VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_253/2015  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_253/2015 vom 23.07.2015
 
{T 0/2}
 
6B_253/2015
 
 
Urteil vom 23. Juli 2015
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Oberholzer,
 
Bundesrichterin Jametti,
 
Gerichtsschreiber Faga.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
X.________,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Nachträgliche Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 2. Abteilung, vom 31. Oktober 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Vorinstanz erwägt, die nachträgliche Anordnung der stationären therapeutischen Massnahme liesse sich grundsätzlich auf Art. 63b Abs. 5 StGB stützen. Wohl werde mit Blick auf die Gesetzesmarginalie und das Konzept der Bestimmung nicht verkannt, dass Art. 63b Abs. 5 StGB den Wechsel von einer strafvollzugsbegleitenden ambulanten zu einer stationären therapeutischen Massnahme nicht erfasse. Für eine extensive Auslegung von Art. 63b Abs. 5 StGB (wonach die Bestimmung nicht nur bei einer aufgeschobenen Freiheitsstrafe zur Anwendung gelangt) sprächen die Gesetzesmaterialien. Hingegen brauche die Frage der Anwendbarkeit von Art. 63b Abs. 5 StGB bei der Umwandlung einer strafvollzugsbegleitenden ambulanten Massnahme in eine stationäre therapeutische Massnahme nicht abschliessend beantwortet zu werden (ebenso wenig die Frage, ob eine entsprechende Umwandlung mit dem Grundsatz "ne bis in idem" vereinbar sei). Einem Wechsel einer ambulanten Behandlung in eine stationäre therapeutische Massnahme habe eine Aufhebung der erstgenannten Massnahme vorauszugehen. Dazu sei die Vollzugsbehörde zuständig. Da dies nicht erfolgt sei, fehle es (unter der Prämisse einer Anwendbarkeit von Art. 63b Abs. 5 StGB) an einer Grundvoraussetzung für die beantragte stationäre Massnahme (Entscheid S. 6 ff.).
1
1.2. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz wende Art. 63b Abs. 5 StGB bundesrechtswidrig an. Dazu verweist sie auf Art. 63a Abs. 3 StGB. Der Entscheid, die ambulante Behandlung aufzuheben, sei dem Gericht überlassen. Die Aufhebung erfolge konkludent mit der nachträglichen Anordnung der stationären therapeutischen Massnahme (Beschwerde S. 3 f.).
2
2. 
3
2.1. Therapeutische Massnahmen im Sinne von Art. 56 ff. StGB sind im Gegensatz zu Strafen zeitlich nicht absolut limitiert. Ihre Dauer hängt vom Behandlungsbedürfnis des Betroffenen und von der Erfolgsaussicht der Massnahme ab (vgl. Art. 56 Abs. 1 StGB). Sie werden ohne Rücksicht auf Art und Dauer der ausgesprochenen Strafe angeordnet. Massgebend sind der Geisteszustand des Täters und die Auswirkungen der Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten (BGE 136 IV 156 E. 2.3 S. 158 f. mit Hinweis). Ambulante Behandlungen nach Art. 63 StGB sind mindestens einmal jährlich auf ihre weitere Erforderlichkeit hin zu überprüfen (Art. 63a Abs. 1 StGB). Sie dürfen in der Regel nicht länger als fünf Jahre dauern. Das Gericht kann auf Antrag der Vollzugsbehörde die Behandlung um jeweils ein bis fünf Jahre verlängern (Art. 63 Abs. 4 StGB).
4
2.2. Wird die ambulante Behandlung aufgehoben, kann das Gericht nach Art. 63b Abs. 5 StGB an Stelle des Strafvollzugs eine stationäre therapeutische Massnahme anordnen, wenn zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer, mit dem Zustand des Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen begegnen. Es ist zu prüfen, ob die Umwandlung einer strafvollzugsbegleitenden ambulanten Massnahme in eine stationäre therapeutische Massnahme auf Art. 63b Abs. 5 StGB gestützt werden kann.
5
2.2.1. Die Möglichkeit, eine vollzugsbegleitende ambulante Behandlung in eine stationäre therapeutische Massnahme umzuwandeln, haben das Bundesgericht und ein Teil der Lehre wiederholt bejaht. Die Frage nach der gesetzlichen Grundlage wird in Lehre und Rechtsprechung, soweit sie überhaupt aufgeworfen wird, uneinheitlich beantwortet. Das Bundesgericht erwog im Urteil 6B_375/2008 vom 21. Oktober 2008 E. 3.1, die Folgen der Aufhebung einer vollzugsbegleitenden Behandlung seien im Gesetz nicht geregelt. Eine erneute ambulante Massnahme sei unter Hinweis auf BGE 134 IV 246 E. 3.4 S. 252 ausgeschlossen. In Frage komme eine nachträgliche stationäre Massnahme im Sinne von Art. 65 Abs. 1 StGB. Das Bundesgericht verwies dazu auf eine frühere Meinung von HEER, wonach eine stationäre therapeutische Massnahme nach einer aufgehobenen vollzugsbegleitenden ambulanten Behandlung auch über Art. 65 Abs. 1 StGB erreicht werden könne ( MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 1 zu Art. 63b StGB). Die weiteren vom Bundesgericht im genannten Entscheid herangezogenen Literaturstellen sind in Bezug auf die Frage der Gesetzesgrundlage nicht eindeutig (vgl. Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 9 N. 94; Schwarzenegger et al., a.a.O., S. 246). In den Urteilen 6B_237/2008 vom 20. Juni 2008 E. 1, 1B_4/2010 vom 21. Januar 2010 E. 3.2, 6B_252/2010 vom 22. Juni 2010 E. 1.2 und 6B_135/2012 vom 18. April 2012 E. 1.2 verwies das Bundesgericht (ohne weitergehende Erwägungen) auf Art. 65 Abs. 1 StGB. Im Urteil 6B_160/2010 vom 1. Juni 2010 E. 1.2 wurde die Anwendung von Art. 63b StGB ausgeschlossen, da der Vollzug der Freiheitsstrafe nicht aufgeschoben worden sei. Im Gegensatz dazu wurde im Urteil 6B_483/2009 vom 14. Januar 2010 E. 1.3 Art. 65 Abs. 1 StGB als nicht einschlägig bezeichnet und auf Art. 63b Abs. 5 StGB verwiesen.
6
2.2.2. Die Folgen der Aufhebung einer nicht erfolgreichen strafvollzugsbegleitenden ambulanten Behandlung regelt das Gesetz nicht ausdrücklich. Eine Lücke im Gesetz besteht, wenn sich eine Regelung als unvollständig erweist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung. Ob eine zu füllende Lücke oder ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden (vgl. dazu eingehend Urteil 6B_791/2014 vom 7. Mai 2015 E. 1.3 mit Hinweisen, zur Publikation bestimmt).
7
2.2.3. Die Umwandlung einer strafvollzugsbegleitenden ambulanten Massnahme in eine stationäre therapeutische Massnahme stützt sich auf Art. 63b Abs. 5 StGB.
8
2.3. Nach Auffassung der Vorinstanz hat einem Wechsel einer ambulanten Behandlung in eine stationäre therapeutische Massnahme eine Aufhebung der ersten Massnahme durch die Vollzugsbehörde vorauszugehen. Es ist zu prüfen, wie es sich damit verhält.
9
2.3.1. Der Entscheid über die Aufhebung einer Massnahme wegen Aussichtslosigkeit nach Art. 63a Abs. 2 lit. b StGB trifft die Vollzugsbehörde. Das Sachurteil, mit welchem die Massnahme angeordnet wurde, bleibt davon unberührt. Mit der Aufhebung wird einzig festgestellt, dass die angeordnete Massnahme ihren Zweck nicht erreicht, sie aussichtslos ist und ihr Vollzug deshalb eingestellt wird. Es handelt sich um einen typischen 
10
2.3.2. Die vom Kriminalgericht Luzern am 13. Januar 2012 angeordnete ambulante Behandlung wurde nicht aufgehoben. Vielmehr entschied der Vollzugs- und Bewährungsdienst des Kantons Luzern am 7. Juli 2014, sie fortzusetzen. Da die nachträgliche Anordnung der stationären therapeutischen Massnahme zwingend einen vollzugsrechtlichen Aufhebungsentscheid voraussetzt, fehlt es mit der Vorinstanz an einer Voraussetzung für die beantragte Änderung. Was die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf Art. 63a Abs. 3 StGB dagegen vorbringt, überzeugt nicht. Diese Bestimmung setzt voraus, dass der Täter während der ambulanten Behandlung eine Straftat begeht. Einzig bei neuer Delinquenz entscheidet das für die Beurteilung der neuen Tat zuständige Gericht allein und ist die Vollzugsbehörde nicht involviert ( HEER, a.a.O., 2013, N. 31 zu Art. 63b StGB). Der Beschwerdegegner wurde nicht rückfällig. Die von der Beschwerdeführerin angerufene Bestimmung ist hier nicht einschlägig.
11
Es erübrigt sich, auf die weiteren Erwägungen der Vorinstanz zu Art. 65 Abs. 1 StGB und die in diesem Zusammenhang von der Beschwerdeführerin erhobenen Rügen näher einzugehen.
12
 
Erwägung 3
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. Juli 2015
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Faga
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).