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Informationen zum Dokument  BGer 9C_692/2014  Materielle Begründung
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BGer 9C_692/2014 vom 22.01.2015
 
9C_692/2014
 
{T 0/2}
 
 
Urteil vom 22. Januar 2015
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiber Williner.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Advokat Nicolai Fullin,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 14. August 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1956 geborene A.________ bezog seit 1. September 2006 bei einem Invaliditätsgrad von 75 % eine ganze Rente der Invalidenversicherung (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 18. April 2007). Anlässlich eines im November 2011 eingeleiteten Revisionsverfahrens holte die IV-Stelle ein polydisziplinäres Gutachten bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) ein (erstattet am 11. Februar 2013). Gestützt hierauf sowie auf die Stellungnahmen ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 20. und 27. Februar 2013 hob die Verwaltung die Rente wiedererwägungsweise per Ende Oktober 2013 mit der Begründung auf, die mit Verfügung vom 18. April 2007 erfolgte Rentenzusprache sei zweifellos unrichtig gewesen (Verfügung vom 24. Oktober 2013).
1
B. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 14. August 2014 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag auf Weiterausrichtung der ganzen Invalidenrente.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
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1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
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1.3. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit bzw. deren Veränderung in einem bestimmten Zeitraum handelt es sich grundsätzlich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Gleiches gilt für die konkrete Beweiswürdigung (Urteil 9C_204/2009 vom 6. Juli 2009 E. 4.1, nicht publ. in BGE 135 V 254, aber in: SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164). Dagegen sind die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG (SR 830.1) Rechtsfragen.
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2. Die IV-Stelle kann nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG auf formell rechtskräftige Verfügungen zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Unter diesen Voraussetzungen kann die Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern, wenn die Revisionserfordernisse des Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Die Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Tatsachenfeststellung im Sinne der Sachverhaltswürdigung (Ulrich Meyer, Die Abänderung formell rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen in der Sozialversicherung, in: Ausgewählte Schriften, 2013, S. 117 ff., 130 f.). Das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprechung aufgrund falsch oder unzutreffend verstandener Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden (BGE 140 V 77 E. 3.1 S. 79). Zweifellos unrichtig ist die Verfügung auch, wenn ihr ein unhaltbarer Sachverhalt zugrunde gelegt wurde, insbesondere, wenn eine klare Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes zu einem unvollständigen Sachverhalt führte (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG; Urteil 8C_736/2014 vom 29. November 2014 E. 2.1). Anders verhält es sich, wenn der Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt, deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die Beurteilung einzelner Schritte bei der Feststellung solcher Anspruchsvoraussetzungen (Invaliditätsbemessung, Arbeitsunfähigkeitsschätzung, Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung darbot, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus. Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran möglich ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein einziger Schluss - derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (BGE 138 V 324 E. 3.3 S. 328; Urteil 9C_125/2013 vom 12. Februar 2014 E. 4.1 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 140 V 15, aber in: SVR 2014 IV Nr. 10 S. 39).
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3. Zu prüfen ist die Zulässigkeit der wiedererwägungsweisen Aufhebung der ab 1. September 2006 zugesprochenen ganzen Invalidenrente. Streitig ist dabei die zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung vom 18. April 2007.
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3.1. Das kantonale Gericht begründete die zweifellose Unrichtigkeit dieser Verfügung im Wesentlichen mit einer Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes. So sei der Bericht der Klinik B.________ vom 23. September 2005, auf den sich die IV-Stelle bei der Rentenverfügung vom 18. April 2007 gestützt habe, in keiner Weise geeignet, die für die Invaliditätsbemessung notwendige dauernde Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdeführerin zu belegen. Im Rahmen der Würdigung der aktuellen medizinischen Akten erwog die Vorinstanz weiter, es könne auf das MEDAS-Gutachten vom 11. Februar 2013 und die darin attestierte volle Arbeitsfähigkeit in leidensangepasster Tätigkeit abgestellt werden. Zudem seien den seither ergangenen Berichten keine wesentlichen neuen Befunde zu entnehmen, welche auf eine relevante Verschlechterung des Gesundheitszustands seit der Begutachtung bei der MEDAS schliessen liessen.
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3.2. Die Rügen der Beschwerdeführerin vermögen an der Richtigkeit der vorinstanzlichen Feststellungen nichts zu ändern. So wird in der Beschwerde nicht dargelegt, inwiefern der kantonale Entscheid Bundesrecht verletzt. Im Wesentlichen erschöpfen sich die Einwände der Beschwerdeführerin im Argument, die auf die medizinischen Berichte von Klinik B.________ und RAD gestützte ursprüngliche Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit stelle einen Ermessensentscheid dar, welcher nicht als zweifellos unrichtig zu betrachten sei. Damit verkennt die Beschwerdeführerin, dass die der Wiedererwägung zugrunde liegende zweifellose Unrichtigkeit aus der unvollständigen Sachverhaltsabklärung resultiert. So attestierte der Chefarzt der Klinik B.________, Dr. C.________, im Bericht vom 23. September 2005 zwar eine Arbeitsunfähigkeit von 75 %, dies jedoch zeitlich begrenzt vom 20. September bis zum 30. November 2005. Andere Einschätzungen der Arbeitsfähigkeit lagen nicht vor. Insbesondere erschöpfen sich die diesbezüglichen hausärztlichen Angaben von med. pract. D.________ in den Berichten vom 19. Oktober 2005 und vom 24. September 2006 in blossen Verweisen auf die genannte Einschätzung von Dr. C.________.
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3.3. Wie das kantonale Gericht zu Recht feststellte, fehlte es damit im Zeitpunkt der Verfügung vom 18. April 2007 an einer aussagekräftigen ärztlichen Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit für den Zeitraum ab Anfang Dezember 2005. Eine solche vermag auch der RAD-Bericht vom 26. Oktober 2006 nicht zu ersetzen. Interne Berichte des RAD haben eine andere Funktion als medizinische Gutachten (Art. 44 ATSG) oder Untersuchungsberichte des RAD im Sinne von Art. 49 Abs. 2 IVV (SR 831.201). Sie erheben nicht selber medizinische Befunde, sondern setzen sich mit den vorhandenen auseinander. Ihre Funktion besteht darin, aus medizinischer Sicht - gewissermassen als Hilfestellung für die medizinischen Laien in Verwaltung und Gerichten, welche in der Folge über den Leistungsanspruch zu entscheiden haben - den medizinischen Sachverhalt zusammenzufassen und zu würdigen, wozu namentlich auch gehört, bei widersprüchlichen medizinischen Akten eine Wertung vorzunehmen und zu beurteilen, ob auf die eine oder die andere Ansicht abzustellen oder aber eine zusätzliche Untersuchung vorzunehmen sei (SVR 2009 IV Nr. 50 S. 153, 8C_756/2008 E. 4.4). Im vorliegenden Fall lagen im Zeitpunkt der Stellungnahme des RAD vom 26. Oktober 2006 keine Aussagen zur Arbeitsfähigkeit ab Anfang Dezember 2005 vor, zu welchen sich der RAD im Rahmen seiner Würdigung überhaupt hätte äussern können. Der RAD wäre in Ermangelung entsprechender medizinischer Akten vielmehr gehalten gewesen, zusätzliche Abklärungen zu empfehlen.
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3.4. Indem die IV-Stelle trotz fehlender ärztlicher Einschätzung zur Arbeitsfähigkeit ab Anfang Dezember 2005 auf weitere Abklärungen verzichtete, verletzte sie den Untersuchungsgrundsatz. In Anbetracht dessen ist die Vorinstanz zu Recht von der zweifellosen Unrichtigkeit der Verfügung vom 18. April 2007 ausgegangen (vgl. E. 2 hievor); dass deren Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist - was auf periodische Dauerleistungen regelmässig zutrifft (BGE 140 V 85 E. 4.4 S. 87 f.) - wird von der Beschwerdeführerin zu Recht nicht bestritten.
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4. Das kantonale Gericht hat unter Hinweis auf die Rechtsprechung zutreffend festgehalten, dass es sich bei zweifelloser Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung infolge Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes erübrigt, den damals rechtserheblichen Sachverhalt weiter abzuklären und auf dieser nunmehr hinreichenden tatsächlichen Grundlage den Invaliditätsgrad zu ermitteln. Abgesehen davon, dass einen weiter zurückliegenden Zeitraum betreffende Abklärungen häufig keine verwertbaren Ergebnisse zu liefern vermögen, geht es im Kontext darum, mit Wirkung ex tunc et pro futuro einen rechtskonformen Zustand herzustellen (Urteil 9C_19/2008 vom 29. April 2008 E. 2.1).
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Die Vorinstanz gelangte nach Würdigung der medizinischen Aktenlage zutreffend zum Schluss, dem MEDAS-Gutachten vom 11. Februar 2013 sei voller Beweiswert beizumessen, und es sei gestützt darauf von einer vollen Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit auszugehen. Die Beschwerdeführerin erhebt weder gegen die vorinstanzliche Würdigung der medizinischen Aktenlage noch gegen den vorgenommenen Einkommensvergleich konkrete Einwände. Damit hat es mit der wiedererwägungsweisen Aufhebung der Invalidenrente in Anwendung von Art. 53 Abs. 2 ATSG sein Bewenden.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der E.________ AG und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 22. Januar 2015
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Der Gerichtsschreiber: Williner
 
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