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Informationen zum Dokument  BGer 9C_788/2014  Materielle Begründung
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BGer 9C_788/2014 vom 27.11.2014
 
{T 0/2}
 
9C_788/2014
 
 
Urteil vom 27. November 2014
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kernen, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Parrino,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Erwerbsersatz für Dienstleistende (Prozessvoraussetzung; kantonales Verfahren),
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. September 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ absolvierte vom ... bis ... Militärdienst. Gemäss Abrechnung der Ausgleichskasse des Kantons Zürich vom 25. Oktober 2012 betrug die Erwerbsausfallentschädigung Fr. 411.65. Mit Schreiben vom gleichen Tag teilte ihm diese mit, sie werde diesen Betrag mit bestehenden und künftigen Forderungen verrechnen.
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B. Am 12. Juni 2013 (Poststempel) reichte A.________ beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde ein. Er bestritt die Zulässigkeit der Verrechnung mit seinen ausstehenden AHV-Beiträgen für 2012, weil damit in sein Existenzminimum eingegriffen werde.
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Mit Entscheid vom 30. September 2014 trat das Gericht auf die Beschwerde nicht ein.
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C. Hiegegen erhebt A.________ Beschwerde.
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Erwägungen:
 
1. Das kantonale Sozialversicherungsgericht ist mangels einer anfechtbaren Verfügung nicht auf die Beschwerde gegen die Verrechnungsanzeige (vgl. Art. 20 Abs. 2 EOG) eingetreten. Weiter hat es festgestellt, die Frist, eine anfechtbare Verfügung zu verlangen, sei im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung bereits abgelaufen. Nach Auffassung des Beschwerdeführers verletzt dies Bundesrecht, insbesondere den Grundsatz von Treu und Glauben, ebenso die konventionsrechtliche Garantie eines fairen Verfahrens (Art. 6 Ziff. 1 EMRK).
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2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; BGE 138 V 17 E. 3 S. 19). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann bei offensichtlichen rechtlichen Mängeln des angefochtenen Entscheids (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und  E. 1.4.2 S. 254 mit Hinweisen) die Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252; 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
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3. Die Anfechtungsgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens bildende Verrechnungsanzeige vom 25. Oktober 2012 war weder als Verfügung bezeichnet noch enthielt sie eine Rechtsmittelbelehrung. Von einer Überweisung der Eingabe vom 12. Juni 2013 an die Ausgleichskasse zum Erlass einer (anfechtbaren) Verfügung nach Art. 51 Abs. 2 ATSG hat das kantonale Sozialversicherungsgericht abgesehen, da ein solcher Antrag wie bei Taggeldabrechnungen der Unfallversicherung innerhalb einer Frist von drei Monaten hätte gestellt werden müssen. Der Beschwerdeführer sei von der Verrechnungsanzeige vom 25. Oktober 2012 vergleichbar bzw. angesichts des relativ geringen einmaligen Verrechnungsbetrages (Fr. 411.65) sogar erheblich weniger betroffen als eine versicherte Person, deren Taggeld eingestellt werde. Bei Erhebung der Beschwerde im Juni 2013 sei die Frist längst abgelaufen und die Verrechnungsanzeige rechtsbeständig geworden.
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4. 
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4.1. Der vorinstanzlichen Argumentation wäre dann beizupflichten, wenn es sich bei der Verrechnungsanzeige um eine Anordnung handelte, die nicht unter Art. 49 Abs. 1 ATSG fällt. Andernfalls hätte der Entscheid in Form einer Verfügung ergehen müssen (BGE 134 V 145 E. 4 S. 149). Dieser vom kantonalen Sozialversicherungsgericht nicht angesprochene Punkt ist von entscheidender Bedeutung für die Dauer der Frist, innerhalb welcher der Beschwerdeführer nach dem Gebot des Handelns nach Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) und auch aus Gründen der Rechtssicherheit gehalten war, den Erlass einer Verfügung zu verlangen (BGE 134 V 145 E. 5.2 S. 150 f.).
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4.2. Die angezeigte Verrechnung der Erwerbsausfallentschädigung für die Dienstzeit vom 4. bis 10. Oktober 2012 erstreckt sich auf alle bestehenden oder künftigen Forderungen (der AHV). Dies stellt einen schweren Eingriff in die Rechtsstellung des Beschwerdeführers dar, welcher ungeachtet des Verrechnungssubstrats (Fr. 411.65) als erheblich im Sinne von Art. 49 Abs. 1 ATSG zu betrachten ist (vgl. zur Schranke des betreibungsrechtlichen Existenzminimums BGE 138 V 402 E. 4.2 S. 405).
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4.3. Hat die IV-Stelle über Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind (Art. 49 Abs. 1 ATSG), zu Unrecht im formlosen Verfahren entschieden (Art. 51 Abs. 1 ATSG), kann die betreffende versicherte Person innerhalb einer bestimmten Zeitspanne den Erlass einer (anfechtbaren) Verfügung verlangen. Diese Frist ist länger als in den Fällen, in welchen das formlose Verfahren zulässig war. Sie beträgt im Regelfall ein Jahr und kann bei rechtsunkundigen und nicht anwaltlich vertretenen Versicherten unter Umständen auch länger sein (vgl. BGE 134 V 145 E. 5.3.2 S. 152 f.). Daraus folgt, dass die am   12. Juni 2013 bei der Vorinstanz eingereichte Beschwerde als rechtzeitiges Gesuch um Erlass einer Verfügung betreffend die Verrechnungsanzeige vom 25. Oktober 2012 zu qualifizieren ist. Die Feststellung im angefochtenen Entscheid, dass im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung die Frist, um den Erlass einer Verfügung zu verlangen, längst abgelaufen und die Verrechnungsanzeige rechtsbeständig geworden sei, verletzt Bundesrecht.
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5. Umständehalber ist auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz BGG). Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Prozessführung ist gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. September 2014 wird insofern aufgehoben, als er feststellt, dass die Verrechnungsanzeige vom 25. Oktober 2012 rechtsbeständig geworden sei. Die Sache wird an die Beschwerdegegnerin überwiesen, damit sie eine Verfügung betreffend die streitige Verrechnung erlasse.
 
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 27. November 2014
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kernen
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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