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Informationen zum Dokument  BGer 2C_729/2014  Materielle Begründung
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BGer 2C_729/2014 vom 22.06.2015
 
{T 0/2}
 
2C_729/2014
 
 
Urteil vom 22. Juni 2015
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Zünd, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
Gerichtsschreiberin Petry.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A. A.________,
 
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Leimbacher,
 
gegen
 
Amt für Migration und Integration
 
des Kantons Aargau, Rechtsdienst.
 
Gegenstand
 
Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 27. Juni 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. A.A.________ (geb. 1948) ist rumänische Staatsbürgerin. Seit dem 17. Februar 1994 ist sie mit dem türkischen Staatsangehörigen B.A.________ (geb. 1954) verheiratet. Das Paar hat eine gemeinsame Tochter, C.A.________ (geb. 1993). Der Ehemann verfügte ab 1980 über eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, welche ab 1998 nicht mehr verlängert wurde. B.A.________ kam jedoch seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach. Ein späteres Gesuch um Erteilung einer Härtefallbewilligung wurde abgelehnt (vgl. Urteil des EGMR im Fall A.________ gegen Schweiz vom 9. Dezember 2010, Beschwerde Nr. 16327/05). B.A.________ hält sich offenbar noch immer in der Schweiz auf.
1
A.b. A.A.________ reiste erstmals am 9. März 2000 mit ihrer Tochter C.A.________ in die Schweiz ein und stellte erfolglos ein Asylgesuch. Am 10. November 2003 verliess sie mit ihrer Tochter die Schweiz. Im Sommer 2004 reiste die Tochter erneut in die Schweiz ein, lebte offenbar bei ihrem Vater und besuchte hier die Schulen. Auch A.A.________ hielt sich nach ihrer Ausreise im November 2003 oft in der Schweiz bei ihrem Ehemann und ihrer Tochter auf. Die Tochter verfügt seit September 2012 über eine Kurzaufenthaltsbewilligung zur Absolvierung einer Lehre.
2
A.c. Am 21. Mai 2012 wurde A.A.________ rückwirkend ab ihrer letzten Einreise am 1. November 2011 eine bis zum 29. Oktober 2012 befristete Aufenthaltsbewilligung zur Stellensuche erteilt. Im Oktober 2012 beantragte A.A.________ unter Vorlage einer aktuellen Arbeitsbestätigung als Raumpflegerin die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung.
3
B. Mit Verfügung vom 17. Juni 2013 lehnte das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ab und setzte A.A.________ eine Ausreisefrist. Eine dagegen erhobene Einsprache blieb erfolglos (Einspracheentscheid vom 23. Oktober 2013). Mit Urteil vom 27. Juni 2014 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ebenfalls ab.
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C. Vor Bundesgericht beantragt A.A.________ die Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. Juni 2014. Es sei ihr eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
Angefochten ist ein Endentscheid einer letzten oberen kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2; Art. 90 BGG) in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a BGG). Gegen Entscheide über ausländerrechtliche Bewilligungen ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nur zulässig, falls das Bundesrecht oder das Völkerrecht einen Rechtsanspruch auf deren Erteilung bzw. Verlängerung einräumt (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG e contrario). Als rumänische Staatsangehörige kann sich die Beschwerdeführerin grundsätzlich auf das am 1. Juni 2009 für Rumänien und Bulgarien rechtswirksam gewordene Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA, SR 0.142.112.681; vgl. das Protokoll im Hinblick auf die Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens als Vertragsparteien vom 27. Mai 2008 [Protokoll II; SR 0.142.112.681.1]) berufen, welches ihr potenziell einen Bewilligungsanspruch einräumt (in BGE 140 II 460 nicht publizierte E. 1.1 des Urteils 2C_772/2013 vom 4. September 2014). Ob die Bewilligungsvoraussetzungen tatsächlich gegeben sind, bildet praxisgemäss Gegenstand der materiellen Beurteilung und ist keine Eintretensfrage (BGE 136 II 177 E. 1.1 S. 179 f.).
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Erwägung 2
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und Art. 96 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 139 II 404 E. S. 415). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rüge- und Substanziierungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 139 I 229 E. 2.2 S. 232; 136 II 304 E. 2.5 S. 314).
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2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur dann berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeführerin bestreitet die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nicht, weshalb sie für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich sind.
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Erwägung 3
 
3.1. Gemäss Art. 4 FZA in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Anhang I FZA hat ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei, der mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaates ein Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von mindestens einem Jahr eingegangen ist, Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren. Ein Arbeitnehmer, der mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaates ein Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von mehr als drei Monaten und weniger als einem Jahr eingegangen ist, erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer, die der Dauer des Arbeitsvertrags entspricht (Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Anhang I FZA).
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3.2. Der Bewilligungsanspruch steht jedoch unter dem Vorbehalt der Zulassung zum Arbeitsmarkt (Art. 4 FZA), d.h. der übergangsrechtlichen Beschränkungen im Sinne von Art. 10 FZA (vgl. BGE 140 II 460 E. 3.3). Für rumänische und bulgarische Staatsangehörige wird der Zugang zum Arbeitsmarkt zunächst mittels Höchstzahlen beschränkt (Art. 10 Abs. 1b FZA). Sodann sieht das Abkommen Beschränkungen in Form einer - von den Höchstzahlen grundsätzlich unabhängigen - Vorzugsregelung für inländische Arbeitnehmer vor: Nach Art. 10 Abs. 2b Unterabs. 1 FZA kann die Schweiz während eines Zeitraums von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Protokolls für Arbeitnehmer "die Kontrolle der Einhaltung des Vorrangs der in den regulären Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer und die Kontrolle der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen für die Staatsangehörigen der betreffenden Vertragspartei beibehalten". Das Abkommen ermächtigt die Schweiz, die Kontrollen nach Art. 10 Abs. 2b Unterabs. 2 FZA bis maximal 5 Jahre nach dem Inkrafttreten des Protokolls vom 28. Mai 2008 gegenüber rumänischen und bulgarischen Arbeitnehmern weiterhin anzuwenden. Art. 10 Abs. 4c FZA sieht sodann vor, dass die in den Absätzen 2b (sowie 1b und 3b) genannten Massnahmen bei ernsthaften Störungen auf dem Arbeitsmarkt oder bei Gefahr solcher Störungen bis 7 Jahre nach Inkrafttreten des Protokolls II angewendet werden dürfen. Mit Beschluss vom 28. Mai 2014 hat der Bundesrat die Übergangsfrist für Beschränkungen für unselbstständig Erwerbstätige aus Bulgarien und Rumänien bis zum 31. Mai 2016 verlängert (AS 2014 1893 f.). Für unselbstständig Erwerbstätige aus Rumänien und Bulgarien finden demnach - wie die Vorinstanz korrekt darlegt - weiterhin Beschränkungen hinsichtlich der Zulassung zum Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 10 FZA Anwendung, namentlich die Prüfung der "Einhaltung des Vorrangs der in den regulären Arbeitsmarkt integrierten [inländischen] Arbeitnehmer" im Sinne von Art. 10 Abs. 2b FZA (vgl. Urteil 2C_434/2014 vom 7. August 2014 E. 1.1).
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3.3. Art. 27 der Verordnung vom 22. Mai 2002 über die schrittweise Einführung des freien Personenverkehrs zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union und deren Mitgliedstaaten sowie unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation [VEP; SR 142.203] sieht für Angehörige aus Rumänien und Bulgarien Folgendes vor: "Bevor die zuständige kantonale Behörde einer oder einem Angehörigen von Bulgarien oder Rumänien eine Bewilligung für eine unselbstständige Erwerbstätigkeit erteilt, entscheidet die kantonale Arbeitsmarktbehörde mittels Verfügung darüber, ob die arbeitsmarktlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Bewilligung erfüllt sind. Das Verfahren richtet sich nach kantonalem Recht."
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3.4. Die Beschwerdeführerin rügt, es habe keine Prüfung der arbeitsmarktlichen Voraussetzungen gemäss Art. 27 VEP stattgefunden und es sei kein arbeitsmarktlicher Vorentscheid durch die kantonal zuständige Behörde ergangen. Dabei handle es sich um einen Mangel, welcher nicht geheilt werden könne, weshalb die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen sei.
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3.5. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, dass sich die zuständige Arbeitsmarktbehörde in Verletzung von Art. 27 VEP nicht zu den arbeitsmarktlichen Voraussetzungen geäussert habe, ist sie nicht zu hören.
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3.6. Weitere Bestimmungen, die einen Aufenthaltsanspruch der Beschwerdeführerin zu begründen vermöchten, sind nicht ersichtlich. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, kann sich die Beschwerdeführerin insbesondere nicht auf das in Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 13 Abs. 1 BV verankerte Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens berufen. Dieses Recht ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz 
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3.7. Die Beschwerdeführerin rügt schliesslich eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG (SR 142.20). Die Vorinstanz habe zu Unrecht das Vorliegen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls verneint.
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4. Dem Dargelegten zufolge ist die Beschwerde unbegründet und daher abzuweisen.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 22. Juni 2015
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Zünd
 
Die Gerichtsschreiberin: Petry
 
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