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Informationen zum Dokument  BGer 2C_787/2014  Materielle Begründung
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BGer 2C_787/2014 vom 29.09.2014
 
{T 0/2}
 
2C_787/2014
 
 
Urteil vom 29. September 2014
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Zünd, Präsident,
 
Bundesrichterin Aubry Girardin,
 
Bundesrichter Donzallaz,
 
Gerichtsschreiber Hugi Yar.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Fritz Tanner,
 
gegen
 
Amt für Migration und Integration Kanton Aargau.
 
Gegenstand
 
Ausschaffungshaft/Haftverlängerung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, Einzelrichter, vom 31. Juli 2014.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
 
Erwägung 2
 
2.1. Die Ausschaffungshaft soll den Vollzug der Entfernungsmassnahme sicherstellen und muss ernsthaft geeignet sein, diesen Zweck zu erreichen, was nicht (mehr) der Fall ist, wenn die Weg- oder Ausweisung trotz der behördlichen Bemühungen nicht in einem dem konkreten Fall angemessenen Zeitraum vollzogen werden kann. Die Festhaltung hat, weil unverhältnismässig, dann als unzulässig zu gelten, wenn triftige Gründe für solche Verzögerungen sprechen oder praktisch feststeht, dass sich der Vollzug kaum innert vernünftiger Frist wird realisieren lassen (BGE 130 II 56 E. 4.1.3 S. 61 mit Hinweisen). Die Ausschaffungshaft muss verhältnismässig und zweckbezogen auf die Sicherung des Wegweisungsverfahrens ausgerichtet sein; es muss jeweils aufgrund sämtlicher Umstände geklärt werden, ob sie (noch) geeignet bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot, d.h. das sachgerechte und zumutbare Verhältnis von Mittel und Zweck, verstösst (zur Ausschaffungshaft: BGE 133 II 1 E. 5.1 S. 5 und unpublizierte E. 7; BGE 126 II 439 ff.; zur Durchsetzungshaft: BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97; 133 II 97 E. 2.2 S. 100; Urteil 2C_168/2013 vom 7. März 2013 E. 3). Je länger die Haft andauert, um so höher sind die Anforderungen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit (Urteil 2C_984/2013 vom 14. November 2013 E. 3.2).
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2.2. Die entsprechenden Anforderungen an die ausländerrechtliche Festhaltung ergeben sich aus dem Haftzweck, aus Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK und dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 BV), aber auch aus der für die Schweiz im Rahmen des Schengen-Besitzstands relevanten sog. "Rückführungsrichtlinie" (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98 ff; vgl. ANDRÉ EQUEY, Änderungen im Bereich der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht aufgrund der Übernahme der EG-Rückführungsrichtlinie durch die Schweiz, AJP 2011 S. 924 ff., dort S. 934) : Diese geht grundsätzlich vom Vorrang der freiwilligen Ausreise aus (vgl. Art. 7 RL 2008/115/EG). Machen die Mitgliedstaaten - als "letztes Mittel" - von Zwangsmassnahmen zur Durchführung der Abschiebung von Widerstand leistenden Drittstaatsangehörigen Gebrauch, so müssen diese Massnahmen verhältnismässig sein und dürfen nicht über die Grenzen des Erforderlichen hinausgehen. Sie müssen nach dem einzelstaatlichen Recht im Einklang mit den Grundrechten und unter gebührender Berücksichtigung der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit der betroffenen Personen erfolgen (Art. 8 Abs. 4 RL 2008/115/EG). Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren hängig ist, können nur in Haft genommen werden, wenn im konkreten Fall keine anderen, milderen Zwangsmassnahmen wirksam erscheinen (vgl. EQUEY, a.a.O., S. 936); die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein; sie darf sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, soweit diese mit der gebotenen Sorgfalt vorangetrieben werden (vgl. Art. 15 Abs. 1 RL 2008/115/EG).
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2.3. Der Beschwerdeführer macht zu Recht geltend, dass in seinem Fall kaum mehr innert vernünftiger Frist auf eine dem Völkerrecht entsprechende Mitwirkung der tunesischen Behörden gezählt werden kann, auch wenn die kantonalen Behörden alles ihnen möglich unternommen haben, um die Ausschaffung des Beschwerdeführers zu vollziehen, und von den Behörden nicht schematisch verlangt werden kann, alle zwei Monate bei den ausländischen Behörden vorstellig zu werden (vgl. THOMAS HUGI YAR, § 10 Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2009 Rz. 10.102). Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 10. November 2013 in Ausschaffungshaft. Bereits am 13. August 2012 ersuchte der Kanton das Bundesamt für Migration um Vollzugshilfe bei der Organisation der Ausschaffung des Beschwerdeführers nach Tunesien. Dieses wandte sich am 22. Mai 2013 an die tunesische Botschaft; am 27. September 2013 fragte es dort nach dem Stand des Verfahrens nach. In der Folge ergab anfangs 2014 eine Lingua-Befragung, was bereits als ziemlich sicher bekannt war, nämlich dass der Beschwerdeführer aus Tunesien stammt, worauf das Bundesamt am 12. Februar 2014 einen telefonischen Kontakt mit der Botschaft hatte, wobei ein Botschaftsmitarbeiter mitteilte, es würden eine Geburtsurkunde und Fotos gebraucht. Die zuständige Mitarbeiterin des BFM informierte den Kanton, dass sie Ende Februar 2014 noch einmal persönlich auf der Botschaft vorsprechen werde, ob und mit welchem Erfolg dies geschah, ist nicht erstellt. Am 8. Mai 2014 fand seitens des BFM ein Perspektivengespräch mit dem Beschwerdeführer statt, wobei als weitere Schritte festgehalten wurde: "Identifizierungsprozess weiterführen, erneutes Perspektivengespräch". Auf die Aufforderung des Bundesgerichts hin, im Sinne eines Amtsberichts über die Ausschaffungsaussichten im vorliegenden Fall zu informieren, hat das Bundesamt für Migration nicht reagiert, sodass davon auszugehen ist, dass die Einwände des Beschwerdeführers bezüglich der derzeitigen und weiter absehbaren Schwierigkeiten, für ihn bei den tunesischen Behörden die nötigen Papiere zu beschaffen, zutreffen.
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Erwägung 3
 
3.1. Die Fortsetzung der Haft ist deshalb unverhältnismässig (Verletzung des Übermassverbots), die Beschwerde demnach gutzuheissen, soweit darauf eingetreten wird, und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 31. Juli 2014 aufzuheben und der Beschwerdeführer unverzüglich aus der Haft zu entlassen (vgl. BGE 139 I 206 E. 2.4). Es bleibt den kantonalen Behörden unbenommen, diesem eine Meldepflicht aufzuerlegen oder ihn auf ein bestimmtes Gebiet einzugrenzen (vgl. Art. 74 Abs. 1 lit. b AuG). Eine allfällige Missachtung der Ein- oder Ausgrenzung könnte für den Beschwerdeführer eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe zur Folge haben (Art. 119 AuG; Urteil 2C_1089/2102 vom 22. November 2012 E. 5).
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3.2. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Mit der Gutheissung der Beschwerde wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 BGG). Das Verwaltungsgericht hat über die kantonale Kosten- und Entschädigungsfrage gegebenenfalls neu zu befinden.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. 
 
2. 
 
2.1. Es werden keine Kosten erhoben.
 
2.2. Der Kanton Aargau hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'800.-- zu entschädigen.
 
2.3. Das Verwaltungsgericht hat über die kantonale Kosten- und Entschädigungsfrage neu zu befinden.
 
2.4. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als gegenstandslos abgeschrieben.
 
3. 
 
Lausanne, 29. September 2014
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Zünd
 
Der Gerichtsschreiber: Hugi Yar
 
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