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Informationen zum Dokument  BGer 2C_914/2013  Materielle Begründung
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BGer 2C_914/2013 vom 30.04.2014
 
{T 0/2}
 
2C_914/2013
 
 
Urteil vom 30. April 2014
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Zünd, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler,
 
Bundesrichterin Aubry Girardin,
 
Gerichtsschreiber Kocher.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Thalhammer,
 
gegen
 
Migrationsamt des Kantons St. Gallen,
 
Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen.
 
Gegenstand
 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung (längerfristige Freiheitsstrafe),
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. August 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
D.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
 
Erwägung 2
 
2.1. Mit Blick auf die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3¼ Jahren ist unstreitig, dass der Beschwerdeführer einen gesetzlich vorgesehenen Grund zum Widerruf seiner Niederlassungsbewilligung (Verurteilung zu einer "längerfristigen Freiheitsstrafe") gesetzt hat, selbst wenn er sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufgehalten hat (Art. 63 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 i. V. m. Art. 62 lit. b AuG). Streitig und zu prüfen ist einzig die Frage der Verhältnismässigkeit des Widerrufs der Niederlassungsbewilligung (BGE 139 I 16 E. 2.1 S. 18 f.; 139 I 31 E. 2.1 S. 32 f.; 137 II 297 E. 2 S. 299 ff.; 135 II 377 E. 4.2 S. 381).
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Erwägung 2.2
 
2.2.1. Der Widerruf einer Niederlassungsbewilligung muss den individuell-konkreten Verhältnissen angepasst sein (Art. 36 Abs. 3 BV i. V. m. Art. 96 Abs. 1 AuG). Zu den landesrechtlich massgebenden Kriterien zählen namentlich die Schwere des Delikts, der Grad des Verschuldens der täterischen ausländischen Person, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das seitherige Verhalten der betreffenden Person, der Grad ihrer Integration, die Dauer der bisherigen Anwesenheit sowie die ihr und ihrer Familie drohenden Nachteile. Die konventionsrechtliche Verhältnismässigkeitsprüfung (Art. 8 Ziff. 2 EMRK; SR 0.101) entspricht jener nach Art. 96 Abs. 1 AuG (BGE 122 II 1 E. 2 S. 5 f.). Die Prüfung kann in einem einzigen Schritt vorgenommen werden (Urteile 2C_551/2013 vom 24. Februar 2014 E. 2.4; 2C_11/2013 vom 25. März 2013 E. 3.1 mit Hinweisen).
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2.2.2. Bei schweren Straftaten, Rückfall und wiederholter Tatbegehung besteht - überwiegende private oder familiäre Bindungen vorbehalten - per se ein öffentliches Interesse daran, zur Aufrechterhaltung der Ordnung bzw. Verhütung von (weiteren) Straftaten die Anwesenheit des Ausländers zu beenden (BGE 139 I 31 E. 2.3.2 S. 34; 130 II 176 E. 4.4.2 S. 190; 125 II 521 E. 4a/aa und 4a/bb S. 526 ff.; 122 II 433 E. 2c S. 436). Unter solchen Umständen muss zum Schutz der Öffentlichkeit ausländerrechtlich selbst ein geringes Risiko weiterer Rechtsgüterverletzungen nicht hingenommen werden und ist der Widerruf der Niederlassungsbewilligung selbst dann möglich, wenn die ausländische Person in der Schweiz geboren worden ist und ihr ganzes bisheriges Leben hier zugebracht hat (Ausländer der zweiten Generation; BGE 139 I 16 E. 2.2.1 S. 19 f.; 139 I 31 E. 2.3.1 S. 33 f.; 135 II 377 E. 4.3 S. 381 f.; in jüngerer Zeit dazu namentlich der Entscheid des EGMR 
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Erwägung 2.3
 
2.3.1. Mit Recht hat die Vorinstanz erwogen, es sei von einem wesentlichen 
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2.3.2. Auch wenn der Beschwerdeführer seit dem Vollzug der zuletzt ausgesprochenen Freiheitsstrafe nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann ihm unter dem Aspekt des Ausländerrechts keine günstige ausländerrechtliche Prognose ausgestellt werden. Im Ausländerrecht herrscht, verglichen mit dem Strafrecht, ein strengerer Massstab (Urteil 2C_718/2013 vom 27. Februar 2014 E. 3.3.4; BGE 130 II 176 E. 4.3.3 S. 188; 120 Ib 129 E. 5b S. 132). Ausschlaggebend ist zudem die Uneinsichtigkeit, die der Beschwerdeführer immer wieder erkennen liess. So hat er - teils auch während laufender Probezeit - in hochwertige Rechtsgüter Dritter eingegriffen, was per se ein öffentliches Interesse begründet (vorne E. 2.2.2). Die mit Urteil vom 10. April 2007 angeordnete ambulante Behandlung und persönliche Betreuung musste, trotz schon damals schlechter Prognose, abgebrochen werden (vorne lit. B).
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2.3.3. Die Vorinstanz hat sodann festgestellt, der Beschwerdeführer sei während des Vollzugs der 3¼-jährigen Freiheitsstrafe wegen Flucht von einer offenen in eine geschlossene Anstalt verlegt worden. Der Vollzug sei von zahlreichen Disziplinarmassnahmen geprägt gewesen, vorab im Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenkonsum. Der Beschwerdeführer bringt zwar vor, ihm seien entsprechende Unterlagen, soweit ersichtlich, nie zugestellt worden. In Verletzung des rechtlichen Gehörs habe er dazu auch nie Stellung nehmen können. Indessen befinden sich die Schriftstücke, welche diese Aussagen belegen, in den vorinstanzlichen Akten. Diese können vom Bundesgericht ergänzend zu den ausdrücklichen Feststellungen herangezogen werden (Art. 105 Abs. 2 BGG). Der Beschwerdeführer macht indes nicht geltend, ihm sei die Einsicht in die Akten verwehrt worden. Auch diese vorinstanzlichen Feststellungen sind daher für das Bundesgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG). Vor diesem Hintergrund ist auch die Folgerung der Vorinstanz nicht zu beanstanden, wonach die Prognose auf ein künftiges Wohlverhalten beeinträchtigt sei und ein wesentliches öffentliches Interesse daran bestehe, dem Beschwerdeführer das Anwesenheitsrecht in der Schweiz zu entziehen.
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2.3.4. Die Einwände des Beschwerdeführers zielen denn auch am Kern vorbei. So räumt er zwar ein "punktuell inakzeptables Verhalten" ein, was er mit einer "schwierigen Pubertät" in Verbindung bringt. Hinsichtlich des zuletzt ausgesprochenen Urteils vom 28. September 2011 macht er aber geltend, es gehe "nicht um fortgesetzte kriminelle Handlungen in einer zusammenhängenden Serie", sondern um eine "Vielzahl unterschiedlichster Delikte". Er stellt sich auf den Standpunkt, die Schwere des Verschuldens dürfe nicht gesamthaft beurteilt werden, sondern rufe nach einer Beurteilung "für jedes einzelne Delikt". Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Sanktion für die gewichtigste Straftat "nur knapp über einem Jahr" liege. Dabei übersieht er freilich, dass nach bundesgerichtlicher Praxis zwar mehrere unterjährige Strafen nicht kumuliert werden dürfen (BGE 139 I 16 E. 2.1 S. 18; 139 I 31 E. 2.1 S. 32). Im Übrigen aber verlangt das Bundesrecht keine gesonderte Betrachtung der in einem einzigen Urteil zusammengefassten Einzelstraftaten, die insgesamt zu einer "längerfristigen Freiheitsstrafe" führen. Angesichts des Strafmasses von 3¼ Jahren steht die "Längerfristigkeit" der Freiheitsstrafe, von welcher Art. 62 lit. b AuG spricht und worauf Art. 63 Abs. 1 lit. a bzw. Abs. 2 AuG Bezug nehmen, ausser Zweifel. Zudem weist gerade der Umstand, dass der Beschwerdeführer mehrere voneinander unabhängige Delikte begangen hat, auf eine erhebliche Wiederholungsgefahr hin.
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Erwägung 2.4
 
2.4.1. Es stellt sich die weitere Frage nach dem 
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2.4.2. Die Vorinstanz erwägt mit Blick auf den strafrechtlichen Leumund, den Umgang hauptsächlich mit Landsleuten und die beruflichen Verhältnisse, es fehle an einer vertieften Integration des Beschwerdeführers in die hiesigen Verhältnisse und damit an einer engen Verbundenheit zur Schweiz. Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, er lebe seit rund 22 Jahren in der Schweiz und sei mit dem Land eng verbunden. Abgesehen von seinem "Fehlverhalten im Teenageralter" sei er vollauf integriert. Er erziele ein regelmässiges Erwerbseinkommen. Den Umstand, dass kein schriftliches Zwischenzeugnis vorliege, habe nicht er, der Beschwerdeführer, zu vertreten. Im Wesentlichen aber beruft er sich auf ein seit eineinhalb Jahren dauerndes Konkubinat mit seiner Langzeitfreundin.
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2.4.3. Dazu ist Folgendes zu sagen: Praxisgemäss können neben der eigentlichen Kernfamilie (dazu BGE 140 I 77 E. 5.1 S. 80; Urteil 2C_605/2012 vom 20. Februar 2013 E. 3.2; Urteil des EGMR 
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2.4.4. Auch die Vorinstanz geht davon aus, dass der Beschwerdeführer und seine Freundin eine Langzeitbeziehung unterhalten. Vor Bundesgericht beruft sich der Beschwerdeführer indes auf einen gemeinsamen Haushalt mit seiner Freundin. Seinen Angaben zufolge soll das Konkubinat schon eineinhalb Jahre andauern. Die Vorinstanz, die ihr Urteil Ende August 2013 fällte, hält vor Bundesgericht vernehmlassungsweise fest, bei den im bundesgerichtlichen Verfahren eingereichten Dokumenten handle es sich um Beweismittel, die ihr nicht vorgelegen hätten. Dem hat der Beschwerdeführer nicht widersprochen. Echte Noven haben vor Bundesgericht indessen unberücksichtigt zu bleiben (Art. 105 Abs. 1 und Art. 99 Abs. 1 BGG). Unter diesen Aspekten entfällt ein Anspruch auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 Ziff. 1 EMRK). Was einen Anspruch auf Achtung des Privatlebens betrifft, erübrigt sich eine Prüfung. Zum einen hat der Beschwerdeführer gar keinen solchen Anspruch behauptet, was aber Bedingung ist (Art. 106 Abs. 2 BGG), zum andern wären die Voraussetzungen für einen Eingriff (Art. 8 Ziff. 2 EMRK) nach dem Gesagten ohnehin erfüllt.
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2.4.5. Die geltend gemachten privaten Interessen vermögen das erhebliche öffentliche Interesse an der Fernhaltung bzw. Wegweisung des Beschwerdeführers nicht zu überwiegen. Die Rückkehr in die Heimat ist dem Beschwerdeführer zumutbar. Es liegt auf der Hand, dass die Rückkehr des kurdischstämmigen Beschwerdeführers in die Türkei nicht ohne anfängliche Schwierigkeiten zu bewerkstelligen sein wird. Immerhin dürfte er die lokale Sprache in einem Ausmass beherrschen, das eine Verständigung ermöglicht. Er ist 24-jährig, hat in der Schweiz die Schule besucht und dürfte sich in der Lage befinden, sich rasch in die lokalen Verhältnisse einzuleben. Seine handwerklichen Fertigkeiten tragen dazu bei, bald eine wirtschaftliche Existenz aufbauen zu können. Nichts anderes ergibt sich aus der Langzeitbeziehung zu seiner Freundin. Angesichts der wiederholten Verurteilungen musste sich diese bewusst sein, dass kaum eine realistische "Bleiberechtsperspektive" bestand (Urteil 2C_170/2013 vom 20. Juni 2013 E. 3.5 mit Hinweisen).
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2.5. Bundes- (Art. 95 lit. a BGG) und Völkerrecht (Art. 95 lit. b BGG) werden damit durch den angefochtenen Entscheid nicht verletzt. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist deshalb abzuweisen.
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Erwägung 3
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. 
 
2. 
 
3. 
 
Lausanne, 30. April 2014
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Zünd
 
Der Gerichtsschreiber: Kocher
 
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