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Informationen zum Dokument  BGer 8C_347/2015  Materielle Begründung
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BGer 8C_347/2015 vom 20.08.2015
 
{T 0/2}
 
8C_347/2015
 
 
Urteil vom 20. August 2015
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiberin Hofer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Advokat Dr. Heiner Schärrer,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Wiedererwägung),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 19. Januar 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1961 geborene A.________ war zuletzt im Reinigungsdienst eines Spitals tätig. Am 21. August 1998 meldete sie sich unter Hinweis auf ein therapieresistentes Rückenleiden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Unter Annahme eines Invaliditätsgrades von 50 Prozent sprach ihr die IV-Stelle Basel-Stadt mit Verfügung vom 29. November 1999 eine halbe Invalidenrente ab 1. Juni 1998 zu. Diesen Anspruch bestätigte sie revisionsweise mit Mitteilungen vom 20. August 2004 und 19. November 2009. Nach Einholung eines rheumatologischen und eines psychiatrischen Gutachtens vom 24./28. April 2014 hob die IV-Stelle die Verfügung vom 29. November 1999 am 29. August 2014 wiedererwägungsweise auf. Sie stellte die Rente auf das Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats ein.
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B. Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 19. Januar 2015 gut und hob die Verfügung vom 29. August 2014 auf.
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C. Die IV-Stelle erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei der Anspruch auf eine halbe Rente per 1. Oktober 2014 aufzuheben. Eventualiter sei die Sache zur Prüfung beruflicher Massnahmen an die Verwaltung zurückzuweisen.
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A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Zudem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht durch die Verneinung der Möglichkeit einer wiedererwägungsweisen Rentenaufhebung Bundesrecht verletzt hat.
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2.1. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG kann die IV-Stelle auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Zweifellose Unrichtigkeit meint, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also einzig dieser Schluss denkbar ist. Das Erfordernis ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprechung aufgrund falscher Rechtsregeln erfolgte oder weil massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden (BGE 138 V 324 E. 3.3 S. 328; Urteil 8C_779/2014 vom 6. Mai 2015 E. 4.3). Ob dies zutrifft, beurteilt sich nach der bei Erlass der Verfügung bestandenen Sach- und Rechtslage, einschliesslich der damaligen Rechtspraxis (BGE 140 V 77 E. 3.1 S. 79; vgl. BGE 138 V 147 E. 2.1 S. 149). Eine klare Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 ATSG) mit der Folge, dass die Leistungszusprechung auf einer offenkundig unvollständigen oder widersprüchlichen Aktenlage erfolgte, bei Renten etwa die Invaliditätsbemessung auf keiner nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung beruhte, kann ein Wiedererwägungsgrund im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG sein (Plädoyer 2011/1 S. 65, 9C_760/2010 E. 2 mit Hinweisen; Urteile 9C_882/2014 vom 23. Juni 2015 E. 3.1.2; 9C_6/2014 vom 15. Dezember 2014 E. 2.1; vgl. Urteil 9C_307/2011 vom 23. November 2011 E. 3.2 mit Hinweis). Anders verhält es sich, wenn der Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt, deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die Beurteilung einzelner Schritte bei der Festlegung solcher Anspruchsvoraussetzungen (Invaliditätsbemessung, Arbeitsunfähigkeitsschätzung, Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung darboten, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (Urteil 8C_469/2013 vom 24. Februrar 2014 E. 3.2, nicht publ. in: BGE 140 V 70; bereits erwähntes Urteil 8C_779/2014 E. 4.3).
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2.2. Ob die Verwaltung bei der Rentenzusprache den Untersuchungsgrundsatz (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG; BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.) und andere bundesrechtliche Vorschriften beachtet hat, ist frei überprüfbare Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil 9C_882/2014 vom 23. Juni 2015 E. 3.2 mit Hinweisen).
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Erwägung 3
 
3.1. Das kantonale Gericht hat festgestellt, die ursprüngliche Verfügung vom 29. November 1999 habe sich auf das orthopädische Gutachten des Spitals B.________ vom 1. Juni 1999 gestützt. Darin sei festgehalten worden, dass die Versicherte seit Jahren an chronischen Lumbalgien und Dorsalgien, ohne Irradiationen oder sensomotorische Defizite leide. Die Beschwerden seien hinsichtlich konservativer Massnahmen therapierefraktär. Gemäss Gutachten sei die Versicherte in der bisherigen Tätigkeit als Reinigungsfrau im Spital zu 50 Prozent arbeitsfähig. Unabhängig von der beruflichen Tätigkeit sei sie durch die Beschwerden genauso bei den häuslichen Verrichtungen eingeschränkt. Die IV-Stelle hat laut Vorinstanz angenommen, der Versicherten sei die Ausübung ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit als Putzfrau nur noch zu 50 Prozent zumutbar. Eine wesentliche Steigerung der Arbeitsfähigkeit durch berufliche Umstellungen sei nicht zu erwarten. Gegebenenfalls sei mit einem zwar höheren Arbeitspensum, aber einem tieferen Verdienst zu rechnen. Die Verwaltung sei deshalb davon ausgegangen, dass die Invalidität gesamthaft betrachtet analog der Arbeitsfähigkeit im bisherigen Beruf bei 50 Prozent liege. Damit ist die Behörde der Invalidenversicherung gemäss den vorinstanzlichen Erwägungen in antizipierter Beweiswürdigung zum Schluss gekommen, dass auch in angepassten Tätigkeiten nicht mit einer höheren Arbeitsfähigkeit resp. einem höheren Verdienst gerechnet werden könne. Dieses Vorgehen sei zwar ungewöhnlich, vermöge jedoch nicht zur Annahme einer zweifellosen Unrichtigkeit der leistungszusprechenden Verfügung zu führen. Das kantonale Gericht verneinte daher das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Wiedererwägung.
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3.2. Die beschwerdeführende Verwaltung rügt in erster Linie eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Die IV-Stelle habe im Rahmen der Festsetzung des Invaliditätsgrades gemäss Verfügung vom 29. November 1999 zwar Erwägungen zur Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit angestellt. Diese hätten jedoch nicht auf einer medizinischen Einschätzung beruht. Weder das Gutachten des Spitals B.________ vom 1. Juli 1999 noch weitere medizinische Unterlagen hätten sich zur Arbeitsfähigkeit in einer den körperlichen Einschränkungen angepassten Tätigkeit geäussert. Somit sei die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht rechtskonform erfolgt und die Rentenverfügung in Wiedererwägung zu ziehen.
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Erwägung 4
 
4.1. Die Rentenzusprache beruhte in medizinischer Hinsicht auf dem Gutachten des Spitals B.________ vom 1. Juni 1999. Darin wurde wegen der Rückenbeschwerden (Lumbalgien und Dorsalgien) bei thorakolumbaler Kyphosierung mit sekundärer Osteochondrose und beginnender Spondylophytenbildung L1/2 und L2/3 eine verminderte Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent bei der bisherigen Tätigkeit als Reinigungsfrau bescheinigt. Zur Einschränkung in einer adaptierten Tätigkeit äusserte sich das Gutachten nicht. Dieses stellt daher keine genügende Grundlage für eine Rentenzusprache dar, wie die IV-Stelle zu Recht geltend macht. Andere medizinische Unterlagen, welche die Arbeitsfähigkeit in einer den körperlichen Einschränkungen angepassten Tätigkeit thematisiert hätten, liegen nicht vor. In Bezug auf die Invalidität im erwerblichen Bereich ist indessen die Arbeitsfähigkeit in leidensangepassten, zumutbaren Tätigkeiten (Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG) ausschlaggebend. Um den Invaliditätsgrad bemessen zu können, sind die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen angewiesen, die ärztliche und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet werden können (BGE 140 V 193 E. 3.1 und 3.2 S. 194 f.; 132 V 93 E. 4 S. 99). Aus der Begründung der Rentenverfügung vom 29. August 2014 ergibt sich, dass die Verwaltung aus der ärztlich attestierten 50 prozentigen Arbeitsunfähigkeit im angestammten Beruf als Reinigungsfrau und einer gleich hohen Einschränkung im Haushalt auf einen Invaliditätsgrad von 50 Prozent geschlossen hat. Mit dem Erlass der insoweit auf ungenügenden Grundlagen beruhenden Rentenverfügung verletzte sie den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 ATSG). Daran ändert nichts, dass die IV-Stelle in der Rentenverfügung Erwägungen zur Arbeitsfähigkeit in Verweistätigkeiten angestellt hat. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend festhält, hätte sie nur dann auf medizinische Abklärungen zur Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit verzichten dürfen, wenn von Vornherein festgestanden hätte, dass der Versicherten keine anderen Tätigkeiten zumutbar waren, mit denen sie ihre Arbeits- und Erwerbsfähigkeit besser ausschöpfen könnte als in der angestammten Tätigkeit als Reinigungsfrau. Dafür bestehen jedoch keine Anhaltspunkte. Auch gibt es keine Hinweise dafür, dass eine Verweistätigkeit auf dem in Frage kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt in einem Ausmass schlechter entlöhnt würde als die Tätigkeit im Reinigungsdienst, dass eine allfällig höhere Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit durch einen geringeren Verdienst aufgewogen würde. Die Rentenverfügung beruhte damit auf einer zweifellos unrichtigen Rechtsanwendung. Der Umstand, dass die Rente in den Jahren 2004 und 2009 - ohne eingehende Abklärungen - revisionsweise bestätigt wurde, begründet ebenfalls keine andere Betrachtungsweise. Es verhält sich im Ergebnis nicht anders, als wenn eine zu Recht bezogene Invalidenrente infolge Veränderung des Invaliditätsgrades aufgehoben wird. Die Versicherte hat keinen Anspruch darauf, besser gestellt zu werden als die Versicherten, denen dies widerfährt. Auch eine lange Dauer des Rentenbezugs schafft keinen Vertrauenstatbestand, der eine weitere Rentenausrichtung trotz fehlender Invalidität zu rechtfertigen vermöchte (vgl. BGE 140 V 514 E. 3.5 S. 519; Urteil 8C_274/2015 vom 25. Juni 2015 E. 2). Die Vorinstanz hat somit zu Unrecht die Wiedererwägungsverfügung vom 29. August 2014 aufgehoben.
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4.2. Steht die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung fest und ist die Berichtigung von erheblicher Bedeutung, was auf periodische Dauerleistungen regelmässig zutrifft (vgl. BGE 119 V 475 E. 1c S. 480 mit Hinweisen; Urteil 9C_1014/2008 vom 14. April 2009 E. 3.3), sind die Anspruchsberechtigungen und allenfalls der Umfang des Anspruchs pro futuro zu prüfen (Urteil 9C_692/2014 vom 22. Januar 2015 E. 4). Wie bei einer materiellen Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG ist auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts der Invaliditätsgrad zu ermitteln (Urteil 9C_816/2013 vom 20. Februar 2014 E. 2.1 mit Hinweisen; 9C_11/2008 vom 29. April 2008 E. 4.2.1). Dazu hat sich die Vorinstanz bisher nicht geäussert. Dies wird sie nachzuholen haben.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.
13
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 19. Januar 2015 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
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2. Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokat Dr. Heiner Schärrer wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
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3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
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4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
18
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 20. August 2015
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Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Leuzinger
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Die Gerichtsschreiberin: Hofer
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