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Informationen zum Dokument  BGer 9C_708/2013  Materielle Begründung
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BGer 9C_708/2013 vom 28.10.2014
 
{T 0/2}
 
9C_708/2013
 
 
Urteil vom 28. Oktober 2014
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kernen, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner, Glanzmann,
 
Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Nadeshna Ley,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 5. Juli 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________, geboren 1962, bezog ab 1. November 2006 eine ganze Invalidenrente zuzüglich Ergänzungsleistungen seit 1. November 2007 sowie ab April 2008 eine Entschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren Grades. Nach einem Auslandaufenthalt meldete sich A.________ am 24. Februar 2012 erneut in der Schweiz an und ersuchte gleichentags um "Wiederaufnahme" der Ergänzungsleistungen und Ausrichtung der Hilflosenentschädigung. Mit Verfügung vom 31. Mai 2012 verneinte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Das Verfahren betreffend Hilflosenentschädigung wurde sistiert. Am 10. August 2012 teilte die Sozialversicherungsanstalt A.________ mit, im Rahmen eines (neuen) Revisionsverfahrens sei eine polydisziplinäre Begutachtung in einer nach dem Zufallsprinzip bestimmten Fachstelle nötig. A.________ stellte sich auf den Standpunkt, auch nach Einführung des Lossystems stehe eine einvernehmliche Wahl der Gutachter im Vordergrund und schlug drei Begutachtungsstellen vor. Am 30. August 2012 wurde das medizinische Abklärungsinstitut B.________ zugelost. Eine entsprechende Zwischenverfügung erliess die IV-Stelle am 28. September 2012.
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B. Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 5. Juli 2013 gut und wies die Sache zur Weiterführung des Verfahrens im Sinne der Erwägungen (d.h. zu vorgängigem Einigungsversuch und allfällig anschliessendem Erlass einer Zwischenverfügung) an die IV-Stelle zurück.
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie die Bestätigung der Verfügung vom 28. September 2012.
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Die Vorinstanz beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei diese abzuweisen. A.________ lässt um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung sowie ebenfalls um Nichteintreten, eventualiter um Abweisung der Beschwerde ersuchen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
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Erwägungen:
 
1. Beim vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG, gegen welchen die Beschwerde nur zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführt und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Die zweite Voraussetzung fällt ausser Betracht. Auf die Beschwerde kann daher nur eingetreten werden, wenn der kantonale Rückweisungsentscheid einen irreparablen Nachteil bewirkt, was u.a. zutrifft, wenn die Verwaltung gezwungen wäre, eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen (vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.).
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Erwägung 2
 
2.1. Das kantonale Gericht erwog, weder ergebe die Auslegung von Art. 72bis Abs. 2 IVV ein generelles Verbot für eine einvernehmliche Bestimmung der Gutachterstelle noch entspreche ein solches der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Die Versicherte habe ihren Willen zu einer einvernehmlichen Gutachterbestimmung bekundet und drei Vorschläge unterbreitet. Eine sachliche Rechtfertigung für die Ablehnung des konkreten Angebots durch die IV-Stelle sei weder ersichtlich noch dargetan. Das Zuweisungssystem SuisseMED@P verfolge keinen Selbstzweck, sondern diene einzig der Verbesserung der Verfahrensfairness, weshalb eine strikte Anwendung des Lossystems bereits aus Gründen der Verhältnismässigkeit unzulässig sei. Psychiatrische Begutachtungen im Besonderen erforderten eine gewisse Empathie zwischen Explorandin und Gutachter, weshalb der Nutzen einer einvernehmlichen Gutachterbestimmung auch medizinisch ausgewiesen sein dürfte. Das Zufallsprinzip sei ein taugliches Hilfsmittel, wenn die versicherte Person keine "einvernehmliche Einigung" anstrebe oder sich die Verwaltung aus sachlich gerechtfertigten Gründen (z.B. lange Wartezeiten) nicht auf die Einigungsvorschläge einlassen wolle. Bei einer "einvernehmlichen Einigung" bestehe kein Vetorecht der versicherten Person, weshalb keine Gefahr bestehe, die Versicherten könnten von ihnen favorisierte Experten trotz sachlich gerechtfertigter Einwände der Verwaltung durchsetzen. Ohne Einigung habe die Verwaltung eine Zwischenverfügung zu erlassen; die Bedenken der IV-Stelle gegenüber vorgängigen Einigungsversuchen seien unbegründet.
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2.2. Die IV-Stelle macht geltend, entgegen dem angefochtenen Entscheid sei in der Verordnungsbestimmung von einem vorgängigen Einigungsversuch keine Rede. Ein solcher liefe Art. 72bis IVV sogar zuwider, indem eine missliebige Gutachterstelle durch den Vorschlag von drei anderen MEDAS-Stellen leicht "ausgeschaltet" werden könnte, zumal die Verwaltung diesfalls keine schlüssigen Argumente zur Ablehnung dieser Stellen vorbringen könne. Dies sei nicht hinnehmbar und widerspreche der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach bei polydisziplinären Gutachten ausschliesslich das Zufallsprinzip zur Anwendung gelange.
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Erwägung 3
 
3.1. Die Gutachterwahl bei polydisziplinären MEDAS-Begutachtungen hat 
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Erwägung 3.2
 
3.2.1. Nach dem Gesagten bleibt bei polydisziplinären Gutachten für eine einvernehmliche Benennung der Experten kein Raum. Eine einvernehmliche Einigung kann zwar im Einzelfall grundsätzlich geeignet sein, die Akzeptanz polydisziplinärer MEDAS-Gutachten insbesondere bei den Versicherten zu erhöhen. Dies ist indes kein Grund, von der zufallsbasierten Zuweisung abzusehen oder nur dann auf diese zurückzugreifen, wenn eine Einigung der Parteien auf eine Gutachterstelle misslingt. Der vorinstanzlich postulierte Auswahlmodus, wonach das Zufallsprinzip nur bei gescheiterter Einigung greift, führt zu einer grundsätzlichen Priorisierung der einvernehmlichen Gutachtenseinholung und vereitelt insoweit die angestrebte, möglichst gleichmässige Auftragsvergabe an alle MEDAS-Stellen oder begünstigt zumindest, dass einige Anbieter praktisch nie zum Zuge kommen. Nachdem lediglich Gutachterstellen polydisziplinäre Expertisen für die IV-Stellen verfassen dürfen, welche die (organisatorischen und fachlichen) Anerkennungskriterien des BSV erfüllen, kann die IV-Stelle die von der Versicherten vorgeschlagenen MEDAS-Stellen im Wesentlichen nur aus verfahrensökonomischen Gründen ablehnen und wird damit 
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3.2.2. Gleichwohl erwächst der IV-Stelle mit der Verpflichtung, im Rahmen der medizinischen Sachverhaltsabklärung eine bundesrechtliche Verfahrensvorschrift zu missachten, kein nicht wieder gutzumachender Nachteil (Urteil 8C_512/2013 vom 13. Januar 2014 E. 3.5), weshalb ihre Vorbringen keine bundesgerichtliche Anhandnahme der Beschwerde gegen den angefochtenen Zwischenentscheid zu begründen vermögen. Die vorinstanzliche Verpflichtung, im Vorfeld der polydisziplinären Begutachtung zunächst einen Einigungsversuch durchzuführen und erst nach dessen Scheitern die Zufallsvergabe mittels SuisseMED@P in die Wege zu leiten, zwingt die IV-Stelle nicht zum Erlass einer rechtswidrigen Verfügung. Weil keine Partei zu einer einvernehmlichen Gutachtenseinholung verpflichtet werden kann, da hiefür stets eine - nicht verbindlich durchsetzbare - übereinstimmende Willenskundgebung erforderlich ist, bliebe im Fall des Scheiterns einer Konsenssuche die von der IV-Stelle zu treffende Verfügung davon unbeeinflusst (genanntes Urteil 8C_512/2013 E. 3.5). Mangels Erfüllung der Eintretensvoraussetzungen kann daher auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.
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4. Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin steht eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG). Damit wird das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 28. Oktober 2014
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kernen
 
Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle
 
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