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Informationen zum Dokument  BGer 6B_1204/2013  Materielle Begründung
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BGer 6B_1204/2013 vom 06.10.2014
 
{T 0/2}
 
6B_1204/2013
 
 
Urteil vom 6. Oktober 2014
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Mathys, Präsident,
 
Bundesrichter Denys, Oberholzer,
 
Gerichtsschreiber Moses.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Eduard M. Barcikowski,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1.  Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
 
2. B.X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Keller,
 
Beschwerdegegnerinnen.
 
Gegenstand
 
Mehrfache Vergewaltigung, Körperverletzung, Drohung usw.; Willkür, rechtliches Gehör,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 19. September 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
Das Obergericht des Kantons Aargau stellte das Verfahren hinsichtlich des Vorwurfs der mehrfachen Tätlichkeiten ein und bestrafte A.X.________ am 19. September 2013 mit einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. Im Übrigen wies es die Berufung von A.X.________ ab.
1
 
C.
 
 
D.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
 
Erwägung 2
 
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe verschiedene seiner Vorbringen nicht berücksichtigt, und somit seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
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2.1. Das rechtliche Gehör nach Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO und Art. 29 Abs. 2 BV verlangt, dass die Behörde die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Daraus folgt die Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass sie sich mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass sich der Betroffene über die Tragweite des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf die sich ihr Entscheid stützt (BGE 134 I 83 E. 4.1 mit Hinweisen). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst grundsätzlich zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 137 I 195 E. 2.2 mit Hinweis).
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Erwägung 2.2
 
2.2.1. Der Beschwerdeführer machte in vorinstanzlichen Verfahren geltend, die Beschwerdegegnerin 2 habe ohne hinreichenden Grund ein halbes Jahr gewartet, bevor sie Anzeige gegen ihn erstattete. Dies habe sie ausschliesslich aus finanziellem Anlass getan. Die Vorinstanz erwägt diesbezüglich, dass ihr weitere Malträtierungen als akut drohende Gefahr erscheinen musste. Dabei setzt sie sich nicht mit dem Einwand des Beschwerdeführers auseinander, er sei in die Türkei ausgereist, womit für die Beschwerdegegnerin 2 keine Gefahr mehr bestanden habe. Zudem lässt die Vorinstanz in unzulässiger Weise die Frage offen, ob die Beschwerdegegnerin 2 gegen den Beschwerdeführer aus wirtschaftlichen Gründen Anzeige erstattete, obwohl diese erfolgte, nachdem Letzterer gegen sie eine Betreibung für die Unterhaltsansprüche der Kinder einleitete und das Rechtsöffnungsverfahren pendent war. Der generelle Hinweis, späte Anzeigen seien bei Sexualdelikten üblich, genügt in der konkreten Situation nicht.
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2.2.2. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die Beschwerdegegnerin 2 nach der Reise in die Türkei mit ihm Zärtlichkeiten austauschte. Dies entspreche nicht dem Verhalten eines Opfers, welches in den zwei Wochen zuvor jeden zweiten Tag Gewalttätigkeiten und Vergewaltigungen erfahren haben will. Die Vorinstanz erwägt in diesem Zusammenhang, die Beschwerdegegnerin 2 habe erklärt, sie sei bereit gewesen, zum Beschwerdeführer zurückzukehren, soweit es zu keinen sexuellen Übergriffen mehr kommen würde. Wie der Beschwerdeführer zutreffend rügt, setzt sich die Vorinstanz mit ihrer Argumentation nicht mit dem Einwand auseinander, dass der Austausch von Zärtlichkeiten mit den angeblich erlittenen Gewalt nicht vereinbar sei.
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2.2.3. Der Beschwerdeführer führte im vorinstanzlichen Verfahren aus, die Beschwerdegegnerin 2 habe zuerst einen leicht zu erinnernden Standardablauf geschildert, wonach der Beschwerdeführer ihr anlässlich den Vergewaltigungen den Hinterkopf jeweils 20 bis 30 Mal auf den Boden gehauen haben soll. Vor Bezirksgericht habe sie auf die Frage, ob der Beschwerdeführer dies an mehreren Tagen gemacht habe, ihre Aussage relativiert und nunmehr angegeben, er habe ihr auch sonst den Kopf auf den Boden geschlagen, aber nicht mehr so massiv. Daraus folge, dass die erste Aussage der Beschwerdegegnerin 2 eine masslose Übertreibung war, weil sie ansonsten schwere Kopf- oder Gehirnschäden hätte davontragen müssen. Weder Dr. C.________ noch Dr. D.________ hätten so etwas festgestellt. Die Beschwerdegegnerin 2 habe die Unglaubhaftigkeit ihrer Aussage selber erkannt, und diese im Verlauf des Verfahrens angepasst. Die Vorinstanz setzt sich damit nicht auseinander. Der Hinweis, der Beschwerdeführer stelle in Abrede, dass die von Dr. C.________ festgestellten Beeinträchtigungen, nament-lich eine Labyrinthfistel und eine posttraumatische Belastungsstörung von ihm herrühren, und dies die Glaubhaftigkeit der Erklärungen der Beschwerdegegnerin 2 nicht in Frage stelle, ist keine ausreichende Auseinandersetzung mit den konkreten Vorbringen des Beschwerdeführers. Dies gilt umso mehr, als Dr. D.________ am 13. Juli 2009 wegen "persistierenden Kopfschmerzen seit erlittener Gewaltanwendung ca. 1 Woche vorher (gemäss Angaben der Patientin) " eine Schädelcomputertomografie veranlasste (kantonale Akten, pag. 221), dessen Ergebnis als "altersentsprechend normales cranio-celebrales Computertomogramm" beurteilt wurde (kantonale Akten, pag. 218).
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2.2.4. Die Beschwerdegegnerin 2 erklärte vor Bezirksgericht, der Beschwerdeführer habe sie mit heissem Tee übergossen. Der Beschwerdeführer machte im Berufungsverfahren geltend, dass keine entsprechenden Brandverletzungen festgestellt worden seien. Die Vorinstanz erwähnt dies mit keinem Wort.
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2.3. Die von der Vorinstanz nicht berücksichtigten Vorbringen des Beschwerdeführers betreffen zentrale Aspekte und sind geeignet, die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 generell in Frage zu stellen. Die Vorinstanz durfte sie nicht offen bzw. unerwähnt lassen, ohne dabei den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör zu verletzen. Die festgestellten Gehörsverletzungen genügen alleine, um das angefochtene Urteil aufzuheben. Es erübrigt sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese den Sachverhalt neu würdigt. Dabei wird sie sämtliche relevante Vorbringen des Beschwerdeführers - einschliesslich denjenigen, die nicht Anlass zur Aufhebung des angefochtenen Urteils gaben - berücksichtigen müssen.
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Erwägung 3
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 19. September 2013 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Der Kanton Aargau hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.- zu bezahlen.
 
4. Auf das Gesuch der Beschwerdegegnerin 2 um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird nicht eingetreten.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. Oktober 2014
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Mathys
 
Der Gerichtsschreiber: Moses
 
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