegung erwägt die Vorinstanz weiter, das Überfahren der Sicherheitslinie bei Fahrspuren in gleicher Richtung sei weniger gefährlich als bei richtungsgetrennten Spuren. Ob bei Spuren in gleicher Richtung zusätzlich Bodenmarkierungspfeile vorhanden seien oder nicht, spiele für das Gefährdungspotenzial keine Rolle. Vom Zweckgedanken her überzeuge es nicht, das Überfahren einer Sicherheitslinie bei gleichzeitiger Missachtung von Pfeilmarkierungen bloss mit einer Ordnungsbusse zu ahnden, nicht aber das Überfahren einer Sicherheitslinie, wenn Pfeilmarkierungen fehlen. Die Vorinstanz gelangt so zum Schluss, es sei das Ordnungsbussenverfahren anwendbar. Im Übrigen sei fraglich, ob das Nichtbeachten des Ausfahrtspfeils an besagter Stelle durch den Beschwerdegegner nicht ohnehin als Nichtfortsetzen der Fahrt in Pfeilrichtung gemäss Ziff. 306.3 Anhang 1 OBV gewürdigt werden könnte.
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2.2. Die vorinstanzlichen Erwägungen sind zutreffend. Das Überfahren einer Sicherheitslinie bei in gleicher Fahrtrichtung verlaufenden Fahrstreifen birgt in der Regel ein geringeres Gefährdungspotenzial als das Überfahren der Sicherheitslinie zwischen richtungsgetrennten Fahrbahnen. Aufgrund dessen kann ein derartiger Verkehrsregelverstoss im vereinfachten Verfahren geahndet werden. Ziff. 306.3 Anhang 1 OBV setzt nicht zwingend Pfeilmarkierungen voraus. Nach der ratio legis muss die Bestimmung auch zur Anwendung gelangen, wenn bei in gleicher Fahrtrichtung verlaufenden und durch eine Sicherheitslinie getrennten Fahrspuren entsprechende Pfeilmarkierungen fehlen. Eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung dieser beiden Verkehrssituationen ist nicht vertretbar. Der Bestimmung ist weiter nicht zu entnehmen, dass der Verordnungsgeber den Anwendungsbereich auf den Innerortsbereich beschränken wollte. Dass das Ordnungsbussenverfahren nicht angewendet werden darf, wenn eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer geschaffen wird, ergibt sich bereits aus Art. 2 lit. a OBG. Insofern bestehen im Einzelfall Differenzierungsmöglichkeiten.
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Erwägung 3
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner war nicht anwaltlich vertreten. Besondere Verhältnisse oder Auslagen weist er nicht nach. Eine Entschädigung rechtfertigt sich daher nicht (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 113 Ib 353 E. 6b).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 24. November 2015
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Die Gerichtsschreiberin: Schär
 
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