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Informationen zum Dokument  BGer 9C_369/2014  Materielle Begründung
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BGer 9C_369/2014 vom 19.11.2014
 
{T 0/2}
 
9C_369/2014
 
 
Urteil vom 19. November 2014
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kernen, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer, Parrino,
 
Gerichtsschreiber Schmutz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________, vertreten durch
 
Rechtsanwalt Werner Bodenmann,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 6. Mai 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1965, war seit 1989 als Magaziner in der Firma B.________ AG tätig. In den Jahren 1998, 2002 und 2006 erlitt er Unfälle, bei denen er sich an der rechten Hand und am rechten Knie verletzte. 2004 wurde eine Beinvenenthrombose operiert. Das Arbeitsverhältnis wurde aus gesundheitlichen Gründen auf den 30. September 2007 aufgelöst. Mit Verfügung vom 10. Mai 2012 sprach die SUVA A.________ eine Rente zu (Erwerbsunfähigkeitsgrad von 23 %). Am 11. Juli 2007 hatte sich A.________ bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen klärte die medizinischen und beruflich-erwerblichen Verhältnisse ab und zog ein polydisziplinäres Gutachten sowie ein Verlaufsgutachten (vom 9. April 2009 bzw. 20. September 2010) der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) bei. Mit Vorbescheid vom 28. Februar 2012 und Verfügung vom 30. April 2012 lehnte sie den Antrag auf eine Invalidenrente ab, wobei sie unter Annahme einer Arbeitsfähigkeit von 75 % einen Invaliditätsgrad von 31 % errechnete.
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B. Die von A.________ erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 6. Mai 2014 gut. Es berücksichtigte ein Arbeitsfähigkeit von 60 % und einen leidensbedingten Abzug von 15 %. Aufgrund eines Invaliditätsgrades von 50 % sprach es A.________ mit Wirkung ab 1. Dezember 2007 eine halbe Invalidenrente zu.
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C. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides und die Bestätigung der Verfügung vom 30. April 2012. Dem kantonalen Gericht seien gestützt auf Art. 66 Abs. 3 i.V.m. Art. 68 Abs. 3 BGG die Gerichtskosten aufzuerlegen und es sei der IV-Stelle eine Parteientschädigung zuzusprechen.
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A.________ und die Vorinstanz beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Streitig ist, ob der Beschwerdegegner Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung hat. Das kantonale Gericht hat die einschlägigen Rechtsgrundlagen dafür zutreffend dargelegt (Art. 28 f. IVG, Art. 6 und Art. 16 ATSG).
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2. Im polydisziplinären MEDAS-Verlaufsgutachten vom 20. September 2010 diagnostizierten die Experten eine chronische Gonalgie rechts, ein chronisches Schulter-Arm-Syndrom rechts, eine leichte depressive Episode ohne somatisches Syndrom (ICD-10: F32.00) sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41). Die Befunderhebung und die gestellten Diagnosen sind unbestritten. Die Gutachter bezeichneten eine Arbeitsfähigkeit von 60 % in einer leidensangepassten Tätigkeit als zumutbar. Limitierend würden sich vor allem die psychischen Störungen auszeichnen.
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Erwägung 3
 
3.1. Die Vorinstanz erwog, der psychiatrische Verlaufsgutachter habe eine leichte depressive Episode ohne somatisches Syndrom diagnostiziert und festgehalten, dass die Depression im Zusammenhang mit der vorhandenen Schmerzstörung einen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit habe. Dabei habe er sich eingehend mit der invalidisierenden Wirkung der Schmerzstörung und den Foerster-Kriterien auseinandergesetzt. Er habe eine psychiatrische Komorbidität, einen mehrjährigen Krankheitsverlauf und einen sozialen Rückzug festgestellt. Ebenfalls habe er ausgeführt, dass aufgrund der Schmerzen und der Depression das Selbstvertrauen, der Antrieb, die Konzentration und die Ausdauer beeinträchtigt seien und eine eingeschränkte Regenerationsfähigkeit bestehe. Es seien keine Gründe ersichtlich, weshalb von dieser gutachterlichen Einschätzung abgewichen werden sollte. Sie sah es als gerechtfertigt an, den leidensbedingten Abzug auf 15 % festzulegen.
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3.2. Die Beschwerdeführerin rügt, es sei eine Rechtsfrage, ob eine festgestellte psychische Komorbidität hinreichend erheblich sei oder weitere Kriterien (Foerster-Kriterien) in genügender Intensität und Konstanz vorlägen, um den Schluss auf eine nicht überwindbare Schmerzstörung zuzulassen. Ebenfalls eine Rechtsfrage sei, inwiefern die ärztliche Einschätzung invaliditätsfremde Gesichtspunkte, insbesondere psychosoziale und/oder soziokulturelle Faktoren, mitberücksichtige. Beim Beschwerdegegner liege ein pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild vor. Bei einem solchen beurteile sich die Frage, inwieweit die Arbeitsunfähigkeit aus medizinisch-psychiatrischer Sicht als invalidisierend im rechtlichen Sinn anzuerkennen sei, nach BGE 130 V 253. Entgegen der Ansicht der MEDAS liege keine psychiatrische Komorbidität in einem invalidisierenden Schweregrad vor. Die nach Einschätzung des psychiatrischen Gutachters gegebenen Foerster-Kriterien seien eindeutig nicht erfüllt. Es sei insgesamt davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner aus psychiatrischer Sicht voll arbeitsfähig sei.
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3.3. Der Beschwerdegegner weist darauf hin, im psychiatrischen Teilgutachten der MEDAS vom 12. Januar 2009 sei festgehalten worden, dass die Schmerzstörung eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht bewirke. Dass die Foerster-Kriterien nicht in der notwendigen Intensität gegeben seien, überzeuge nicht. Sollte tatsächlich von einer Arbeitsfähigkeit von 75 % ausgegangen werden, sei ein Leidensabzug von 25 % zu berücksichtigen.
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4. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner an einer psychischen Komorbidität in Form einer leichten depressiven Episode ohne somatisches Syndrom und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren leidet. Zu beantworten ist die Rechtsfrage, ob die Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer ist. Für die Frage der Überwindbarkeit der Schmerzstörung ist nicht entscheidend, ob die depressive Episode als leicht oder als mittelgradig eingestuft wird, denn beide Diagnosen gelten in der Regel nicht als psychische Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer, welche die ausnahmsweise Unüberwindbarkeit einer Schmerzstörung bewirken kann (vgl. Urteil 9C_649/2013 vom 5. November 2013 E. 4.3).
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5. Entgegen der Beschwerdevorbringen hält die vorinstanzliche Beurteilungsweise in casu vor Bundesrecht stand (Art. 95 lit. a BGG) : Zunächst liegt eine offensichtliche Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der im angefochtenen Entscheid getroffenen Tatsachenfeststellungen (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG) - einschliesslich der Beweiswürdigung - nicht vor. Das kantonale Gericht hat sich mit der gesamten medizinischen Aktenlage befasst und der Arbeitsunfähigkeitsschätzung der erfahrenen medizinischen Administrativgutachter angeschlossen. Insbesondere hat es zutreffend erwogen, der gutachterlichen Beurteilung könne nicht entnommen werden, dass der Versicherte über Ressourcen verfüge, die eine Überwindung der psychisch bedingten Krankheitsfolgen erlauben. Wenn die MEDAS-Ärzte wie hier auch der zu den Foerster-Kriterien ausdrücklich und im Einzelnen Stellung beziehende Psychiater Dr. med. C.________ (Kosiliargutachten S. 6)  lege artis begutachten und unter Berücksichtigung der normativen Vorgaben auf eine erhebliche Arbeitsunfähigkeit schliessen, ist dem aus rechtlicher Sicht zu folgen, sofern die rechtsanwendende Stelle nicht konkrete, fallgebundene Gesichtspunkte zu nennen vermag, die im Rahmen der Folgenabschätzung eine im Vergleich zum medizinisch-psychiatrischen Sachverständigen abweichende Ermessensausübung gebieten. Das ist hier nicht der Fall. Damit bleibt es beim vorinstanzlichen Entscheid.
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6. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegner hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdegegners für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 19. November 2014
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kernen
 
Der Gerichtsschreiber: Schmutz
 
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