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Informationen zum Dokument  BGer 2E_2/2015  Materielle Begründung
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BGer 2E_2/2015 vom 22.05.2015
 
{T 0/2}
 
2E_2/2015
 
 
Urteil vom 22. Mai 2015
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Zünd, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
Gerichtsschreiber Feller.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________, Kläger,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,
 
gegen
 
Regierungsrat des Kantons Thurgau,
 
Beklagter.
 
Gegenstand
 
Verantwortlichkeit des Kantons für Mängel bei der Pflegekinderaufsicht,
 
Klage
 
 
Sachverhalt:
 
 
Erwägungen:
 
1. A.________ ist direkt mit Klage an das Bundesgericht gelangt.
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1.1. Art. 189 BV umschreibt die Zuständigkeit des Bundesgerichts. Absatz 1 bestimmt allgemein, welche Rechtsverletzungen vor Bundesgericht gerügt werden können. In welcher Form solche Streitfragen dem Bundesgericht zu unterbreiten sind, legt die Bundesverfassung im Einzelnen nicht fest, vielmehr wird dies geregelt durch das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110). Wenn Art. 189 Abs. 2 BV spezifisch vorsieht, dass das Bundesgericht Streitigkeiten zwischen Bund und Kantonen oder zwischen Kantonen beurteilt, legt dies ein Klageverfahren nahe. Gemäss Art. 189 Abs. 3 BV sodann kann ein Bundesgesetz weitere Zuständigkeiten des Bundesgerichts begründen.
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1.2. Für die Haftung des Kantons oder anderer Gemeinwesen für das Handeln ihrer Behördemitglieder und Mitarbeitenden und das dabei einzuschlagende Verfahren ist im Kanton Thurgau dessen Verantwortlichkeitsgesetz massgeblich. Gemäss § 12 Abs. 1 VerantwG entscheidet das Verwaltungsgericht über Ansprüche Dritter aus diesem Gesetz im Verfahren der verwaltungsrechtlichen Klage. Laut § 12 Abs. 2 VerantwG beurteilt das Bundesgericht Ansprüche Dritter gegen den Staat, die mit Verrichtungen des Regierungsrates oder des Obergerichtes begründet werden. Diese kantonalrechtliche Regelung genügt nicht, um eine vom Bundesrecht nicht vorgesehene Klage an das Bundesgericht einzuführen. Sie beruht noch auf der Rechtslage gemäss dem per 1. Januar 2007 durch das Bundesgerichtsgesetz abgelösten Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, OG; BS I 3) in Verbindung mit Art. 114bis der alten Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 in der Fassung vom 25. Oktober 1914 (aBV). Gemäss Art. 114bis Abs. 4 aBV waren Kantone mit Genehmigung der Bundesversammlung befugt, Administrativstreitigkeiten, die in ihren Bereich fallen, dem eidgenössischen Verwaltungsgericht zur Beurteilung zuzuweisen. Davon machten verschiedene Kantone namentlich im Bereich der Staatshaftung Gebrauch. Gemäss Art. 121 OG waren die in dieser Weise dem Bundesgericht zugewiesenen Streitigkeiten in dem für dieses als Beschwerde- oder einzige Instanz der Verwaltungsrechtspflege vorgesehenen Verfahren zu erledigen; derartige Streitigkeiten behandelte des Bundesgericht im Klageverfahren analog zu den Streitigkeiten gemäss Art. 116 Abs. 1 lit. c OG, der dem heutigen Art. 120 Abs. 1 lit. c BGG entsprach (vgl. Urteil 2A.350/2003 vom 5. August 2004 E. 1.2, publ. in: Pra 2005 Nr. 17 S. 116). In das Bundesgerichtsgesetz ist keine Art. 121 OG entsprechende Regelung aufgenommen worden. Auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgerichtsgesetzes am 1. Januar 2007 ist auch die - bereits in der Volksabstimmung vom 12. März 2000 angenommene - Modifikation der Bundesverfassung in Kraft getreten und damit Art. 190 Abs. 2 BV aufgehoben worden, welcher bis dahin die Regelung der kantonalen Überweisungskompetenz gemäss Art. 114bis Abs. 4 aBV weitergeführt hatte.
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2. 
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2.1. Der Kläger verweist indessen auf den Justizgewährleistungsanspruch bzw. die Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV und Art. 6 EMRK. Er macht geltend, im Fall, da der Kanton Thurgau gestützt auf § 12 Abs. 2 VerantwG die Zuständigkeit zur Beurteilung der Verantwortlichkeit seines Regierungsrats verneinen sollte, entstünde ein Kompetenzkonflikt, den das Bundesgericht gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. a BGG im Klageverfahren zu entscheiden habe. Parteien in Streitigkeiten gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. a und lit. b BGG können nur der Bund, Kantone oder interkantonale Organe sein, nicht jedoch Private ( BERNHARD WALDMANN, in: Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2. Auflage, Basel 2011, N. 22 zu Art. 120; Commentaire de la LTF, ALAIN WURZBURGER, in: Commentaire de la LTF, 2. Auflage, Bern 2014, N. 8 zu Art. 120). Abgesehen davon, dass bis jetzt kein (negativer) Kompetenzkonflikt aktuell ist, wäre die Klage gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. a BGG schon allein aus diesem Grunde unzulässig.
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2.2. Hinzuweisen ist hingegen auf Art. 191b BV, welcher in Konkretisierung von Art. 29a BV den Kantonen vorschreibt, namentlich für die Beurteilung von zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten richterliche Behörden zu bestellen. Ebenso wurde den Kantonen mit Art. 130 Abs. 3 BGG aufgetragen, innert zwei Jahren nach Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes Ausführungsbestimmungen über die Zuständigkeit, die Organisation und das Verfahren der Vorinstanzen im Sinne der Art. 86 Abs. 2 und 3 BGG zu erlassen, einschliesslich die Bestimmungen, die zur Gewährleistung der Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV erforderlich sind. Ein vom Kläger befürchtetes Rechtsschutzdefizit wäre im Kanton zu beheben.
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3. Auf die vorliegende Klage kann nicht eingetreten werden. Eine Verfahrenssistierung erübrigt sich angesichts der eindeutigen Unzuständigkeit des Bundesgerichts.
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4. Der Kläger hat um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersucht. Obwohl die Klage von vornherein unzulässig erschien, rechtfertigen es die Umstände, ausnahmsweise auf die Erhebung von Kosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz BGG); insofern wird das Gesuch gegenstandslos. Hingegen kann für das bundesgerichtliche Verfahren kein unentgeltlicher Rechtsanwalt beigegeben werden.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Auf die Klage wird nicht eingetreten.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird, soweit nicht gegenstandslos, abgewiesen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 22. Mai 2015
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Zünd
 
Der Gerichtsschreiber: Feller
 
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