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Informationen zum Dokument  BGer 9C_523/2014  Materielle Begründung
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BGer 9C_523/2014 vom 19.11.2014
 
9C_523/2014 {T 0/2}
 
 
Urteil vom 19. November 2014
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kernen, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Parrino,
 
Gerichtsschreiber Schmutz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 23. Mai 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. A.________, geboren 1975, war vom 1. Dezember 2008 bis 30. Juni 2010 in der Firma B.________ AG als Betriebs- und Servicemitarbeiterin tätig. Der letzte Arbeitstag war der 26. Januar 2010. Am 9. August 2010 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 2. Februar 2011 verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich den Anspruch der Versicherten auf eine Invalidenrente.
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A.b. Am 7. Februar 2013 meldete sich A.________ unter Hinweis auf Sucht- und psychische Probleme erneut bei der Invalidenversicherung an. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 2. August 2013 ein Eintreten auf die Neuanmeldung ab.
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die gegen die Verfügung vom 2. August 2013 erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 23. Mai 2014 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides. Die Sache sei an die IV-Stelle zurückzuweisen mit der Anweisung, auf die Neuanmeldung vom 7. Februar 2013 einzutreten und über den Rentenanspruch einen erneuten Entscheid zu erlassen.
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Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde, die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
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1.2. Entscheidwesentlich für das Eintreten auf die Neuanmeldung und vom kantonalen Gericht zu prüfen war, ob die von der Versicherten bei der IV-Stelle geltend gemachte erhebliche Veränderung ihres Gesundheitszustandes und damit der tatsächlichen Verhältnisse seit der Rentenverfügung vom 2. Februar 2011 glaubhaft sei. Dabei handelt es sich um den Entscheid über eine Tatfrage (Urteil 8C_55/2007 vom 20. November 2007 E. 2.2). Diese kann vom Bundesgericht nur im Rahmen von Art. 97 Abs. 1 BGG geprüft werden (E. 1.1).
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2. Die Neuanmeldung wird - wie auch das Gesuch um Leistungsrevision - nur materiell geprüft, wenn die versicherte Person glaubhaft macht, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse seit der letzten, rechtskräftigen Entscheidung in einem für den Rentenanspruch erheblichen Mass verändert haben (Art. 87 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 IVV; BGE 130 V 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen). Die genannte Eintretensvoraussetzung soll verhindern, dass sich die Verwaltung immer wieder mit gleichlautenden und nicht näher begründeten Rentengesuchen befassen muss (BGE 133 V 108 E. 5.3.1 S. 112 mit Hinweisen). Art. 87 Abs. 3 IVV beruht auf dem Grundgedanken, dass die Rechtskraft der früheren Verfügung einer neuen Prüfung so lange entgegensteht, als der seinerzeit beurteilte Sachverhalt sich in der Zwischenzeit nicht verändert hat. Um zu verhindern, dass sich die Verwaltung mit keine Veränderung des Sachverhaltes darlegenden Rentengesuchen befassen muss, ist sie nach Eingang einer Neuanmeldung demnach zunächst zur Prüfung verpflichtet, ob die Vorbringen der versicherten Person überhaupt glaubhaft sind; verneint sie dies, so erledigt sie das Gesuch ohne weitere Abklärungen durch Nichteintreten. Dabei wird sie, wie bereits in BGE 109 V 264 f. E. 3 erwogen, u.a. berücksichtigen, ob die frühere Verfügung nur kurze oder schon längere Zeit zurückliegt, und dementsprechend an die Glaubhaftmachung höhere oder weniger hohe Anforderungen stellen (Urteil 9C_68/2007 vom 19. Oktober 2007 E. 3.3). Gelingt der versicherten Person die Glaubhaftmachung nicht, so wird auf das Gesuch nicht eingetreten. Ist die anspruchserhebliche Änderung glaubhaft gemacht, ist die Verwaltung verpflichtet, auf das neue Leistungsbegehren einzutreten und es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend zu prüfen (vgl. BGE 117 V 198 E. 4b S. 200). Mit dem Beweismass des Glaubhaftmachens sind herabgesetzte Anforderungen an den Beweis verbunden; die Tatsachenänderung muss also nicht nach dem im Sozialversicherungsrecht sonst üblichen Grad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360) erstellt sein. Es genügt, dass für das Vorhandensein des geltend gemachten rechtserheblichen Sachumstandes wenigstens gewisse Anhaltspunkte bestehen, auch wenn durchaus noch mit der Möglichkeit zu rechnen ist, bei eingehender Abklärung werde sich die behauptete Änderung nicht erstellen lassen. Erheblich ist eine Sachverhaltsänderung, wenn angenommen werden kann, der Anspruch auf eine Invalidenrente (oder deren Erhöhung) sei begründet, falls sich die geltend gemachten Umstände als richtig erweisen sollten (SVR 2003 IV Nr. 25 S. 76, I 238/02 E. 2.2 und 2.3, 2002 IV Nr. 10 S. 25, I 724/99 E. 1c/aa).
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3. Die Vorinstanz kam zum Schluss, es sei nicht zu beanstanden, dass die Ärzte des RAD gestützt auf die Aktenlage eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes als nicht glaubhaft beurteilten. Die Diagnose einer instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ sei nach der Lage der Akten einzig aufgrund anamnestischer Angaben und ohne entsprechende Befunde gestellt worden. Die Alkoholabhängigkeit sei auf psychosoziale Umstände (Tod der Grossmutter) zurückzuführen. Die Schreiben von Dr. med. C.________ vom 23. Oktober 2013 und von Dr. phil. D.________ vom 3. Dezember 2013 vermöchten den praxisgemässen Anforderungen an einen Arztbericht nicht zu genügen. Dr. med. C.________ verlasse mit der Beurteilung einer psychischen Beeinträchtigung sein medizinisches Fachgebiet und Dr. phil. D.________ sei ebenfalls nicht Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Zudem seien diese Beurteilungen erst im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ergangen, weshalb ein Einfluss versicherungstechnischer Überlegungen nicht ausgeschlossen werden könne. Somit sei gestützt auf die Aktenlage, wie sie sich zum Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung präsentierte, keine anspruchserhebliche Verschlechterung glaubhaft gemacht worden.
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4. Die Beschwerdeführerin rügt, angesichts der herabgesetzten Anforderungen an das Beweismass hätten die Beschwerdegegnerin und die Vorinstanz einen zu hohen Massstab an die Glaubhaftmachung gestellt und damit Bundesrecht verletzt. Es komme einer willkürlichen Beweiswürdigung gleich, wenn sie ohne weitere Abklärungen annähmen, dass der übermässige Alkoholkonsum bloss psychosozial (Tod der Grossmutter) und damit bei der Invaliditätsbemessung nicht zu berücksichtigen sei. Der Hausarzt Dr. med. C.________ habe in seinem Bericht vom 23. Oktober 2013 aufgezeigt, dass zwischen der Suchterkrankung und der Persönlichkeitsstörung eine Wechselwirkung bestehe. Willkürlich sei ferner die Schlussfolgerung der Vorinstanz, dass der Bericht des Dr. phil. D.________ vom 3. Dezember 2013 keine Befundangaben enthalte. Der Psychologe habe in seinem Bericht dargelegt, dass sich die Leistungsfähigkeit und die Konzentrationsfähigkeit verschlechtert hätten. Zudem sei sie Stress-sensibel. Diese Angaben stellten Befunderhebungen im Rahmen der diagnostizierten Krankheitsbilder (instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typ, phobische und Zwangsstörungen) dar. In willkürlicher Würdigung des Berichts habe die Vorinstanz die Befundangaben unberücksichtigt gelassen. Angesichts der geschilderten Umstände sei es aber glaubhaft, dass der Gesundheitszustand sich im Vergleich zur Situation im Februar 2011, in der sie nach einer depressiven Episode wieder zu 100 % arbeitsfähig gewesen sei, wesentlich verschlechtert habe. Bereits im Verwaltungsverfahren seien genügend Anhaltspunkte für eine psychische Verschlechterung mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit vorhanden gewesen, sodass die Beschwerdegegnerin verpflichtet gewesen wäre, auf die Neuanmeldung einzutreten und weitere medizinische Abklärungen zu treffen.
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5. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung berichtigen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist (E. 1.1). Davon ist hier auszugehen, denn der Hausarzt Dr. med. C.________ stellte die Diagnosen einer Alkoholabhängigkeit, einer instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, einer Zwangsstörung, einer depressiven Entwicklung und eines Status nach Substanzgebrauch (Kokain, LSD, Cannabis). Zudem äusserte er im Bericht vom 23. Oktober 2013 die Meinung, es sei wenig wahrscheinlich, dass die Versicherte je wieder im ersten Arbeitsmarkt erwerbsfähig werde. Noch in seinem Bericht vom 1. November 2010 bestätigte er, dass sie ab dem 23. August 2010 (dort) wieder zu 100 % arbeitsfähig sei. Der behandelnde Psychologe Dr. phil. D.________ diagnostizierte Zwangs- und phobische Störungen bei emotional instabiler Persönlichkeitsstörung. Dass der Hausarzt über seinen Fachbereich hinaus diagnostizierte und es sich beim behandelnden Psychologen nicht um einen psychiatrischen Facharzt handelt, ändert an der Aussagekraft der Ausführungen nichts, vielmehr hätte dies Anlass sein müssen, die Vorbringen spezialärztlich weiter abzuklären. Denn es genügt, dass für das Vorhandensein des geltend gemachten rechtserheblichen Sachumstandes wenigstens gewisse Anhaltspunkte bestehen, auch wenn durchaus noch mit der Möglichkeit zu rechnen ist, bei eingehender Abklärung werde sich die behauptete Änderung nicht erstellen lassen (E. 2). Die Sache ist an die Verwaltung zurückzuweisen, damit sie auf das Gesuch eintritt und die notwendigen Abklärungen trifft, bevor sie über den Rentenanspruch neu entscheidet.
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6. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Mai 2014 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 2. August 2013 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Invalidenrente materiell neu verfüge.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 19. November 2014
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kernen
 
Der Gerichtsschreiber: Schmutz
 
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