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Informationen zum Dokument  BGer 6B_907/2013  Materielle Begründung
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BGer 6B_907/2013 vom 03.10.2014
 
{T 0/2}
 
6B_907/2013
 
 
Urteil vom 3. Oktober 2014
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Mathys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichter Denys, Oberholzer, Rüedi,
 
Gerichtsschreiberin Andres.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Urban Baumann,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Schwyz,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Mehrfache Widerhandlung gegen die Gesundheitsverordnung (etc.); Verletzung des Anklageprinzips, Willkür,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des
 
Kantonsgerichts Schwyz vom 5. August 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
A. X.________ ist als Zahntechniker und Zahnprothetiker bei der A.________ AG mit Praxen in U.________ und V.________ angestellt. Er hält 80 % der Aktien und seine Ehefrau 20 %. Er ist einziges Mitglied des Verwaltungsrats. Die Staatsanwaltschaft wirft X.________ vor, in der Zeit vom 1. Januar 2008 bis 27. Juli 2010 insgesamt 2'300 zahnärztliche Eingriffe ohne Bewilligung vorgenommen und in 66 Fällen rezeptpflichtige Medikamente an seine Patienten abgegeben zu haben.
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B. Das Bezirksgericht Schwyz verurteilte X.________ wegen mehrfacher vorsätzlicher Widerhandlung gegen § 55 Abs. 1 lit. a i.V.m. § 19 Abs. 1 lit. d der Gesundheitsverordnung des Kantons Schwyz vom 16. Oktober 2002 (GesV/SZ; SRSZ 571.110; mit RRB vom 17. Dezember 2013 wurde der Erlasstitel per 1. Januar 2014 auf Gesundheitsgesetz [GesG] geändert, Abl 2013 2930 ff.) in mindestens 1'150 Fällen und mehrfacher vorsätzlicher Widerhandlung gegen Art. 86 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 87 Abs. 1 lit. f des Bundesgesetzes vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte (Heilmittelgesetz, HMG; SR 812.21) in mindestens 33 Fällen. Im Übrigen stellte es das Verfahren wegen Verjährung ein. Es büsste ihn mit Fr. 25'000.-- und zog Fr. 100'000.-- als unrechtmässig erwirtschafteten Gewinn ein.
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C. X.________ beant ragt mit Beschwerde in Strafsachen, der angefochtene Entscheid sei mit Ausnahme von Ziff. 1 (Feststellung der Rechtskraft) und Ziff. 2 Abs. 1a (Freispruch) aufzuheben. Er sei von Schuld und Strafe freizusprechen, und auf eine Einziehung sei zu verzichten.
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D. Das Kantonsgericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Schwyz lässt sich vernehmen, ohne einen Antrag zu stellen.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Der Beschwerdeführer erachtet das Anklageprinzip als verletzt. Die Sachverhaltsumschreibung in der Anklageschrift genüge den Ansprüchen an ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 EMRK nicht. Es müsste erwähnt werden, wann welche Widerhandlung an welchem Patienten vorgenommen worden sein soll. Die Anklageschrift sei in zeitlicher und örtlicher Hinsicht sowie in Bezug auf die Tatausführung nicht hinreichend konkretisiert. Die fehlende zeitliche Individualisierung führe dazu, dass er nicht prüfen könne, welche Handlungen bereits verjährt seien. Die vorinstanzliche Argumentation, er habe anhand seiner EDV-Eintragungen nachvollziehen können, in welchen Fällen die ihm zugerechneten Arbeiten von einem Zahnarzt ausgeführt worden seien, führe zu einer Umkehr der Beweislast.
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1.2. Die Vorinstanz erwägt, aufgrund der geringen Strafdrohung (Busse bis Fr. 100'000.--) seien an das Akkusationsprinzip reduzierte Anforderungen zu stellen. Die Vorwürfe seien in sachlicher und örtlicher Hinsicht präzise umschrieben, was eine hinreichende Individualisierung der zu beurteilenden Taten erlaube und die relative zeitliche Unbestimmtheit der Anklage aufzuwiegen vermöge. Der Beschwerdeführer habe aufgrund der Angaben zu den Tatvorwürfen und der Hinweise auf konkrete Aktenstellen hinreichend erkennen können, welche Vorfälle Gegenstand der Anklage seien (Entscheid S. 16 f.).
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1.3. Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 Abs. 1 StPO) bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens und dient der Information der beschuldigten Person (Umgrenzungs- und Informationsfunktion). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 133 IV 235 E. 6.2 f. S. 244 f.; Urteil 6B_130/2012 vom 22. Oktober 2012 E. 6.2, nicht publ. in: BGE 138 IV 209; je mit Hinweisen).
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1.4. Dem Beschwerdeführer wird in der Anklageschrift vorgeworfen, vom 1. Januar 2008 bis 27. Juli 2010 in seinen beiden Praxen ohne Bewilligung bewilligungspflichtige zahnärztliche Eingriffe, namentlich 327 Untersuchungen, 133 Röntgenbilder, 130 Anästhesien, 172 Zahnreinigungen, 273 chirurgische Behandlungen, 958 konservierende Behandlungen, 71 orthodentische Behandlungen, 3 Setzungen von Implantatpfeilern, 228 Beschleifungen von Zähnen und 5 Parodontitisbehandlungen durchgeführt zu haben. Er habe gewusst, dass es sich bei diesen Eingriffen um Zahnärzten vorbehaltene, bewilligungspflichtige Behandlungen handelt. In der gleichen Zeitspanne habe er in 66 Fällen rezeptpflichtige Arzneimittel an seine Patienten abgegeben, im Wissen, dass er dazu nicht berechtigt ist (Anklageschrift vom 22. Dezember 2010 S. 2).
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1.5. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt (Entscheid S. 16), ist unter dem Gesichtspunkt der Informationsfunktion des Anklageprinzips massgebend, dass die beschuldigte Person genau weiss, was ihr angelastet wird, damit sie ihre Verteidigungsrechte angemessen ausüben kann. Ungenauigkeiten in den Zeitangaben sind solange nicht von entscheidender Bedeutung, als für die beschuldigte Person keine Zweifel darüber bestehen können, welches Verhalten ihr vorgeworfen wird (siehe Urteile 6B_233/2010 vom 6. Mai 2010 E. 2.3 und 6B_830/2008 vom 27. Februar 2009 E. 2.4; je mit Hinweisen).
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Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung. Er bringt vor, die kantonalen Instanzen nähmen willkürlich an, 50 % der angeklagten Vorfälle seien nach dem 25. Mai 2008 erfolgt und nicht verjährt, obwohl die jeweiligen Tatzeitpunkte nie ermittelt worden seien. Gestützt auf den Grundsatz "in dubio pro reo" sei davon auszugehen, dass sämtliche Handlungen verjährt seien. Ferner rügt er unter anderem, die kantonalen Instanzen hätten gestützt auf das Gutachten festgestellt, er habe in 172 Fällen eine subgingivale Zahnreinigung vorgenommen, obwohl es sich um supragingivale Zahnreinigungen gehandelt habe, die einem Zahnprothetiker erlaubt seien. Der Gutachter habe sämtliche Zahnreinigungen, die in den Akten das Kürzel des Beschwerdeführers aufwiesen, als verboten taxiert, obwohl er dies anhand der Patientendossiers gar nicht habe beurteilen können. Indem die kantonalen Instanzen blind auf das widersprüchliche Gutachten abstellen würden, verfielen sie in Willkür.
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2.2. Die Vorinstanz erwägt, die Vorbringen des Beschwerdeführers vermöchten keine erheblichen und unüberwindlichen Zweifel an der Richtigkeit der gutachterlichen Darstellungen zu streuen. Gemäss den Akten sei der Sachverständige bemüht gewesen, zwischen sub- und supragingivaler Zahnreinigung zu differenzieren. Er habe sich sowohl am SSO-Zahnarzttarif als auch am Curriculum eines Zahnprothetikers orientiert. Der Schluss der ersten Instanz, die Erkenntnisse im Gutachten seien stringent und überzeugend, weshalb darauf abzustellen sei, sei sachlich vertretbar. Deren Beweiswürdigung sei weder willkürlich noch verletze sie den Grundsatz "in dubio pro reo" (Entscheid S. 18 ff.).
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2.3. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich im Sinne von Art. 9 BV ist (BGE 139 II 404 E. 10.1 S. 445 mit Hinweisen; zum Begriff der Willkür BGE 139 III 334 E. 3.2.5 S. 339; 138 I 49 E. 7.1 S. 51; je mit Hinweisen) oder wenn sie auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Eine entsprechende Rüge muss klar vorgebracht und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 225 E. 3.2 S. 228 mit Hinweisen). Dem Grundsatz "in dubio pro reo" kommt in seiner vom Beschwerdeführer angerufenen Funktion als Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor Bundesgericht keine Bedeutung zu, die über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgeht (BGE 138 V 74 E. 7 S. 82 mit Hinweisen).
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2.4. Die erste Instanz stützte sich hauptsächlich auf das Gutachten von Dr. med. dent. B.________. Dieser prüfte anhand der Patientenkarten und des EDV-Programms der A.________ AG, welche bewilligungspflichtigen Behandlungen der Beschwerdeführer in der Zeit vom 1. Januar 2008 bis am 27. Juli 2010 vorgenommen hatte. Der Sachverständige wertete insgesamt 2'528 Patientenakten aus und stellte 2'300 unzulässige Behandlungen fest (erstinstanzliches Urteil S. 11). In welchem Zeitpunkt diese Behandlungen vorgenommen worden waren, hielt er im Gutachten nicht fest (kantonale Akten, U-act. 9-32). Hinsichtlich der Verjährung stellte die erste Instanz einzig auf die Aussage des Gutachters ab, wonach es keine auffälligen Spitzenzeiten der Behandlungen gegeben habe, weshalb er schätze, dass 10 bis 15 % in der Zeit vom 1. Januar 2008 bis 25. Mai 2008 stattgefunden hätten (erstinstanzliches Urteil S. 11; kantonale Akten, Protokoll HV, act. 2 S. 16 f.). Der Berechnung des einzuziehenden Betrags legte sie wiederum die Angaben des Sachverständigen zugrunde. Dieser habe anhand der Eintragungen im EDV-Programm vom 1. Januar 2008 bis 15. Februar 2009 eine Honorarsumme von Fr. 276'224.95 ermitteln können, während er vom 16. Februar 2009 bis 27. Juli 2010 noch eine solche von Fr. 25'538.10 geschätzt habe (erstinstanzliches Urteil S. 13; siehe auch kantonale Akten, U-act. 9-32). Demnach soll der Beschwerdeführer in den ersten 13 ½ Monaten für die A.________ AG ein Honorar von Fr. 276'224.95 erzielt haben, während es in den restlichen 17 ½ Monaten nur noch Fr. 25'538.10 gewesen sein sollen. Aufgrund dieser Zahlen ist es schlechterdings unvorstellbar, dass er seine unzulässigen Behandlungen während der gesamten untersuchten Zeit regelmässig vornahm, wie dies der Gutachter in seiner Einvernahme angab. Vielmehr lassen die Beträge darauf schliessen, dass der Beschwerdeführer in der ersten Phase wesentlich mehr bewilligungspflichtige Behandlungen vorgenommen haben muss. Die Angaben des Sachverständigen sind offensichtlich widersprüchlich, weshalb die erste Instanz nicht ohne Weiteres darauf hätte abstellen dürfen. Daran ändert nichts, dass sie "zugunsten des Beschwerdeführers" (vgl. Entscheid S. 23 f.) annahm, 50 % der Behandlungen seien verjährt. Aufgrund der Honorare ist nicht auszuschliessen, dass mehr als 50 % der Behandlungen vor dem 25. Mai 2008 erfolgten. Da nicht willkürfrei erstellt ist, dass der Beschwerdeführer die Behandlungen regelmässig vornahm, kann auch nicht - wie dies die Vorinstanz im Sinne einer Alternativbegründung tut - von einer natürlichen Handlungseinheit ausgegangen werden. Offenbleiben kann, ob Art. 98 lit. b StGB vorliegend überhaupt anwendbar ist.
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2.5. Ferner ist dem Beschwerdeführer zuzustimmen, dass sich dem bei den Akten befindenden Ausdruck eines elektronischen Patientendossiers nicht entnehmen lässt, ob die Zahnreinigung sub- oder supragingival erfolgte. In der Akte findet sich lediglich der Vermerk: "4125*6 (supra/subgingivale Zahnsteinentfernung pro 5 Min) " (kantonale Akten, U-act. 1-14). Während sich die erste Instanz nicht mit der Thematik beschäftigte, erwägt die Vorinstanz, der Gutachter habe anlässlich der Hauptverhandlung ausgeführt, der Beschwerdeführer dürfe supragingivale Zahnreinigungen vornehmen, woraus sich ergebe, dass der Sachverständige die Zahnreinigungen differenziert betrachtet habe (Entscheid S. 19 f.). Dass ihm dies aufgrund der nicht eindeutigen Einträge in den Patientenakten gar nicht möglich war, berücksichtigt die Vorinstanz nicht. Damit kann nicht überprüft werden, ob der Gutachter nur subgingivale Zahnreinigungen erfasste, die der Beschwerdeführer nicht vornehmen durfte. Indem die kantonalen Instanzen dennoch auf das Gutachten abstellen, verletzen sie das Willkürverbot.
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2.6. Aufgrund der dargelegten Widersprüche ergeben sich erhebliche Zweifel an der Schlüssigkeit des Gutachtens. Die Vorinstanz hat das erstinstanzliche Urteil zu Unrecht für willkürfrei befunden. Die erste Instanz hätte weitere Beweiserhebungen vornehmen müssen. Indem sie die offensichtlichen Mängel des Gutachtens nicht berücksichtigte und unbesehen darauf abstellte, verfiel sie in Willkür. Sie wird insbesondere abzuklären haben, wann die angeblich unzulässigen Behandlungen durch den Beschwerdeführer erfolgten.
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3. Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, der Entscheid des Kantonsgerichts Schwyz vom 5. August 2013 aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung an das Kantonsgericht zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Dem Beschwerdeführer werden Gerichtskosten von Fr. 500.-- auferlegt.
 
3. Der Kanton Schwyz hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'250.-- zu bezahlen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Schwyz schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 3. Oktober 2014
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Mathys
 
Die Gerichtsschreiberin: Andres
 
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