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Informationen zum Dokument  BGer 2C_727/2014  Materielle Begründung
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BGer 2C_727/2014 vom 18.05.2015
 
{T 0/2}
 
2C_727/2014
 
 
Urteil vom 18. Mai 2015
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Zünd, Präsident,
 
Bundesrichter Donzallaz, Stadelmann,
 
Gerichtsschreiberin Genner.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Migrationsamt des Kantons Zürich,
 
Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich,
 
Gegenstand
 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 2. Kammer, vom 9. Juli 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Das angefochtene Urteil unterliegt als letztinstanzlicher Endentscheid eines kantonalen Gerichts auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts grundsätzlich der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (vgl. Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 90 BGG). Gegen Entscheide über den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig, weil grundsätzlich ein Anspruch auf das Fortbestehen dieser Bewilligung gegeben ist (BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4).
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1.2. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
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Erwägung 2
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und Art. 96 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 139 II 404 E. S. 415). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt auch hier eine qualifizierte Rüge- und Substanziierungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 139 I 229 E. 2.2 S. 232; 136 II 304 E. 2.5 S. 314).
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2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinn von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 140 III 115 E. 2). Die beschwerdeführende Partei kann die Feststellung des Sachverhalts unter den gleichen Voraussetzungen beanstanden, wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Eine entsprechende Rüge ist substanziiert vorzubringen; auf rein appellatorische Kritik an der Sachverhaltsfeststellung geht das Bundesgericht nicht ein (BGE 139 II 404 E. 10.1 S. 445 f.).
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2.3. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).
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2.3.1. Tatsachen oder Beweismittel, welche sich auf das vorinstanzliche Prozessthema beziehen, sich jedoch erst nach dem angefochtenen Entscheid ereignet haben oder entstanden sind, können von vornherein nicht durch das angefochtene Urteil veranlasst worden sein (vgl. Urteil 2C_833/2011 vom 6. Juni 2012 E. 1.2 mit Hinweis). Diese sogenannten "echten Noven" sind im bundesgerichtlichen Verfahren in jedem Fall unzulässig (BGE 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123; 133 IV 342 E. 2.1 S. 344).
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2.3.2. Art. 99 Abs. 1 BGG zielt auf Tatsachen ab, die erst durch das angefochtene Urteil rechtserheblich werden. So kann sich die beschwerdeführende Partei vor Bundesgericht auf Tatsachen stützen, die nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens gebildet hatten, wenn die Vorinstanz ein neues rechtliches Argument anführt, mit dem die Partei zuvor nicht konfrontiert worden war (vgl. Urteil 5A_115/2012 vom 20. April 2012 E. 4.4.2). Unzulässig sind hingegen neue Tatsachen, die bereits der Vorinstanz hätten vorgelegt werden können (BGE 136 III 123 E. 4.4.3 S. 129).
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Erwägung 3
 
3.1. Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG (SR 142.20) kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn eine ausländische Person oder eine Person, für die sie zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist. Die Niederlassungsbewilligung von Ausländern, die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, kann nicht mehr gestützt auf Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG widerrufen werden (Art. 63 Abs. 2 AuG). Massgeblich ist das Datum des erstinstanzlichen Widerrufs der Bewilligung, hier der 30. Juli 2013. Nachdem sich der Beschwerdeführer seit der Heirat am 22. Juni 1999 ordnungsgemäss im Sinn von Art. 63 Abs. 2 AuG in der Schweiz aufgehalten hatte (vgl. BGE 137 II 10 E. 4.2 S. 12), war die Mindestaufenthaltsdauer im Zeitpunkt des Widerrufs am 30. Juli 2013 noch nicht abgelaufen.
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3.2. Praxisgemäss setzt Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG die konkrete Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Abhängigkeit von der Sozialhilfe voraus. Blosse finanzielle Bedenken genügen nicht. Ausgehend von den bisherigen und gegenwärtigen Verhältnissen ist die künftige finanzielle Entwicklung auf längere Sicht abzuschätzen. Ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung soll in Betracht fallen, wenn eine Person bereits beträchtliche Leistungen bezogen hat und nicht damit gerechnet werden kann, dass sie in Zukunft für ihren Lebensunterhalt sorgen wird (Urteile 2C_255/2014 vom 9. Oktober 2014 E. 2.3.2; 2C_268/2011 vom 22. Juli 2011 E. 6.2.3). Indessen trifft es nicht zu, dass Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG ein Verschulden voraussetzt, wie der Beschwerdeführer vorträgt. Dieser Aspekt ist lediglich bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit zu berücksichtigen, nicht aber bei der Frage, ob der Widerrufsgrund erfüllt ist (Urteil 2C_1058/2013 vom 11. September 2014 E. 2.4).
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3.3. Der Beschwerdeführer hat im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils während über zehn Jahren quasi ununterbrochen Sozialhilfe bezogen, wobei die Gesamtsumme (inklusive übernommene Krankenversicherungsprämien) Fr. 347'934.80 betrug. Das Kriterium der Erheblichkeit ist damit ohne weiteres erfüllt. Was die Dauerhaftigkeit betrifft, ist diese retrospektiv ebenfalls gegeben. Es bleibt zu prüfen, ob auch für die Zukunft davon ausgegangen werden muss, dass der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Vorinstanz hat diese Annahme zu Recht bestätigt. Obwohl der Beschwerdeführer zahlreiche Kurse und Praktika im sekundären Arbeitsmarkt absolviert hat, gelang es ihm nicht, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Die Aussichten diesbezüglich waren im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils nicht besser als im Zeitpunkt der Verwarnung, obwohl seither mehr als drei Jahre verstrichen waren. Die Dauerhaftigkeit des Sozialhilfebezugs ist somit auch in prospektiver Hinsicht zu bejahen. Daran ändert der eingereichte Teilzeitarbeitsvertrag vom 17. September 2014 nichts, da es sich dabei um ein echtes Novum handelt, welches nicht berücksichtigt werden darf (vgl. E. 2.3.1). Das Gleiche gilt für das Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe am vergangenen Mittwoch (vor der Beschwerdeeinreichung) einen äusserst vielversprechenden Probearbeitstag im Restaurant D.________ absolviert.
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Erwägung 4
 
4.1. Der Beschwerdeführer hielt sich im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils rund 15 Jahre in der Schweiz auf. Aufgrund dieser langen Anwesenheitsdauer stellt der Widerruf der Bewilligung eine gewisse Härte dar, zumal der Beschwerdeführer zu seinen in Brasilien lebenden Verwandten anscheinend kaum noch Kontakt hat.
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4.2. Die Sozialhilfeabhängigkeit war nicht unverschuldet, wie der Beschwerdeführer behauptet. Zwar trifft es zu, dass er vom 1. Januar 2008 bis 9. Januar 2010 wegen einer depressiven Erkrankung mit massiver Gewichtszunahme (Adipositas per magna) und zwei Magenoperationen zu 100 % arbeitsunfähig war. Danach war er - von zwei kurzen Unterbrüchen abgesehen - wieder arbeitsfähig; die Verwarnung wurde erst eineinviertel Jahre später ausgesprochen. Auch aus einer geburtsbedingten Beeinträchtigung der linken Schulter kann der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten ableiten. Dieses Gebrechen hindert ihn lediglich daran, Überkopffunktionen auszuführen (vgl. Rekursentscheid der Sicherheitsdirektion vom 13. März 2012 betreffend Verwarnung). Den mit dieser Einschränkung verbundenen, nach Angabe des Beschwerdeführers chronischen Schmerzen kann bei der Wahl der Tätigkeit und des Pensums Rechnung getragen werden; sie führen jedoch nicht zur Erwerbsunfähigkeit: Aus den Akten geht hervor, dass ein invalidenversicherungsrechtlicher Anspruch rechtskräftig abgewiesen worden ist.
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4.3. Der Beschwerdeführer ist geschieden und hat keine Kinder, die er in der Schweiz zurücklassen müsste. Auch sonst ist keine starke Verwurzelung erkennbar, welche eine Rückkehr nach Brasilien unzumutbar erscheinen liesse. Das Vorbringen, der Beschwerdeführer und seine ehemalige Gattin würden seit vier Jahren wieder eine Beziehung führen und eine baldige Hochzeit planen, ist neu. In Bezug auf die vor vier Jahren erneut eingegangene Partnerschaft ist das Vorbringen als unechtes Novum zu qualifizieren, welches längst hätte vorgebracht werden können und daher unzulässig ist (vgl. E. 2.3.1). In Bezug auf die geplante Hochzeit kann offen bleiben, ob ein echtes oder ein unechtes Novum vorliegt; das Vorbringen ist in jedem Fall unbeachtlich (vgl. E. 2.3.1 und 2.3.2).
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4.4. Der Widerruf erweist sich auch hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs als verhältnismässig. Nachdem der Beschwerdeführer während sieben Jahren fast ununterbrochen Sozialhilfe bezogen hatte, wurde er am 31. März 2011 verwarnt. Erst nach weiteren zwei Jahren des Leistungsbezugs leitete das Migrationsamt das Widerrufsverfahren ein. Bei diesem schonenden Vorgehen kann von einem Verstoss gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht die Rede sein. Dies umso weniger, als das öffentliche Interesse an der Beendigung der Unterstützungsleistungen entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers erheblich ist.
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4.5. Schliesslich ist auch die Rüge, es handle sich um einen Grenzfall, weil er - der Beschwerdeführer - die Frist nach Art. 63 Abs. 2 AuG "um Haaresbreite" nicht erfülle, nicht stichhaltig. Es ist unvermeidlich, dass eine ausländische Person von Art. 63 Abs. 2 AuG nur profitieren kann, wenn die Aufenthaltsdauer erfüllt ist. Ist dies - wie hier - nicht der Fall, liegt keine "krasse Ungleichbehandlung" vor, wie der Beschwerdeführer moniert. Wie dargelegt, hat das Migrationsamt lange zugewartet, bis es überhaupt eine Verwarnung aussprach, und danach dem Beschwerdeführer genügend Zeit gelassen, seine wirtschaftliche Situation zu verbessern. Die relativ lange Aufenthaltsdauer wurde bereits zugunsten des Beschwerdeführers gewichtet (vgl. E. 4.1).
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4.6. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung erweist sich somit als verhältnismässig.
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Erwägung 5
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 18. Mai 2015
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Zünd
 
Die Gerichtsschreiberin: Genner
 
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