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Informationen zum Dokument  BGer 6B_528/2015  Materielle Begründung
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BGer 6B_528/2015 vom 06.10.2015
 
{T 0/2}
 
6B_528/2015
 
 
Urteil vom 6. Oktober 2015
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichter Oberholzer,
 
Gerichtsschreiber Faga.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Renzo Guzzi,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
 
2. A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Landtwing,
 
Beschwerdegegnerinnen.
 
Gegenstand
 
Fahrlässige einfache Körperverletzung, pflichtwidriges Verhalten bei Unfall; Willkür,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 31. März 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. auch Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 139 II 404 E. 10.1 S. 445 mit Hinweisen; vgl. zum Begriff der Willkür BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f.; 139 III 334 E. 3.2.5 S. 339; 138 I 49 E. 7.1 S. 51; je mit Hinweisen).
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1.2. Der Beschwerdeführer führte die Taxifahrt vom 29. Mai 2011 mit einem Kleinbus aus. Unbestritten ist, dass er vor der Fahrt die Bremsen des Rollstuhls arretierte und den Rollstuhl (mit einem Gurt und einer Ratsche) in den im Fahrzeugboden eingelassenen Befestigungsschienen fixierte. Unbestritten ist weiter, dass A.________ (Beschwerdegegnerin 2) durch die Vollbremsung aus dem Rollstuhl geschleudert wurde.
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1.3. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, er habe nicht nur den Rollstuhl am Fahrzeugboden fixiert, sondern die Beschwerdegegnerin 2 zudem mit einem Dreipunkte-Sicherheitsgurt gesichert. Die gegenteilige vorinstanzliche Feststellung sei willkürlich. Was der Beschwerdeführer dazu vorbringt, macht deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Entscheid fehlt. Er behauptet, die Vorinstanz stelle ausschliesslich auf den Bericht des Forensischen Instituts Zürich vom 23. September 2013 (richtig: 25. September 2013) ab. Diese Rüge erfolgt offensichtlich ohne Grund. Eine gegen die Sachverhaltsfeststellung gerichtete Kritik, welche den Hauptteil der im kantonalen Verfahren gewürdigten Beweismittel ausklammert, ist nicht geeignet, Willkür darzutun. Ebenso wenig kann dem Beschwerdeführer gefolgt werden, soweit er in den vorinstanzlichen Erwägungen einen Widerspruch sieht. Das Forensische Institut Zürich setzte sich mit einem möglichen Durchrutschen unter den Gurt auseinander. Es schloss solches bei einer aufrecht sitzenden Person und bei korrekt angelegtem Sicherheitsgurt aus. Die Schlussfolgerung der Vorinstanz, die Beschwerdegegnerin 2 wäre bei der Sachdarstellung des Beschwerdeführers nicht aus dem Rollstuhl geschleudert worden, folgt mithin den nachvollziehbaren Erklärungen des Forensischen Instituts Zürich und steht zu dessen Einschätzung nicht im Widerspruch. Die Beschwerde betreffend die Benutzung des Sicherheitsgurtes erweist sich als unbegründet, soweit sie den Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG überhaupt zu genügen vermag.
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Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer beanstandet die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung. Er habe keine Sorgfaltspflicht verletzt. Zudem sei der Unfall nicht voraussehbar gewesen (Beschwerde S. 11 f. und 14 ff.).
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2.2. Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt (Art. 12 Abs. 3 StGB). Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäss Art. 125 StGB setzt voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht hat. Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Wo besondere, der Unfallverhütung und der Sicherheit dienende Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, bestimmt sich das Mass der zu beachtenden Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften. Fehlen solche, kann auf analoge Regeln privater oder halbprivater Vereinigungen abgestellt werden, sofern diese allgemein anerkannt sind. Dies schliesst nicht aus, dass der Vorwurf der Fahrlässigkeit auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze wie etwa den allgemeinen Gefahrensatz gestützt werden kann (BGE 135 IV 56 E. 2.1 S. 64; 127 IV 62 E. 2d S. 64 f.; je mit Hinweisen). Die Zurechenbarkeit des Erfolgs bedingt die Vorhersehbarkeit nach dem Massstab der Adäquanz. Weitere Voraussetzung ist, dass der Erfolg vermeidbar war. Dabei wird ein hypothetischer Kausalverlauf untersucht und geprüft, ob der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters ausgeblieben wäre. Für die Zurechnung des Erfolgs genügt, wenn das Verhalten des Täters mindestens mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit die Ursache des Erfolgs bildete (BGE 135 IV 56 E. 2.1 S. 64 f. mit Hinweisen).
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2.3. Die Vorinstanz verweist wie bereits die erste Instanz auf die Empfehlungen des Bundesamtes für Strassen (ASTRA) vom 31. Juli 2000 betreffend Fahrzeuge für den Transport von Behinderten. Danach soll die behinderte Person grundsätzlich nicht am Rollstuhl befestigt werden. Anzustreben sei eine "Dreipunktsicherung", weshalb der Beschwerdeführer sich laut Vorinstanz nicht auf den Standpunkt stellen könne, er sei von einer vorgängigen Sicherung mittels Bauchgurt ausgegangen. Die Pflicht, die Beschwerdegegnerin 2 mit dem Dreipunkte-Sicherheitsgurt zu fixieren, habe mit Blick auf den Transportvertrag und die Behinderung des Fahrgastes den Beschwerdeführer und nicht etwa die Beschwerdegegnerin 2 getroffen. Indem der Beschwerdeführer den Dreipunkte-Sicherheitsgurt nicht verwendet habe, habe er die ihm obliegenden Pflichten verletzt.
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2.4. Die Fixierung des Rollstuhls ändert nichts daran, dass die Beschwerdegegnerin 2 selbst nicht angegurtet war. Der Beschwerdeführer ist Berufsfahrer und dessen Kleinbus verfügte über entsprechende Sicherheitsgurte. Bereits in BGE 103 IV 192 wurde die Nützlichkeit und Effektivität der Sicherheitsgurte betont (BGE 137 IV 290 E. 3.5 S. 294 f.). Die Empfehlungen des ASTRA, auf welche auch das Forensische Institut Zürich verweist, legen eine vom Rollstuhl möglichst unabhängige Sicherung nahe. Eine solche war ohne Weiteres möglich und angezeigt. Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, er habe "die heute üblichen Normen eingehalten, die gemäss DTC und AGU ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die im Rollstuhl sitzende Person, je nach Behinderung, mit sich bringen (richtig wohl: verringern) ", ist seine Argumentation weder nachvollziehbar noch substanziiert. Unbegründet ist der Vorwurf, die Vorinstanz stütze sich bei der Bemessung der Sorgfaltspflicht auf keine Bestimmungen oder Regeln. Das Forensische Institut Zürich umschreibt in den Grundzügen die Konzeption von Sicherheitsgurten und die Wirkungen einer starken Verzögerung auf eine angegurtete sowie eine nicht angegurtete Person. Mit Blick auf diese Ausführungen sind die Empfehlungen des ASTRA sachdienlich und können hier herangezogen werden. Indem der Beschwerdeführer die Beschwerdegegnerin 2 nicht angurtete, hat er die durch die Umstände gebotenen Vorsichtsmassnahmen nicht beachtet und eine Gefährdung bewirkt, welche sich in der Folge realisierte.
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2.5. Der Beschwerdeführer hält richtig fest, dass ihm die Vorinstanzen und die Staatsanwaltschaft Zürich - Sihl zur Last legen, den Dreipunkte-Sicherheitsgurt überhaupt nicht benutzt zu haben. Gegenstand des Gerichtsverfahrens ist mithin nicht eine falsche Benutzung des Sicherheitsgurtes. Die Rüge, das Anklageprinzip sei verletzt, geht an der Sache vorbei.
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Erwägung 3
 
3.1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verurteilung wegen pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall (Beschwerde S. 13 und 16 f.).
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3.2. Gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG wird mit Busse bestraft, wer bei einem Unfall die Pflichten verletzt, die ihm das Strassenverkehrsgesetz auferlegt. Sind Personen verletzt, schreibt Art. 51 Abs. 2 SVG vor, dass alle Beteiligten für Hilfe zu sorgen haben, die Polizei benachrichtigen sowie bei der Feststellung des Tatbestandes mitwirken müssen und die Unfallstelle grundsätzlich nicht verlassen dürfen. Ergreift ein Fahrzeugführer, der bei einem Verkehrsunfall einen Menschen getötet oder verletzt hat, die Flucht, ist er des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG schuldig zu sprechen. Eine Entfernung ist lediglich zulässig, um Hilfe zu holen oder die Polizei zu avisieren. Auch in diesem Fall muss der Betreffende zuvor auf der Unfallstelle und im Rahmen seiner Möglichkeiten und der Umstände die ihm obliegenden Pflichten erfüllen, etwa seine Personalien einem Anwesenden oder der von ihm informierten Polizei angeben (Urteil 6S.380/2003 vom 4. Dezember 2003 E. 2.2).
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3.3. Durch die vom Beschwerdeführer (aufgrund eines Fahrradfahrers) vollzogene Vollbremsung wurde die Beschwerdegegnerin 2 aus dem Rollstuhl geschleudert, wobei sie sich verschiedene Verletzungen zuzog. Damit liegt ein Verkehrsunfall im Sinne von Art. 92 SVG vor. Irrelevant für das Entstehen der Verhaltenspflichten nach Art. 51 Abs. 1 und 2 SVG ist, dass keine Kollision stattgefunden hat (Philippe Weissenberger, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2. Aufl. 2015, N. 22 zu Art. 92 SVG). Das Fahrmanöver des Beschwerdeführers hat die Verletzungen der Beschwerdegegnerin 2 unmittelbar verursacht. Diese stehen mit der Vollbremsung respektive mit dem Unfall in direktem Zusammenhang (vgl. Bussy et al., Code suisse de la circulation routière, 4. Aufl. 2015, N. 2.2 zu Art. 92 SVG).
11
 
Erwägung 4
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. 
 
2. 
 
3. 
 
4. 
 
Lausanne, 6. Oktober 2015
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Faga
 
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