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Informationen zum Dokument  BGer 9C_630/2013  Materielle Begründung
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BGer 9C_630/2013 vom 29.09.2014
 
9C_630/2013 {T 0/2}
 
 
Urteil vom 29. September 2014
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kernen, Präsident,
 
Bundesrichter Meyer,
 
Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber Attinger.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau,
 
Ausgleichskasse, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hübscher,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV (hypothetisches Erwerbseinkommen; Anpassungsfrist),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 6. August 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Aargau dem 1950 geborenen A.________ mit Verfügung vom 23. August 2012 rückwirkend ab 1. September 2008 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zugesprochen hatte, meldete sich der Versicherte im September 2012 bei der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, Ausgleichskasse (nachfolgend: SVA), zum Bezug von Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente an. Die SVA entsprach diesem Gesuch mit Wirkung ab 1. September 2008, wobei sie bei den anrechenbaren Einnahmen ab Leistungsbeginn ein hypothetisches Erwerbseinkommen der Ehefrau auf der Grundlage eines 50%igen Teilpensums berücksichtigte (Verfügung vom 14. November 2012 und Einspracheentscheid vom 21. Januar 2013).
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B. Gegen den letztgenannten Punkt wehrte sich A.________ mit Beschwerde ans Versicherungsgericht des Kantons Aargau. Das Gericht hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 6. August 2013 in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid vom 21. Januar 2013 aufhob, den Nachzahlungsbetrag an den Versicherten für den Zeitraum von September 2008 bis November 2012 auf Fr. 37'539.- festsetzte und hinsichtlich der Höhe des EL-Anspruchs ab 1. Dezember 2012 auf seine Erwägungen verwies. Diesen ist zu entnehmen, dass das Versicherungsgericht - nebst einigen weiteren Korrekturen am Einsprachentscheid - die Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens der Ehefrau bejahte, allerdings erst mit Wirkung ab 1. Mai 2013. Für den gesamten vorangehenden Zeitraum ab 1. September 2008 sei (noch) kein Einkommensverzicht anzunehmen. Während eine rückwirkende Berücksichtigung hypothetischen Erwerbseinkommens vor Erlass der EL-Verfügung vom 14. November 2012 ohnehin entfalle, sei der Ehefrau des Versicherten ab diesem Zeitpunkt eine Übergangsfrist von fünf Monaten für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit einzuräumen.
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C. Die SVA führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem sinngemässen Antrag, der angefochtene Entscheid sei dahingehend abzuändern, als das vorinstanzlich ermittelte hypothetische Erwerbseinkommen der Ehefrau bereits ab EL-Anspruchsbeginn vom 1. September 2008 zu berücksichtigen sei. Der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
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Während der Beschwerdegegner auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Auf das Gesuch der SVA um aufschiebende Wirkung der Beschwerde kann nicht eingetreten werden, weil es mit keinem Wort begründet wurde.
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2. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
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3. Nach der Rechtsprechung ist unter dem Titel des Verzichtseinkommens (Art. 11 Abs. 1 lit. a und g ELG) auch ein hypothetisches Einkommen der Ehefrau eines EL-Ansprechers anzurechnen, sofern diese auf eine zumutbare Erwerbstätigkeit oder auf deren zumutbare Ausdehnung verzichtet (BGE 117 V 287). Bei der Ermittlung einer allfälligen zumutbaren Erwerbstätigkeit ist der konkrete Einzelfall unter Anwendung familienrechtlicher Grundsätze zu berücksichtigen. Dementsprechend ist auf das Alter, den Gesundheitszustand, die Sprachkenntnisse, die Ausbildung, die bisherige Tätigkeit, die konkrete Arbeitsmarktlage sowie gegebenenfalls auf die Dauer der Abwesenheit vom Berufsleben abzustellen (BGE 134 V 53 E. 4.1 S. 61; SVR 2007 EL Nr. 1 S. 1, P 40/03 E. 2; AHI 2001 S. 132, P 18/99 E. 1b). Ferner ist bei der Festlegung eines hypothetischen Einkommens zu berücksichtigen, dass für die Aufnahme und Ausdehnung der Erwerbstätigkeit eine gewisse Anpassungsperiode erforderlich und nach einer langen Abwesenheit vom Berufsleben die volle Integration in den Arbeitsmarkt in einem gewissen Alter nicht mehr möglich ist. Dem wird im Rahmen der Ergänzungsleistung dadurch Rechnung getragen, dass der betreffenden Person allenfalls eine realistische Übergangsfrist für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder Erhöhung des Arbeitspensums zuzugestehen ist, bevor ein hypothetisches Erwerbseinkommen angerechnet wird (AHI 2001 S. 132, P 18/99 E. 1b).
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4. Letztinstanzlich ist nur mehr streitig, ab welchem Zeitpunkt das (in seiner Höhe von Fr. 1227.- pro Monat unbestrittene) hypothetische Erwerbseinkommen der Ehefrau in die EL-Berechnung des Beschwerdegegners mit einzubeziehen ist. Letzterer stellt sich in Übereinstimmung mit dem kantonalen Gericht auf den Standpunkt, die Anrechnung könne erst nach Ablauf einer fünfmonatigen Anpassungsfrist (gerechnet ab Erlass der EL-Verfügung vom 14. November 2012), mithin ab 1. Mai 2013 erfolgen. Demgegenüber verlangt die beschwerdeführende SVA die Berücksichtigung des fiktiven Erwerbseinkommens bereits ab Leistungsbeginn, d.h. ab 1. September 2008.
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5. 
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5.1. Unter den Parteien ist zu Recht unbestritten, dass Art. 25 Abs. 4 ELV, wonach die Herabsetzung einer laufenden Ergänzungsleistung von Teilinvaliden und nicht invaliden Witwen infolge der Anrechnung eines Mindesteinkommens nach den Art. 14a Abs. 2 und 14b erst sechs Monate nach Zustellung der entsprechenden Verfügung wirksam wird, in Fällen wie dem hier zu beurteilenden rechtsprechungsgemäss nicht zur Anwendung gelangt, auch nicht analogieweise (SVR 2007 EL Nr. 1 S. 1, P 40/03 E. 3; vgl. auch SVR 2010 EL Nr. 11 S. 31, 9C_67/2010 E. 3.3). Bei nicht invaliden Ehegatten von EL-Ansprechern ist nach den unter E. 3 hievor dargelegten Grundsätzen im Einzelfall eine realistische Übergangsfrist für die zumutbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder Ausdehnung des Arbeitspensums einzuräumen. Anders als die SVA annimmt, gilt dies sowohl für laufende als auch für erstmals beantragte Ergänzungsleistungen (Urteil P 18/99 vom 22. September 2000, AHI 2001 S. 132 E. 1b und 2d, je in fine; Urteile P 28/04 vom 30. August 2004 E. 2.2 und 4.4 sowie P 18/02 vom 9. Juli 2002 E. 1b und 4). Die Vorinstanz hat in Beachtung der einschlägigen Rechtsprechung die Anpassungsfrist für die Ehefrau des Beschwerdegegners nicht offensichtlich unrichtig und daher für das Bundesgericht verbindlich (E. 2 hievor) auf fünf Monate festgesetzt.
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5.2. Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung beginnt diese Übergangsfrist jedoch im Falle einer - wie hier - rückwirkenden EL-Zusprechung gemäss Art. 22 Abs. 1 ELV nicht erst ab Verfügungserlass zu laufen, sondern bereits ab seinerzeitigem Anspruchsbeginn, vorliegend also ab 1. September 2008 (vgl. Urteil 9C_717/2010 vom 26. Januar 2011 E. 5.3 und 7.1 in fine; vgl. auch Urteile P 28/04 vom 30. August 2004 E. 4.4 und P 64/03 vom 27. Februar 2004 E. 3.4). Anders zu entscheiden liefe hier darauf hinaus, der Ehefrau des Beschwerdegegners eine Anpassungsfrist von 4 Jahren und 8 Monaten zuzugestehen, was offenkundig nicht mehr als angemessen gelten kann. Soweit das kantonale Gericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung zur Unterhaltspflicht gemäss Art. 163 ZGB (Urteil 5P.255/2003 vom 5. November 2003, Pra 2004 Nr. 95 S. 552 E. 4.3.2; Urteile 5P.95/2003 vom 28. April 2003 E. 2.3 und 5P.327/2001 vom 18. Februar 2002 E. 3b) die 
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5.3. Nach dem Gesagten ist die Sache an die SVA zurückzuweisen, welche eine neue Verfügung über den EL-Anspruch ab 1. September 2008 zu erlassen haben wird. Diese wird auf bisheriger Berechnungsgrundlage der Verwaltung ergehen und nunmehr eine fünfmonatige, d.h. bis 31. Januar 2009 dauernde Übergangsfrist mit einschliessen, während welcher noch kein hypothetisches Erwerbseinkommen der Ehefrau anzurechnen ist.
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6. Der Beschwerdegegner obsiegt in sehr geringem Umfange, weshalb es sich rechtfertigt, ihm die gesamten Gerichtskosten aufzuerlegen. Aus demselben Grund steht ihm auch keine Parteientschädigung zu.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. August 2013 und der Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau vom 21. Januar 2013 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung über den EL-Anspruch ab 1. September 2008 im Sinne der Erwägungen an die Verwaltung zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 29. September 2014
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kernen
 
Der Gerichtsschreiber: Attinger
 
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