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Informationen zum Dokument  BGer 5A_51/2015  Materielle Begründung
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BGer 5A_51/2015 vom 25.03.2015
 
{T 0/2}
 
5A_51/2015
 
 
Urteil vom 25. März 2015
 
 
II. zivilrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
 
Bundesrichter Schöbi, Bovey,
 
Gerichtsschreiber Möckli.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jost Schumacher,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
B.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Sandor Horvath,
 
Beschwerdegegnerin,
 
C.A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Paul von Moos,
 
D.A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Paul von Moos.
 
Gegenstand
 
Anerkennung und Vollstreckung eines ungarischen Urteils gemäss ESÜ / Rückgabe der Kinder,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern, 2. Abteilung, vom 29. Dezember 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.A.________ (geb. 1971) und B.________ (geb. 1976) heirateten am 10. April 1999 in Budapest. Sie haben drei gemeinsame Kinder, den Sohn E.A.________ (geb. 1999) sowie die Töchter C.A.________ (geb. 2001) und D.A.________ (geb. 2004). Alle Personen haben ausschliesslich die ungarische Staatsangehörigkeit.
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B. Ende August bzw. Anfang September 2013, vermutlich am 4. September 2013, verbrachte die Mutter die Töchter C.A.________ und D.A.________ in die Schweiz und schulte sie in V.________ ein, wo sie bis heute zusammen mit ihrem damaligen Lebenspartner und heutigen Ehemann F.________ (Heirat am 22. August 2014) sowie der Tochter G.________ aus der neuen Beziehung (geb. 2012) wohnen. Der Sohn E.A.________ wohnt nach wie vor beim Vater in U.________.
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C. Gegen diesen Entscheid hat A.A.________ am 20. Januar 2015 eine Beschwerde eingereicht, zusammengefasst mit den Begehren um dessen Aufhebung und Gutheissung des Gesuchs vom 14. Mai 2014 sowie Rückführung der Töchter C.A.________ und D.A.________ nach Ungarn. Mit Schreiben vom 6. Februar 2015 verwies der Kindesvertreter auf seine Ausführungen vor Kantonsgericht. Mit Vernehmlassung vom 10. Februar 2015 schloss das Kantonsgericht auf Abweisung der Beschwerde. In ihrer Vernehmlassung vom 6. März 2015 verlangte die Beschwerdegegnerin, die Beschwerde sei abzuweisen und das Verfahren sei bis zum Vorliegen des ungarischen Sorgerechts- bzw. Obhutsentscheides zu sistieren.
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Erwägungen:
 
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über die auf das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts vom 20. Mai 1980 (Europäisches Sorgerechtsübereinkommen, ESÜ, SR 0.211.230.01) gestützte Anerkennung und Vollstreckung eines ungarischen Sorgerechtsentscheides. Diesbezüglich steht die Beschwerde in Zivilsachen offen (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 1 und Art. 75 Abs. 1 BGG). Für das Verfahren kommen ergänzend die Vorschriften des Bundesgesetzes über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen (BG-KKE, SR 211.222.32) zur Anwendung (vgl. Art. 1 und 14 BG-KKE). Mit der Beschwerde in Zivilsachen kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG) und von Völkerrecht (Art. 95 lit. b BGG) gerügt werden, wozu als Staatsvertrag auch das ESÜ gehört.
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2. Das Kantonsgericht ist von der Vollstreckbarkeit des Berufungsurteils im Sinn von Art. 7 ESÜ und von der Einhaltung der sechsmonatigen Frist des Antrages auf Wiederherstellung des Sorgerechts gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. b ESÜ ausgegangen. Es hat sodann einen Verstoss gegen den Ordre public gemäss Art. 27 Abs. 1 und Abs. 2 lit. b IPRG verneint. Zwar seien die Töchter vom Gericht nicht persönlich angehört worden, wohl aber im Rahmen der den ungarischen Urteilen zugrunde liegenden beiden psychologischen Gutachten. Nebst der Anhörung seien mit den Kindern auch verschiedene Tests gemacht und somit ihr Wille ausführlich erforscht worden. Die delegierte Anhörung würde auch nach schweizerischem Recht genügen.
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3. Inhaltlich geht es um die auf das ESÜ gestützte Anerkennung und Vollstreckung der Sorgerechtsentscheidung des Berufungsgerichts Székesfehérvár vom 17. Oktober 2013.
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4. Vorweg zur Behandlung der materiellen Versagensgründe sind die formellen Einwände der Beschwerdegegnerin gegen die Anerkennung und Vollstreckung des ungarischen Urteils zu prüfen. Diese können in der Vernehmlassung - unter Vorbehalt der Bestimmungen des BGG - unbeschränkt vorgetragen werden, weil die Beschwerdegegnerin keine Veranlassung und Möglichkeit hatte, das für sie günstige kantonsgerichtliche Urteil anzufechten.
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4.1. Die Beschwerdegegnerin macht geltend, die Ausreise aus Ungarn sei besprochen gewesen und habe auch dem Willen der Kinder entsprochen.
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4.2. Die Beschwerdegegnerin bringt weiter vor, sie habe im Zeitpunkt der Ausreise nicht gewusst, dass der Beschwerdeführer gegen das erstinstanzliche ungarische Urteil fristgerecht Berufung eingereicht habe und dieses deshalb nicht rechtskräftig geworden sei. Sie habe also nach Treu und Glauben davon ausgehen dürfen, dass das Urteil des Bezirksgerichts U.________ in Rechtskraft erwachsen sei und es könne ihr kein vorsätzliches Handeln angelastet werden.
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4.3. Die Beschwerdegegnerin macht weiter geltend, dass das Berufungsurteil bei der ungarischen Kuria angefochten worden sei. Es wäre möglich, dass die Kuria das Berufungsurteil kassieren und es dann zu einem unerwünschten "double return" kommen würde.
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4.4. Die Beschwerdegegnerin sieht weiter den Ordre public verletzt, weil ihre Beweisanträge vor dem Gerichtshof Székesfehérvár und mithin auch ihr Antrag auf Anhörung der Kinder abgewiesen worden seien. Entgegen der Behauptung der Beschwerdegegnerin wurde aber in den psychologischen Gutachten keineswegs nur die Erziehungsfähigkeit der Eltern abgeklärt. Vielmehr wurden auch die Kinder angehört; sodann machten die Gutachter zur Eruierung ihres Zugehörigkeitsgefühls diverse Tests und liessen sie Zeichnungen anfertigen. Eine Ordre public-Widrigkeit kann deshalb nicht vorliegen, zumal auch der schweizerische Gesetzgeber die Delegation der Anhörung erlaubt (Art. 298 Abs. 1 ZPO) und nach der schweizerischen Rechtsprechung ein im Rahmen eines Gutachtens angehörtes Kind nicht zwingend noch einmal durch das Gericht angehört werden muss (BGE 133 III 553 E. 4 S. 555; zuletzt Urteil 5A_411/2014 vom 3. Februar 2015 E. 2.2).
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4.5. Nach dem Gesagten kommt auch das Bundesgericht zum Schluss, dass das ungarische Berufungsurteil anerkannt und für vollstreckbar erklärt werden kann.
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5. Zu prüfen ist im Folgenden die offensichtliche Unvereinbarkeit der Wirkungen der ungarischen Entscheidung mit den Grundwerten des schweizerischen Familien- und Kindschaftsrechts, welche gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ einen Versagensgrund für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung der Entscheidung bildet.
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5.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass das Kantonsgericht nur formal den Ausdruck "offensichtliche Unvereinbarkeit" gebraucht, von der Sache her aber das Kindeswohl frei überprüft, mithin das Kriterium der Offensichtlichkeit fallen gelassen und darüber hinaus inhaltlich den Versagensgrund von lit. b auf denjenigen von lit. a übertragen habe; beides sei willkürlich. Überdies gehe es nicht an, das Verfahren zu verzögern, um sich dann auf den Zeitlauf zu berufen. Sodann stehe dem Kind nach der Rechtsprechung kein freies Wahlrecht zu, wo und bei wem es leben möchte. Im Anschluss an seine unhaltbar offene Auslegung von Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ habe das Kantonsgericht gar nicht erst eine Prüfung vorgenommen, ob die Rückkehr der Kinder mit den schweizerischen Grundwerten offensichtlich unvereinbar wäre, wodurch es erneut willkürlich gehandelt habe. Insgesamt habe das Kantonsgericht in einem eindeutigen Fall die vertretbare Lösung des ungarischen Berufungsgerichts durch einen eigenen Entscheid ersetzt.
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5.2. Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ weist eine gewisse Analogie zu Art. 20 HKÜ auf. Während dort die Menschenrechte und Grundfreiheiten den Prüfungsmassstab bilden, sind es hier die Grundwerte des Familien- und Kindschaftsrechts des Vollstreckungsstaates, mit welchen die Wirkungen des zu vollstreckenden Entscheides offensichtlich unvereinbar sein müssen. Dies ist beispielsweise gegeben, wenn bei der Sorgerechtsentscheidung nicht vorrangig nach dem Kindeswohl, sondern automatisch zulasten des Ehebrechers entschieden wurde, wenn Sorgerechte an Personen zugeteilt wurden, welche nach den Grundwerten des ersuchten Staates nicht zustehen können, wenn ein Elternteil aufgrund des Geschlechts bevorzugt wurde, wenn uneheliche gegenüber ehelichen Kindern benachteiligt oder wenn sie aufgrund der Religion oder Staatszugehörigkeit diskriminiert wurden ( PIRRUNG, a.a.O., E 58).
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5.3. Nach den zutreffenden Vorbringen des Beschwerdeführers hat das Kantonsgericht den Norminhalt von Art. 10 Abs. 1 lit. b ESÜ in den Versagensgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ umgegossen (vgl. zusammenfassende Darstellung der kantonsgerichtlichen Überlegungen in E. 2).
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5.4. Aus dem vorstehend Dargelegten ergibt sich, dass die kantonsgerichtlich vorgenommene Auslegung von Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ nicht geschützt werden kann. Nicht nur überdehnt sie den Wortlaut der betreffenden Bestimmung des Staatsvertrages, sondern sie verkehrt deren Sinn und Zweck ins Gegenteil, indem im Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung eine eigentliche materielle Neubeurteilung vorgenommen und damit von der Sache her der ungarische Entscheid durch eine schweizerische Entscheidung ersetzt statt dessen Anerkenn- und Vollstreckbarkeit geprüft wird.
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6. Im Zusammenhang mit der kantonsgerichtlich implizit verweigerten Prüfung der offensichtlichen Unvereinbarkeit mit den Grundwerten des schweizerischen Familien- und Kindschaftsrechts im Sinn von Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ stellt sich die Frage, ob die Sache diesbezüglich an das Kantonsgericht zurückzuweisen ist.
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6.1. Aus den Anhörungen der Kinder ergibt sich, dass diese sich in V.________ gut eingelebt und integriert haben, insbesondere auch schulisch. Sie haben neue Freundinnen gewonnen und unternehmen mit diesen die üblichen Dinge. Sie werden von den Lehrerinnen als aufgeweckt und begabt geschildert, insbesondere auch in sprachlicher Hinsicht. Indes ist offensichtlich immer noch das Ungarische die ihnen am nächsten liegende Sprache. Bei den Anhörungen, die von einer Dolmetscherin begleitet waren, hat D.A.________ je nach Situation deutsch oder ungarisch gesprochen und es wurden zum Teil auch Fragen übersetzt (amtl. Bel. 33); C.A.________ hat zu einem grossen Teil ungarisch gesprochen und es wurden zum Teil auch Fragen übersetzt (amtl. Bel. 34).
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6.2. Es bleibt zu prüfen, ob die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung des Urteils angesichts des von den Mädchen geäusserten Wunsches auf Verbleiben in der Schweiz zu einer mit den hiesigen familienrechtlichen Grundwerten offensichtlich unvereinbaren Situation führen würde.
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7. Zusammenfassend ergibt sich, dass der Versagensgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ zu verneinen ist, was zu einer auf Art. 7 ESÜ gestützten Anerkennung und Vollstreckbarerklärung in Bezug auf das Urteil des Gerichtshofes Székesfehérvár vom 17. Oktober 2013 führt.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. In dahingehender Gutheissung der Beschwerde wird das Teilurteil des Gerichtshofes Székesfehérvár vom 17. Oktober 2013 in der Schweiz anerkannt und für vollstreckbar erklärt.
 
2. Für die Organisation und den Vollzug der Rückführung von C.A.________ und D.A.________ wird die Sache an das Kantonsgericht Luzern zurückgewiesen.
 
3. Es werden keine Kosten erhoben.
 
4. Für das bundesgerichtliche Verfahren werden die Rechtsanwälte Jost Schumacher und Sandor Horvath mit je Fr. 3'000.-- und Rechtsanwalt Paul von Moos mit Fr. 500.-- aus der Gerichtskasse entschädigt.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, C.A.________, D.A.________, dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung, und dem Bundesamt für Justiz Zentralbehörde für Kindesentführungen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 25. März 2015
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: von Werdt
 
Der Gerichtsschreiber: Möckli
 
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