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Informationen zum Dokument  BGer 6B_100/2014  Materielle Begründung
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BGer 6B_100/2014 vom 18.12.2014
 
{T 0/2}
 
6B_100/2014
 
 
Urteil vom 18. Dezember 2014
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
 
Gerichtsschreiber Faga.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Felix Keller,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1.  Staatsanwaltschaft des Kantons Uri,
 
Postfach 959, 6460 Altdorf UR,
 
2. A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Ruth Wipfli Steinegger,
 
3. B.________,
 
4. C.________,
 
Beschwerdegegnerinnen.
 
Gegenstand
 
Mehrfache Vergewaltigung, mehrfache sexuelle Nötigung und Schändung; Anklagegrundsatz, Willkür, etc.
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung, vom 12. Juli 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
D.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
 
Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anklageprinzips. Er macht zusammengefasst geltend, die Anklage vermöge der erforderlichen Umschreibungsdichte nicht zu genügen. Ihre Zeitangaben seien ungenau. Die abstrakt formulierten Vorwürfe würden eine wirksame Verteidigung verunmöglichen. Jede beschuldigte Person habe Anspruch, "ein eindeutig erkennbares, auch hinsichtlich des zeitlichen Elements konkretisiertes historisches Ereignis vorgehalten zu bekommen". In keiner Anklageziffer werde angegeben, welche Delikte inklusive Gesetzesbestimmungen durch welche Handlungen erfüllt seien. Zudem werde nicht respektive nur rudimentär umschrieben, welche Art nötigender Gewaltanwendung eingeklagt werde. In verschiedenen Anklageziffern werde die Anzahl der Übergriffe nicht festgehalten, eine Handlung gegen den Willen der betroffenen Frau nicht umschrieben und jegliche Individualisierung eines historischen Einzelgeschehens verunmöglicht. Auch enthalte die Anklage keine Hinweise zu den subjektiven Tatbestandselementen (Beschwerde S. 8 - 19).
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2.2. Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK; vgl. Art. 168 Ziff. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Uri, RB 3.9222, aufgehoben per 1. Januar 2011). Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip), nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (vgl. Art. 350 StPO). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe genügend konkretisiert sind. Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte der angeschuldigten Person und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 133 IV 235 E. 6.2 und 6.3 S. 244 ff.; Urteil 6B_130/2012 vom 22. Oktober 2012 E. 6.2, nicht publ. in: BGE 138 IV 209; je mit Hinweisen).
2
 
Erwägung 2.3
 
2.3.1. Nach den zutreffenden Erwägungen der ersten Instanz, auf welche die Vorinstanz verweist, ist unter dem Gesichtspunkt der Informationsfunktion des Anklageprinzips massgebend, dass die beschuldigte Person genau weiss, was ihr angelastet wird, damit sie ihre Verteidigungsrechte angemessen ausüben kann. Ungenauigkeiten in den Zeitangaben sind solange nicht von entscheidender Bedeutung, als für die beschuldigte Person keine Zweifel darüber bestehen können, welches Verhalten ihr vorgeworfen wird (Urteil 6B_441/2013 vom 4. November 2013 E. 3.2 mit Hinweisen).
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2.3.2. Entgegen der Rüge des Beschwerdeführers wurde der Vorwurf in Bezug auf C.________ (nachfolgend: Beschwerdegegnerin 4) unverwechselbar und zeitlich genügend konkretisiert. Ebenso sind die Tatbestandsmerkmale der Schändung in der Anklage mit den entsprechenden Tatsachenbehauptungen unterlegt. Inwieweit die Formulierung des Anklagevorwurfs (vgl. Anklageziffer 2.1) eine hinreichende Verteidigung erschwerte, zeigt der Beschwerdeführer nicht auf.
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2.3.3. In Bezug auf die Anklageziffer 3.1 argumentiert der Beschwerdeführer, er sei vom Schuldspruch der versuchten Vergewaltigung überrascht worden. Dieser Deliktsvorwurf gehe aus der Anklage, welche keine Angaben zu einem subjektiven Tatbestandselement mache, nicht hervor. Die Rüge erfolgt zu Recht. Die Anklage wirft dem Beschwerdeführer vor, B.________ (nachfolgend: Beschwerdegegnerin 3) gegen ihren Willen die Hosen und Unterhosen heruntergezogen und das T-Shirt nach oben geschoben zu haben. Darauf habe der Beschwerdeführer sie im Intimbereich ausgegriffen. Er habe ihr gedroht, sie zu vergewaltigen, wenn sie nicht machte, was er verlangte. Während der Beschwerdeführer masturbiert habe, habe er von seinem Opfer verlangt, dass es "sich selber befriedigen solle". Der Aufforderung, ihn mit der Hand zu befriedigen, sei die Beschwerdegegnerin 3 nicht nachgekommen. Der Beschwerdeführer habe sie mit seinem Penis im Bereich der Scheide, Unterbauch und Hose berührt. Der Anklagevorwurf umfasst damit die Nötigung zu verschiedenen sexuellen Handlungen. Dass der Beschwerdeführer einen darüber hinausgehenden Erfolg herbeiführen und die Beschwerdegegnerin 3 zur Duldung des Beischlafs nötigen wollte, wird in der Anklage nicht umschrieben. Ebenso wenig wird geschildert, weshalb ein entsprechender Versuch nicht zum Erfolg führte (vgl. Martin Schubarth, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 30 zu Art. 325 StPO). Eine versuchte Vergewaltigung ist nicht angeklagt. In diesem Zusammenhang bleibt entgegen der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft unerheblich, dass sich diese in ihrem Plädoyer vor Schranken zum behaupteten Versuch äusserte.
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2.4. Bereits die erste Instanz hat sich mit dem Anklageprinzip auseinandergesetzt und eine Verletzung verneint. Auf deren Erwägungen durfte die Vorinstanz entgegen dem Dafürhalten des Beschwerdeführers in Anwendung von Art. 82 Abs. 4 StPO verweisen. Das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers und die Begründungspflicht sind nicht verletzt.
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Erwägung 3
 
3.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, indem die Vorinstanz über die Beschwerdegegnerinnen 2 - 4 kein Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsgutachten in Auftrag gegeben sowie diese nicht vor Schranken befragt habe, verletze sie seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO, Art. 29 Abs. 2 BV), die Beweiserhebungspflicht (Art. 343 Abs. 3 und Art. 389 Abs. 3 StPO), den Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO, Art. 6 Ziff. 1 EMRK), den Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) sowie den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO, Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV; Beschwerde S. 19 - 29).
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3.2. Bei Besonderheiten in der Person kann eine Begutachtung der Aussagefähigkeit oder Aussagequalität in Frage kommen. Die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Beweisaussagen ist primär Sache der Gerichte (BGE 129 I 49 E. 4 S. 57; 128 I 81 E. 2 S. 84 ff. mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung drängt sich der Beizug eines Sachverständigen für die Prüfung der Aussagen nur bei besonderen Umständen auf. Dies ist etwa der Fall, wenn schwer interpretierbare Äusserungen eines Kleinkinds zu beurteilen sind, bei Anzeichen ernsthafter geistiger Störungen, welche die Aussageehrlichkeit des Zeugen beeinträchtigen könnten, oder wenn Anhaltspunkte für eine Beeinflussung durch Drittpersonen bestehen (BGE 129 IV 179 E. 2.4 S. 184; Urteil 6B_667/2013 vom 20. Februar 2014 E. 2.4.5; je mit Hinweisen). Das Gericht verfügt bei der Beantwortung der Frage, ob aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles ein Sachverständiger beigezogen werden muss, über einen Ermessensspielraum. Eine starre Beweisregel, wonach bei streitigen Aussagen des mutmasslichen Opfers in jedem Fall ein Aussagegutachten anzuordnen wäre, widerspräche dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Urteil 6B_703/2012 vom 3. Juni 2013 E. 5.3 mit Hinweisen).
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3.3. Die erste Instanz räumt ein, dass dem Antrag der Verteidigung, in Bezug auf die Beschwerdegegnerin 2 ein Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen, ein Stück weit Berechtigung zukomme. Die Beschwerdegegnerin 2 habe Betäubungsmittel (Cannabis und Kokain) konsumiert und sich zeitweise in ambulanter respektive stationärer psychiatrischer Behandlung befunden. Gleichwohl seien ihre Aussagen sehr detailliert, klar, realitätsnah und konsistent. Einzelne Schilderungen hätten sich als augenscheinlich zutreffend herausgestellt. Deshalb seien keine hinreichenden Gründe vorhanden, an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen zu hinterfragen. Ebenso wenig sei eine Begutachtung der Beschwerdegegnerin 3 angezeigt. Obgleich sie am 22. Oktober 2005 alkoholisiert gewesen sei, sei im Polizeirapport vermerkt, dass sie zu klaren und detaillierten Aussagen in der Lage gewesen sei. Ihre Schilderungen bei der Polizei seien ausführlich sowie mit Details versehen und ihr Aussageverhalten sei authentisch. Anhaltspunkte, welche eine Begutachtung rechtfertigen würden, seien keine vorhanden. Das Gleiche gelte für die Beschwerdegegnerin 4. Diese habe in der Tatnacht mit ihrer Halbschwester eine Flasche Sekt getrunken, was sicherlich nicht zu einer massiven Alkoholisierung führe. Die Beschwerdegegnerin 4 habe den Übergriff dreimal im Wesentlichen gleich geschildert. Ihre Aussagen seien in sich stimmig. Sie habe sich nicht in einer derartigen psychischen respektive physischen Ausnahmesituation befunden, welche eine Begutachtung nötig mache. Die Vorinstanz verweist auf diese Erwägungen und hält unter anderem ergänzend fest, eine Expertise über die Glaubwürdigkeit 8 bis fast 15 Jahre nach den Taten vermöge nichts Wesentliches zur Wahrheitsfindung beizutragen.
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3.4. Die antizipierte Beweiswürdigung der Vorinstanzen ist nicht unvertretbar. Die Beschwerdegegnerin 2 wurde am 9. und 11. Juli 2007 polizeilich, am 25. August 2010 durch das Verhöramt und am 19. April 2011 durch die erste Instanz befragt. Die Einvernahmen der Beschwerdegegnerin 3 erfolgten am 22. und 25. Oktober 2005 durch die Kantonspolizei, am 16. Februar 2009 durch das Verhöramt sowie am 19. April 2011 und 22. Mai 2012 durch die erste Instanz. Schliesslich wurde die Beschwerdegegnerin 4 am 12. Dezember 2007 polizeilich, am 18. Oktober 2010 durch das Verhöramt und am 19. April 2011 durch die erste Instanz einvernommen. Mit Blick auf die protokollierten Schilderungen ist mit den Vorinstanzen festzuhalten, dass die Aussa-gen der Beschwerdegegnerinnen 2 - 4 detailliert, authentisch und überzeugend ausfielen. In der Tat sind Auffälligkeiten in der Person oder Anzeichen für kognitive Beeinträchtigungen, welche sich in den Aussagen widerspiegeln und dem Gericht die fachgerechte Aussagenanalyse und Beweiswürdigung erschweren würden, nicht ersichtlich. Selbst wenn der Beschwerdeführer alle drei befragten Frauen in physischen und psychischen Ausnahmezuständen sieht, befasst er sich in keiner Weise mit ihren Sachverhaltsdarstellungen. Vielmehr klammert er die vorinstanzliche Würdigung in seiner Argumentation aus. Er macht nicht geltend und es ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdegegnerinnen 2 und 4 in ihrer Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefähigkeit beeinträchtigt und zur wahrheitsgemässen Aussage nicht fähig oder nicht willens waren. Die vom Beschwerdeführer unvollständig zitierten Antworten der Beschwerdegegnerin 3 anlässlich ihrer zweiten Befragung, in denen Erinnerungslücken eingeräumt werden, betreffen im Übrigen nicht das Kerngeschehen.
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Erwägung 4
 
4.1. Die Ausführungen in der Beschwerde unter dem Titel "Sachverhalt / Subsumtion" richten sich zu einem wesentlichen Teil gegen den Anklagesachverhalt (Beschwerde S. 29 - 32). Auf die vorstehenden Erwägungen kann verwiesen werden (vgl. E. 2.3).
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4.2. Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz in Bezug auf den Übergriff vom 23. Juli 1998 (Anklageziffer 1.1) und die Vorfälle ab November 2000 bis März 2001 (Anklageziffer 1.5) die "Konstruktion eines willkürlichen Zeitparadoxons" vor. Die Vorinstanz unterstreicht, dass in zeitlicher Hinsicht kleinere Ungereimtheiten bestehen. Auch verkennt sie den Zeitpunkt der in der Beschwerde zitierten zwei Arztkonsultationen im Juni 1998 nicht. Eine Willkürrüge, die eine einzelne vorinstanzliche Erwägung hervorhebt und sich nicht mit dem Beweisergebnis auseinandersetzt, genügt den Begründungsanforderungen gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG nicht. Darauf ist nicht einzutreten.
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4.3. Die durch die Erstinstanz vorgenommene rechtliche Subsumtion unter die Tatbestände der Vergewaltigung, sexuellen Nötigung und Schändung wird von der Vorinstanz übernommen. Selbst wenn der Beschwerdeführer vorbringt, es sei "kein einziger Anklagepunkt rechtskonform vorgebracht [...] und beurteilt" worden, ist eine Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Entscheid, welche über eine Willkürrüge hinausgeht respektive nicht allein auf das Anklageprinzip abzielt, nicht erkennbar. Darauf ist nicht einzutreten (Art. 42 Abs. 2 BGG). Gleiches gilt, soweit in Bezug auf die Schuldsprüche der mehrfachen Vergewaltigung, mehrfachen versuchten Vergewaltigung und mehrfachen sexuellen Nötigung beanstandet wird, aus dem vorinstanzlichen Urteil gehe die genaue Anzahl der Übergriffe nicht hervor. Inwiefern der Beschwerdeführer, der die Strafzumessung nicht beanstandet, dadurch beschwert sein sollte, ist nicht ersichtlich.
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Erwägung 5
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Uri vom 12. Juli 2013 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten werden im Umfang von Fr. 3'600.-- dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Der Kanton Uri hat dem Beschwerdeführer eine reduzierte Parteientschädigung von Fr. 300.-- zu bezahlen.
 
4. D ieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 18. Dezember 2014
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Faga
 
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