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Informationen zum Dokument  BGer 9C_47/2014  Materielle Begründung
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BGer 9C_47/2014 vom 01.04.2014
 
{T 0/2}
 
9C_47/2014
 
 
Urteil vom 1. April 2014
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kernen, Präsident,
 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiber Traub.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
O.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Josef Flury,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom
 
5. November 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Mit Verfügung vom 29. April 2010 lehnte die IV-Stelle des Kantons Luzern das Gesuch der 1957 geborenen O.________ um Leistungen der Invalidenversicherung ab. Nachdem das damalige kantonale Verwaltungsgericht die Sache am 27. Juli 2011 zur psychiatrischen Abklärung an die Verwaltung zurückgewiesen hatte, holte die IV-Stelle unter anderem ein (am 24. Januar 2012 erstattetes) Gutachten des Dr. M.________ ein. Sie lehnte das Leistungsgesuch (Verfügung vom 13. April 2012) sowie das Gesuch um unentgeltliche Rechtsvertretung im Verwaltungsverfahren (Verfügung vom 23. April 2012) ab.
1
B. Das Kantonsgericht Luzern wies die gegen beide Verfügungen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 5. November 2013).
2
C. O.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht, eventuell an die IV-Stelle, zurückzuweisen, damit die betreffende Behörde ein interdisziplinäres Gutachten einhole und anschliessend den Anspruch neu beurteile. Für das Verwaltungsverfahren sei ihr die unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu gewähren. Schliesslich ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Rechtsverbeiständung) im bundesgerichtlichen Verfahren.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
4
Dem vorinstanzlichen Sachgericht steht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur ein, wenn die Vorinstanz diesen missbraucht, insbesondere offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder willkürlich ausser Acht lässt (BGE 132 III 209 E. 2.1 S. 211; zum Begriff der Willkür BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5; Urteil 9C_1019/2012 vom 23. August 2013 E. 1.2.3).
5
2. 
6
2.1. Die Beschwerdeführerin lässt geltend machen, das kantonale Gericht habe Bundesrecht verletzt, indem es auf das psychiatrische Administrativgutachten des Dr. M.________ vom 24. Januar 2012 abgestellt hat.
7
2.1.1. Dazu wird in der Beschwerdeschrift zunächst vorgebracht, die anamnestische Grundlage der Expertise sei unvollständig, weil traumatisierende Erlebnisse (vgl. Psychiatrisch-konsiliarischer Bericht der Frau Dr. G.________ vom 12. Mai 2012) unberücksichtigt geblieben seien (Beschwerdeschrift Ziff. 32 und 39). Das Gutachten verfehle damit die Anforderungen gemäss den Leitlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie für die Begutachtung psychischer Störungen (Schweizerische Ärztezeitung, SAeZ 2004 S. 1048 ff.). Die Lücken im anamnestischen Teil des Administrativgutachtens (S. 13 ff.) stellen dessen diagnostische Festlegungen (S. 19 ff.) jedoch nicht so klar in Frage, dass die - entscheidwesentlichen - Folgerungen hinsichtlich des verwertbaren Leistungsvermögens (S. 29 ff.) offensichtlich unrichtig wären (vgl. oben E. 1).
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2.1.2. Weiter macht die Beschwerdeführerin geltend, die Vorinstanz habe den Sachverhalt willkürlich festgestellt, was die Erfassung von organischen Grundlagen für das (psychische) Leiden angehe. Es treffe nicht zu, dass keine solchen gefunden worden seien. Vielmehr seien eine Spondylarthrose L5/S1 sowie Kopfschmerzen bei angstbetonter Depression diagnostiziert worden (Beschwerdeschrift Ziff. 36 und 41).
9
Der Administrativsachverständige hat dem Einfluss somatischer Begleitbefunde auf das psychiatrische Zustandsbild durchaus Rechnung getragen, indem er die alternativen Verdachtsdiagnosen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 Ziff. F45.4) oder einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41) diskutiert hat (Gutachten S. 26 ff.). Jedenfalls aber ist auch in diesem Punkt nicht ersichtlich, inwiefern die Massgeblichkeit einer Differentialdiagnose an der im Gutachten (S. 29 ff.) ausführlich hergeleiteten Einschätzung der Arbeitsfähigkeit etwas ändern könnte.
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2.2. Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, dass die vorinstanzliche Würdigung des medizinischen Dossiers in E. 5 des angefochtenen Entscheids knapp ausgefallen ist (vgl. Beschwerdeschrift Ziff. 29, 33 und 38). Dennoch kann dahingestellt bleiben, ob damit eine Bundesrecht (Untersuchungsgrundsatz, Grundsatz der freien Beweiswürdigung und Begründungspflicht; Art. 61 lit. c und h ATSG) verletzende Sachverhaltsfeststellung (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG) verbunden ist: Nach dem Gesagten erscheint die gutachterliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit selbst dann nicht offensichtlich unrichtig, wenn das von der Beschwerdeführerin vertretene Verständnis der medizinischen Sachlage zugrundegelegt wird. Die nach Erlass der Verwaltungsverfügung vom 13. April 2012 erfolgte Beurteilung der Frau Dr. G.________ (psychiatrisch-konsiliarischer Bericht vom 12. Mai 2012) spielt in diesem Verfahren keine Rolle mehr (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220). Insoweit bedarf es hier von Bundesrechts wegen keiner weiteren Abklärung des medizinischen Sachverhalts.
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3. Schliesslich beantragt die Beschwerdeführerin, es sei ihr die unentgeltliche Rechtsvertretung im Verwaltungsverfahren zu gewähren.
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Im Sozialversicherungsverfahren wird der gesuchstellenden Person gemäss Art. 37 Abs. 4 ATSG ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt, wo die Verhältnisse es erfordern. Vorausgesetzt ist, dass die gesuchstellende Partei bedürftig, ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos und die Vertretung im konkreten Fall sachlich geboten ist. Die Vorinstanz erkannte, die IV-Stelle habe die unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren zu Recht abgelehnt (E. 6). Diese Beurteilung hält sich im Rahmen der Rechtsprechung zu Art. 37 Abs. 4 ATSG. Danach drängt sich unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Gebotenheit eine anwaltliche Verbeiständung nur in Ausnahmefällen auf, wenn schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragestellungen dies als notwendig erscheinen lassen undeine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 132 V 200 E. 4.1 S. 201). Namentlich war die IV-Stelle, anders als im Urteil 9C_878/2012 vom 26. November 2012 (E. 3.6), nicht verpflichtet, die Beschwerdeführerin (unter Hinweis auf den Grundsatz der Subsidiarität anwaltlicher Vertretung) darauf aufmerksam zu machen, dass sie bei sozialen Einrichtungen ein entsprechendes Gesuch stellen kann. Im zitierten Urteil hatte der Versicherte - im Gegensatz zur Beschwerdeführerin - für die Verwaltung ersichtlich Kontakt mit solchen Einrichtungen aufgenommen, auf dass diese ihn im Verwaltungsverfahren rechtskundig verträten. Die Hinweispflicht der IV-Stelle ergab sich dort aus dem Umstand, dass die kontaktierten Stellen indes (ihren jeweiligen Aufgabenbeschreibungen nach) keine qualifizierte Hilfestellung in IV-Verfahren anboten.
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4. Der angefochtene Entscheid verletzt nach dem Gesagten insgesamt kein Bundesrecht.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Nach Art. 64 Abs. 4 BGG hat die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. Rechtsanwalt Josef Flury wird zum unentgeltlichen Anwalt der Beschwerdeführerin bestellt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 1. April 2014
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kernen
 
Der Gerichtsschreiber: Traub
 
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