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Informationen zum Dokument  BGer 9C_883/2014  Materielle Begründung
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BGer 9C_883/2014 vom 27.03.2015
 
{T 0/2}
 
9C_883/2014
 
 
Urteil vom 27. März 2015
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
 
Gerichtsschreiber Schmutz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.A.________, handelnd durch
 
B.A.________ und C.A.________,
 
und diese vertreten durch
 
Rechtsanwältin Claudia Starkl,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (medizinische Massnahme),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 31. Oktober 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.A.________, geboren 2008, wurde am 14. Mai 2010 wegen Schielens und Weitsichtigkeit bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons Luzern klärte die medizinische Situation ab. Sie sprach dem Versicherten gemäss Anhang der Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV; SR 831.232.21) medizinische Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 425 (angeborene Refraktionsanomalien) und 427 (Strabismus und Mikrostrabismus concomitans monolateralis) zu (Mitteilung vom 4. August 2010). Am 5. Februar 2013 ersuchten die Eltern um Übernahme der Kosten eines Visualtrainings beim Sehzentrum B.________. Nach Einholen eines Berichts des Zentrums vom 26. März 2013 und Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob die IV-Stelle die Kostengutsprache vom 4. August 2010 auf den 1. November 2013 auf (Verfügung vom 8. Oktober 2013). Sie begründete es damit, die Anspruchsvoraussetzungen gemäss Anhang GgV seien nicht mehr ausgewiesen.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag, die Kostengutsprache sei bis zum 31. Juli 2019 zu gewähren, wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 31. Oktober 2014 ab.
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C. Gesetzlich vertreten durch seine Eltern führt A.A.________ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Er beantragt, die IV-Stelle habe ihm bis am 31. Juli 2019 Kostengutsprache für die medizinische Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 425 und 427 GgV zu gewähren.
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Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Erwägungen:
 
1. Nach Art. 13 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten zwanzigsten Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG) notwendigen medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden. Er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2).
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Erwägung 2
 
2.1. Die Geburtsgebrechen sind in einer Liste im Anhang der GgV aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 GgV). Wird die Behandlung eines Geburtsgebrechens nur übernommen, weil eine im Anhang festgelegte Therapie notwendig ist, so beginnt der Anspruch mit der Einleitung dieser Massnahme; er umfasst alle medizinischen Massnahmen, die in der Folge zur Behandlung des Geburtsgebrechens notwendig sind (Art. 2 Abs. 2 GgV). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV).
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2.2. Im Anhang zur Liste als Geburtsgebrechen Ziff. 425 bezeichnet sind angeborene Refraktionsanomalien, mit Visusverminderung auf 0,2 oder weniger an einem Auge (mit Korrektur) oder Visusverminderung an beiden Augen auf 0,4 oder weniger (mit Korrektur). Beim Geburtsgebrechen Ziff. 427 handelt es sich um Strabismus und Mikrostrabismus concomitans monolateralis, wenn eine Amblyopie von 0,2 oder weniger (mit Korrektur) vorliegt.
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2.3. Gemäss Rz. 425.2 des Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME; hier anwendbar in der Fassung vom 1. März 2012) ist die Behandlung prinzipiell bis zum vollendeten elften Lebensjahr zu übernehmen. Lässt sich der Visus bis zu diesem Zeitpunkt nicht oder nur unwesentlich verbessern, muss von einer Therapieresistenz ausgegangen werden. In diesen Fällen kann die Invalidenversicherung Brillen und ophthalmologische Kontrollen auch nach dem vollendeten elften Lebensjahr übernehmen, sofern die Visuskriterien zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens weiterhin erfüllt sind, jedoch maximal bis zum vollendeten zwanzigsten Altersjahr. Werden medizinische Massnahmen über das vollendete elfte Lebensjahr beantragt und sind die Kriterien zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens nicht mehr erfüllt, so ist die Verlängerung zu begründen. Im Zweifelsfall kann an das Bundesamt für Sozialversicherungen gelangt werden (Rz. 425.3 KSME).
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3. Der Beschwerdeführer rügt, der Entscheid der Vorinstanz sei offensichtlich unhaltbar und willkürlich. Entgegen den Ausführungen des Gerichts vermöge die Tatsache, dass die Visuswerte zum Verfügungszeitpunkt über den in den Ziff. 425 und 427 des Anhangs der GgV geregelten Werten gelegen hätten, am Anspruch auf medizinische Massnahmen nichts zu ändern. Diese seien, falls eine Behandlungsbedürftigkeit ausgewiesen sei, prinzipiell bis zum vollendeten elften Lebensjahr zu übernehmen. In Rz. 425.2 KSME werde explizit eine 2-phasige Beurteilung vorgenommen. Für die erste Phase bis zur Vollendung des elften Altersjahres werde von einem voraussetzungslosen Behandlungsanspruch ausgegangen. Anders könne das Wort "prinzipiell" nicht verstanden werden. Der Beschwerdeführer sei im Zeitpunkt der Verfügung fünf Jahre alt gewesen und habe weiterhin medizinischer Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens bedurft. Deshalb habe die Beschwerdegegnerin auch für die Therapiekosten im Sehzentrum B.________ aufzukommen. Denn die dortigen funktional-optometrischen Übungen würden der Esophorie (ein Auge weicht von der Sehrichtung nach innen ab) entgegenwirken und die binokularen Verknüpfungen fördern. Damit könne die Sehleistung weiter gesteigert werden. Auch die Vorinstanz sei im Entscheid S 06 61 vom 26. Februar 2007 zum Schluss gekommen, falls eine weitere Bedürftigkeit ausgewiesen sei, sei die Behandlung prinzipiell bis zum vollendeten elften Lebensjahr zu übernehmen.
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4. Ob und inwieweit Anspruch auf Behandlung eines Geburtsgebrechens besteht, ist eine frei zu prüfende Rechtsfrage. Der vorinstanzliche Schluss, die Visuskriterien müssten bis zum Abschluss des elften Altersjahrs ununterbrochen erfüllt sein, findet in Gesetz, Verordnung und Verwaltungspraxis keine Grundlage, weil es in dieser Lebensphase wesentlich auch um die Erhaltung des erzielten Behandlungserfolges geht. Mit Vollendung des elften Lebensjahres ist erstmals über den Erfolg oder Nichterfolg der Behandlung der fraglichen Geburtsgebrechen Rechenschaft abzugeben. Sind dannzumal die Visuskriterien wesentlich verbessert und nicht mehr erfüllt, so bedarf es einer  begründeten Verlängerung (vgl. E. 2.3). Bei einer Visusverbesserung vor Vollendung des elften Altersjahrs besteht - e contrario - ein unbegründeter Behandlungsanspruch zulasten der Invalidenversicherung. Wie aus dem Bericht der behandelnden Ärztin Dr. med. C.________, Fachärztin für Augenheilkunde FMH, vom 14. August 2013 nachvollziehbar hervorgeht, geht es beim Beschwerdeführer nicht nur um die Verbesserung der Sehkraft, sondern auch um das "Halten" der erreichten Verbesserung. Insbesondere leuchtet ein, dass bei Kindern die Sehentwicklung erst im Alter von zehn bis zwölf Jahren abgeschlossen ist und die Behandlung bis dann benötigt wird, damit die erreichte Sehkraft nicht wieder verloren geht. Die von der Beschwerdegegnerin in der Verfügung vertretene Auffassung, es könne ein neues Gesuch eingereicht werden, wenn sich das Sehvermögen verschlechtere oder eine Schieloperation notwendig werden sollte, widerspricht den zitierten Verwaltungsweisungen. Indem die Vorinstanz sie schützte, hat sie Bundesrecht verletzt. Damit bleibt es bis auf Weiteres bei der Leistungspflicht gemäss Mitteilung vom 4. August 2010 über den 1. November 2013 hinaus.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern, 3. Abteilung, vom 31. Oktober 2014 und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 8. Oktober 2013 werden aufgehoben.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorausgegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, zurückgewiesen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 27. März 2015
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Der Gerichtsschreiber: Schmutz
 
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