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Informationen zum Dokument  BGer 5A_144/2015  Materielle Begründung
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BGer 5A_144/2015 vom 13.08.2015
 
{T 0/2}
 
5A_144/2015
 
 
Urteil vom 13. August 2015
 
 
II. zivilrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
 
Bundesrichter Schöbi, Bovey,
 
Gerichtsschreiber Traub.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.D.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Werner Goldmann,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
B.D.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Matthys Hausherr,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Abänderung von vorsorglichen Massnahmen im Scheidungsverfahren gem. Art. 276 ZPO,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug, II. Zivilabteilung, vom 14. Januar 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. A.D.________ (geb. 1961) und B.D.________ (1949) heirateten am 15. Oktober 1999. Im Mai 2008 adoptierte das Ehepaar den Sohn C.D.________ (2002). Seit Juli 2008 leben sie getrennt. Das Kantonsgericht Zug verpflichtete B.D.________ am 26. Oktober 2009 im Rahmen von Eheschutzmassnahmen, an den Unterhalt des Sohnes C.D.________ ab Juli 2008 monatlich Fr. 950.- zuzüglich allfälliger Kinderzulagen zu bezahlen. Ende Oktober 2010 machte A.D.________ das Scheidungsverfahren anhängig. Das Kantonsgericht hob die monatlichen Unterhaltsbeiträge zugunsten des Sohnes für die Zeit vom 4. November 2010 bis 31. März 2011 auf Fr. 1'185.- und für die Zeit ab 1. April 2011 auf Fr. 1'285.-, je zuzüglich allfällliger Kinderzulagen, an. Weiter verpflichtete es den Ehemann zur Leistung eines persönlichen Unterhaltsbeitrages an die Ehefrau von Fr. 114.60 vom 4. November 2010 bis 23. März 2011 und von Fr. 1'614.60 ab dem 24. März 2011 (mit Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 23. Februar 2012 insoweit bestätigter Entscheid vom 12. Oktober 2011).
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A.b. Am 8. September 2014 änderte das erstinstanzliche Gericht den Entscheid vom 12. Oktober 2011 und verpflichtete den Ehemann, ab dem 1. Mai 2013 für den Sohn einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 1'685.- sowie ihr persönlich (nach dem Wegfall von bisher an sie ausbezahlten Unfalltaggeldern in Höhe von monatlich Fr. 3'240.-) bis 31. Dezember 2014 einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 4'854.60 und ab dem 1. Januar 2015 einen solchen von Fr. 1'614.60 zu bezahlen.
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B.
 
 
C.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
 
Erwägung 2
 
 
Erwägung 3
 
3.1. Strittig ist die Höhe der Unterhaltsbeiträge an die Ehefrau mit Wirkung ab dem 1. Januar 2015.
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3.1.1. Das erstinstanzliche Gericht rechnete der Ehefrau ab dem 1. Januar 2015 - nach Ablauf einer angemessenen Umstellungsfrist (dazu BGE 129 III 417 E. 2.2 S. 421; Urteil 5C.34/2004 vom 22. April 2004 E. 2.5) ein hypothetisches Nettoeinkommen von Fr. 3'200.- an. Den ihr seit dem 1. Mai 2013 geschuldeten Unterhaltsbeitrag von Fr. 4'854.60 setzte es per 1. Januar 2015 auf Fr. 1'614.60 herab. Das Gericht führte aus, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im angestammten Beruf der Pharmazeutin zu 50 % sei zumutbar. So stünden ihr etwa Tätigkeiten in den Bereichen Lehre, Durchführung von Präsentationen für Pharmafirmen oder strategische und operative Beratung im Pharmamarkt offen. Das Kantonsgericht bezog sich damit auf den Grundsatz, wonach der unterhaltspflichtige und der unterhaltsberechtigte Ehegatte nicht nur dann wirtschaftlich leistungsfähig sind, wenn sie ein Einkommen haben, sondern auch, wenn sie bei gutem Willen ein solches haben könnten (BGE 110 II 116 E. 2a S. 117).
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3.1.2. Vor der Vorinstanz hatte die Ehefrau eingewendet, die aus medizinischen Gründen höchstens hälftige Arbeitsfähigkeit sei von vornherein nur gegeben, wenn mit der betreffenden Stelle keine erheblich konflikthafte personelle Interaktion oder Akkumulation von Stressbelastung verbunden sei (vgl. Gutachten des Prof. E.________, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, vom 13. März 2012). Die Arbeit einer Produktmanagerin, in welcher sie über Erfahrung verfüge, passe nicht zu diesem Anforderungsprofil. Ausserdem habe sie den fachlichen Anschluss an den einschlägigen Arbeitsmarkt verloren. Für eine besser angepasste Tätigkeit administrativer Art fehlten ihr Ausbildung und Erfahrung. Das angerechnete Einkommen sei auch mit Blick auf ihr Alter von 54 Jahren (2015) illusorisch.
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3.1.3. Das Obergericht hielt diese Argumente nicht für stichhaltig. Es erwog unter anderem, die Ehefrau habe 2008 nach einem sechs Jahre andauernden Erwerbsunterbruch als 47-jährige im Bereich Pharma eine Stelle gefunden. Nachdem sie diese wegen der Sistierung eines Projekts nach einem halben Jahr wieder verloren habe, sei sie 2009 in einer neuen Teilzeitanstellung gewesen. Im Jahr darauf habe sie eine passende Stelle nicht, auch nicht versuchsweise, angetreten. Seither habe sich der Arbeitsmarkt für Fachkräfte eher positiv entwickelt. Angesichts der guten Ausbildung und Berufserfahrung sowie des vorhandenen Beziehungsnetzes sei nicht davon auszugehen, dass ihre Chancen im Arbeitsmarkt vier Jahre später grundlegend schlechter geworden seien. Die dokumentierten Bemühungen um Arbeit seit März 2011 liessen nicht darauf schliessen, sie könne keine geeignete Stelle mehr finden, zumal es sich oft um Spontanbewerbungen mittels Standardschreiben gehandelt habe (E. 3.4 des angefochtenen Urteils). Zur Höhe des erzielbaren Einkommens fügte die Vorinstanz an, dieses sei nicht, wie beantragt, wegen der gesundheitsbedingt verringerten Stresstoleranz (zusätzlich zum reduzierten Pensum) um 30 Prozent herabzusetzen; mit der anerkannten Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent sei das eingeschränkte Leistungsvermögen (hinreichend) berücksichtigt. Zudem habe das Kantonsgericht diesem Umstand gerade dadurch Rechnung getragen, dass es nicht auf höhere statistische Ansätze abstellte, sondern auf das bei einer 30 Prozent-Anstellung im Jahr 2008 erzielte, auf ein halbes Pensum hochgerechnete Gehalt (von Fr. 3'200.-; E. 4 des angefochtenen Urteils).
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3.2. Die Beschwerdeführerin betrachtet das vorinstanzliche Erkenntnis als willkürlich. Sie sei nicht in der Lage, binnen dreier Monate (seit dem erstinstanzlichen Erkenntnis) eine Erwerbstätigkeit zu 50 Prozent aufzunehmen. Das angerechnete monatliche Einkommen von Fr. 3'200.- sei nicht realisierbar. Im Eventualstandpunkt macht sie geltend, es sei ihr eine um ein Jahr (bis Ende 2015) verlängerte Umstellungsfrist zu gewähren.
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3.3. Soweit die Beschwerdeführerin die vorinstanzliche Beurteilung unter spezifischen Gesichtspunkten beanstandet, bleibt darauf im Rahmen der Kognition nach Art. 98 BGG einzugehen (vgl. oben E. 2).
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3.3.1. Zunächst ist nicht ersichtlich, weshalb die im Jahr 2008 vorübergehend zu 30 Prozent ausgeübte Arbeit, entgegen der Annahme der Vorinstanz, keinerlei Rückschlüsse auf die gegenwärtige Vermittelbarkeit der Beschwerdeführerin im angestammten Tätigkeitsfeld erlauben sollte. Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, die fachpsychiatrisch attestierten Rahmenbedingungen einer zumutbaren Arbeit (Gutachten des Prof. E.________ vom 13. März 2012) seien bei jener Arbeitsstelle nicht erfüllt gewesen. Dagegen rügt sie im Zusammenhang mit dem Gutachten des Prof. E.________, die "immer strenger gewordene sozialversicherungsrechtliche Fallbehandlung" stimme "vielfach nicht mit der Lebenswirklichkeit überein". Auf diese These muss nicht näher eingegangen werden. Für die hier zu behandelnden Belange reicht die Feststellung, dass die im Gutachten vertretene versicherungsmedizinische Beurteilung nicht mit einer sozialversicherungsrechtlichen Betrachtungsweise gleichgesetzt werden darf; vielmehr beschränkt sie sich, ihrer Zweckbestimmung entsprechend, auf eine Stellungnahme zu einer spezifisch medizinischen Fragestellung (zur Aufgabenteilung von Rechtsanwender und Gutachter bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit: BGE 140 V 193). Die versicherungsmedizinische (zuhanden des obligatorischen Unfallversicherers erstattete) Einschätzung des Prof. E.________ ist auf den hier interessierenden Zusammenhang übertragbar, zumal sich nicht der Eindruck aufdrängt, für die Frage nach den tatsächlich erzielbaren Einkommen (oben E. 3.1.1 und unten E. 3.3.3) seien wesentliche Faktoren beachtlich, welche bei der Ermittlung der sozialversicherungsrechtlichen Arbeitsunfähigkeit (als nicht direkt gesundheitsschadensbedingt) auszuklammern wären (vgl. Art. 6 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]). Die Beschwerdeführerin macht in diesem Zusammenhang noch geltend, andere ärztliche Sachverständige seien von einer tieferen Arbeitsfähigkeit ausgegangen; daher sei die im Scheidungsverfahren angeordnete neue Expertise abzuwarten. Damit hat sie aber nicht begründet, weshalb die Vorinstanz in Willkür verfallen sein sollte, als sie das Gutachten des Prof. E.________ als beweiswertige Entscheidungsgrundlage erachtet hat.
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3.3.2. Sodann weist die Beschwerdeführerin wie schon im vorinstanzlichen Verfahren auf eine Reihe von Hindernissen für eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit hin: Sie sei seit 12 Jahren praktisch nicht mehr erwerbstätig; nie habe die Arbeitslosenversicherung fehlende Arbeitsbemühungen sanktioniert; die Arbeitsvermittlung der Invalidenversicherung habe in neun Monaten ebenfalls keinen geeigneten Arbeitsplatz gefunden (vgl. Schreiben der IV-Stelle Zug vom 12. Dezember 2007); nach berufsberaterischem Zeugnis sei sie im angestammten Beruf nicht mehr auf dem neuesten Stand, für eine administrative Tätigkeit fehle es ihr an der notwendigen Ausbildung und Erfahrung (Schreiben des Berufsinformationszentrums Zug vom 3. Oktober 2012); bereits für 50-jährige Stellensuchende sei es schwierig, eine neue Anstellung zu finden, bei ihr komme noch das Erfordernis dazu, dass eine Arbeit nur geeignet sei, wenn dabei eine erhebliche konflikthafte interpersonelle Interaktion sowie eine Akkumulation von Stressbelastung vermieden werden könne.
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3.3.3. Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen den Vorwurf der Vorinstanz, sie habe es unterlassen, sich ausserhalb des angestammten Berufsfeldes weiterzubilden und so die Einsatzmöglichkeiten zu erweitern (E. 3.4 des angefochtenen Urteils). In der Tat darf ein hypothetisches Einkommen nur angerechnet werden, wenn es effektiverzielt werden kann. Soweit die reale Möglichkeit einer Einkommenssteigerung fehlt, fällt eine Anrechnung ausser Betracht (BGE 128 III 4 E. 4a S. 5; 117 II 16 E. 1b S. 17; Urteil 5A_210/2013 vom 24. Dezember 2013 E. 4.2; vgl. auch BGE 137 III 118 E. 2.3 S. 121 [betreffend den Kindesunterhalt]). Selbst nach einer willentlich bewirkten Verminderung der Leistungskraft darf ein hypothetisches Einkommen nur angerechnet werden, wenn der erwerbliche Nachteil rückgängig zu machen ist (vgl. zitierte Urteile). Dementsprechend kann die Beschwerdeführerin nicht für eine unterlassene Weiterbildung zur Rechenschaft gezogen werden; innerhalb der gewährten Umstellungsfrist wird sie die betreffenden Erwerbsvoraussetzungen nicht mehr schaffen können. Indessen geht die Vorinstanz wie erwähnt davon aus, die Beschwerdeführerin könne auch wieder eine Tätigkeit im 
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3.3.4. Im Eventualstandpunkt macht die Beschwerdeführerin geltend, es sei ihr eine Umstellungsfrist nicht bloss bis Ende 2014, sondern bis Ende 2015 zuzugestehen. Entgegen ihrer Ansicht setzt sich die Vorinstanz nicht dem Vorwurf aus, auf nicht einschlägige Präjudizien abgestellt zu haben (vgl. E. 5.1 des angefochtenen Entscheids) : Es spielt keine Rolle, ob sich die dortigen Unterhaltsberechtigten, im Gegensatz zur Beschwerdeführerin, überhaupt nicht um eine Arbeit bemüht haben. Denn wie beim hypothetischen Einkommen als solchem (oben E. 3.3.3) spielen bei der Festlegung der Umstellungsfrist pönale Aspekte keine Rolle. Die vorinstanzliche Feststellung, nach dem Wegfall der Arbeitslosenentschädigung im März 2011 hätte die Beschwerdeführerin ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt konsequenter verfolgen können (E. 5.2), ist denn auch als Aussage über die tatsächlichen Erwerbsmöglichkeiten zu verstehen. Die - auch aus Sicht der Vorinstanz eher knapp bemessene - Frist erweist sich unter diesem Blickwinkel nicht als realitätsfremd.
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3.4. Nach dem Gesagten ist das vorinstanzliche Erkenntnis, wonach der Beschwerdegegner für die Beschwerdeführerin persönlich bis Ende 2014 einen Unterhaltsbeitrag von Fr. 4'854.60 und danach einen solchen von Fr. 1'614.60 zu bezahlen hat, insgesamt nicht verfassungswidrig (vgl. Art. 98 BGG). Offen bleiben muss, ob die gegenteilige Sichtweise der Beschwerdeführerin ebenfalls als vertretbar oder gar als zutreffender erscheinen könnte.
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Erwägung 4
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. 
 
2. 
 
3. 
 
Lausanne, 13. August 2015
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: von Werdt
 
Der Gerichtsschreiber: Traub
 
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