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Informationen zum Dokument  BGer 6B_130/2014  Materielle Begründung
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BGer 6B_130/2014 vom 12.06.2014
 
{T 0/2}
 
6B_130/2014
 
 
Urteil vom 12. Juni 2014
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Mathys, Präsident,
 
Bundesrichter Denys, Oberholzer,
 
Gerichtsschreiber Briw.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, Leitender Oberstaatsanwalt, An der Aa 4, 6300 Zug,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Revision,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zug, Strafabteilung, vom 19. Dezember 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
D.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, aus Art. 385 StGB werde gefolgert, dass die Revision zugunsten des Verurteilten unbefristet zulässig sei. Das kantonale Recht erweise sich als bundesrechtswidrig, wenn es die Revision nur unter Wahrung der relativen 30-tägigen und der absoluten 10-jährigen Frist zulasse. Die 30-tägige Frist erschwere den Zugang zum Gericht gemäss Art. 29 Abs. 1 BV unangemessen und vereitle den Anspruch auf Schadenersatz bei ungerechtfertigtem Freiheitsentzug nach Art. 5 Ziff. 5 und 13 EMRK.
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1.2. Die Vorinstanz stellt fest, der Beschwerdeführer stütze sein Revisionsgesuch auf das Gutachten von Dr. Z.________. Vom Inhalt habe der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers spätestens am 10. Mai 2012 mit der Zustellung der am Vortag erlassenen Verfügung des Vollzugs- und Bewährungsdienstes Kenntnis erhalten. Das Revisionsgesuch sei am 22. März 2013 bei der Post aufgegeben worden und sei am 25. März 2013 beim Obergericht eingegangen. Der Beschwerdeführer habe das Gesuch über zehn Monate nach Bekanntwerden des Revisionsgrundes eingereicht. Damit sei die 30-tägige Frist des kantonalen Rechts nicht gewahrt worden.
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1.3. Gemäss Art. 385 StGB haben die Kantone gegenüber Urteilen, die auf Grund des Strafgesetzbuches oder eines anderen Bundesgesetzes ergangen sind, wegen erheblicher Tatsachen oder Beweismittel, die dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu Gunsten des Verurteilten zu gestatten. Diese Bestimmung ist identisch mit aArt. 397 StGB, weshalb die dazu ergangene Rechtsprechung massgebend bleibt.
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1.4. Gemäss Art. 453 Abs. 1 StPO werden Rechtsmittel gegen Entscheide, die vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 gefällt wurden, nach bisherigem Recht von den bisher zuständigen Behörden beurteilt. Es gelangen die Revisionsgründe zur Anwendung, die im Zeitpunkt des zu revidierenden Entscheids in Kraft waren (Urteil 6B_41/2012 vom 28. Juni 2012 E. 1.1 und 6B_339/2012 vom 11. Oktober 2012 E. 2.2.1).
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1.5. § 76 Abs. 1 StPO/ZG sieht eine Wiederaufnahme im Sinne von Art. 385 StGB vor. Gemäss § 77 StPO/ZG ist das Gesuch binnen 30 Tagen seit Bekanntwerden des Grundes einzureichen, spätestens jedoch in zehn Jahren nach Rechtskraft des abzuändernden Urteils.
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1.6. Die Wiederaufnahme in der vorliegenden Konstellation zugunsten des Verurteilten war in den kantonalen Prozessordnungen in der Regel an keine Frist gebunden (vgl. HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, a.a.O., S. 508 Rz. 4; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 4. Aufl., 2004, S. 440 Rz. 1147; GÉRARD PIQUEREZ, Traité de procédure pénal suisse, 2. Aufl. 2006, S. 783 Rz. 1267).
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1.7. Entgegen der Beschwerde ist eine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV nicht ersichtlich. Es wurde dem Beschwerdeführer nicht verwehrt, sich auf den Revisionsgrund von Art. 385 StGB zu berufen (vgl. oben E. 1.3). Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wirkte als Strafverteidiger bereits im bundesgerichtlichen Verfahren 6B_354/2010 vom 26. Juli 2010 (oben Bst. A). Er hatte vom Inhalt des Gutachtens von Dr. Z.________ spätestens am 10. Mai 2012 mit der Zustellung der am Vortag erlassenen Verfügung des Vollzugs- und Bewährungsdienstes Kenntnis erhalten. Das Revisionsgesuch reichte er erst über zehn Monate nach Bekanntwerden des angerufenen Revisionsgrundes ein (oben E. 1.2). Damit wurde die 30-tägige Frist des kantonalen Rechts nicht gewahrt. Selbst eine 90-tägige Frist, wie sie das Bundesrecht im OG enthielt und im BGG sowie in Art. 411 Abs. 2 StPO bei Entscheiden "in unverträglichem Widerspruch" und bei der Revision aufgrund eines Entscheids des EGMR vorsieht, hätte der Beschwerdeführer nicht eingehalten. Gründe dafür, weshalb ihm ein fristgemässes Vorgehen nicht möglich war, legt er nicht dar. Er belässt es bei abstrakten Vorbringen über eine Bundesrechtswidrigkeit des kantonalen Rechts. Damit fehlt es an einer konkreten und rechtsgenügenden Begründung der Säumnis (Art. 42 Abs. 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. Urteil 2C_706/2010 vom 7. Oktober 2010 E. 2.2).
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1.8. Es ist nicht erkennbar, inwiefern § 77 StPO/ZG im vorliegenden Fall einen Anspruch aus Art. 5 Ziff. 5 und 13 EMRK "vereitelt" (oben E. 1.1) haben sollte.
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1.8.1. Art. 5 Ziff. 5 EMRK findet im schweizerischen Recht als eigenständige Haftungsnorm Anwendung. Die Klage kann nach kantonalem Staatshaftungsrecht erhoben werden (BGE 124 I 274 E. 3d S. 280; 135 IV 43 E. 1.1.2; Urteil 2C_257/2011 vom 25. Oktober 2011 E. 1.1). Die kantonalen Strafprozessgesetze gewährleisten Entschädigungsansprüche für den spezifisch strafprozessualen Freiheitsentzug. So sieht § 57 Abs. 4 StPO/ZG eine Entschädigung für ungesetzliche (rechtswidrige) oder unbegründete (im Nachhinein strafprozessual ungerechtfertigte) Haft vor (zur Terminologie HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, a.a.O., S. 569 Rz. 2). Die Kantone entschädigen aus beiden Gründen (BGE 110 Ia 140 E. 2a S. 142). Ferner gewährleisten das kantonale wie das Bundesrecht (Art. 436 Abs. 4 StPO) Entschädigung und Genugtuung aufgrund von Revisionen.
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1.8.2. Gemäss Art. 5 Ziff. 5 EMRK hat jede Person Anspruch auf Schadenersatz, die unter Verletzung von Art. 5 EMRK von einem Freiheitsentzug betroffen ist, und zwar ohne dass ein Verschulden der freiheitsentziehenden Behörde nachzuweisen ist (BGE 119 Ia 221 E. 6a S. 230). Nach Art. 5 Ziff. 1 EMRK darf die Freiheit "nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden". Der Schadenersatzanspruch aus Art. 5 Ziff. 5 EMRK besteht bei Festnahme oder Freiheitsentzug "unter Verletzung dieses Artikels". Eine Verletzung liegt nicht schon vor, wenn der Freiheitsentzug nachträglich aufgrund einer andern tatsächlichen oder rechtlichen Würdigung aufgehoben wird ( JENS MEYER-LADEWIG, EMRK, 3. Aufl. 2011, S. 114 Rz. 96). Zu entschädigen ist, wenn die Haft aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt war oder sie in einem korrekten Verfahren auf keinen Fall angeordnet worden wäre ( FROWEIN/ PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, S. 138 Rz. 150).
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1.8.3. Im Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 16. März 2010 wurden der Freiheitsentzug und die Massnahme "in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise" gemäss Art. 5 Ziff. 1 lit. a und e EMRK angeordnet. Die Massnahme wurde in der Folge im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK überprüft. Anlässlich einer solchen Überprüfung wurde der Beschwerdeführer gestützt auf die Meinungen des Erst- und des Zweitgutachters, die beide im heutigen Zeitpunkt eine erhebliche Fremdgefährdung verneinen (oben Bst. B), wegen Aussichtslosigkeit der Massnahme und mangels Reststrafe unverzüglich aus der Massnahme entlassen. Der Erstgutachter hielt an seiner Diagnose fest (oben Bst. B). Ein neues Gutachten, das lediglich eine von einem früheren Gutachten abweichende Meinung vertritt bzw. zu einer andern Würdigung gelangt, stellt nicht bereits einen Revisionsgrund dar (BGE 137 IV 59 E. 5.1.2 sowie Urteil 6B_404/2011 vom 2. März 2012 E. 2.2.2).
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1.9. Weil eine Revision in der Sache zum vornherein als aussichtslos erscheint, kann letztlich offenbleiben, wie die Frist von § 77 StPO/ZG einzuordnen ist. Gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG besteht kein rechtlich geschütztes Interesse an der bundesgerichtlichen Beurteilung bloss theoretischer Fragen.
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Erwägung 2
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zug, Strafabteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 12. Juni 2014
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Mathys
 
Der Gerichtsschreiber: Briw
 
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