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Informationen zum Dokument  BGer 6B_940/2013  Materielle Begründung
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BGer 6B_940/2013 vom 31.03.2014
 
{T 0/2}
 
6B_940/2013
 
 
Urteil vom 31. März 2014
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Mathys, Präsident,
 
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
 
Gerichtsschreiberin Andres.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Marbacher,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Einsprache gegen Strafbefehl (Üble Nachrede, Verleumdung), Wiederherstellung der Einsprachefrist, Zustellfiktion,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Kantonsgerichts Luzern, 1. Abteilung, vom 23. August 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
D.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
 
Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass ihm die Abholungseinladung der Post für die eingeschriebene Sendung nicht zugekommen sei. Die Rechtsprechung, wonach der Beschuldigte zu beweisen habe, dass der Avis nicht in seinem Briefkasten hinterlegt worden sei, verletze Art. 84 f. StPO und Art. 8 ZGB.
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2.1.1. Die Beweislast für die Zustellung von Entscheiden trägt die Behörde. Entgegen dieser allgemeinen Beweislastverteilung gilt bei eingeschriebenen Sendungen eine widerlegbare Vermutung, dass der Postangestellte den Avis ordnungsgemäss in den Briefkasten oder in das Postfach des Empfängers gelegt hat und das Zustellungsdatum korrekt registriert worden ist. Dies gilt namentlich auch dann, wenn die Sendung im elektronischen Suchsystem "Track & Trace" der Post erfasst ist, mit welchem es möglich ist, die Sendung bis zum Empfangsbereich des Empfängers zu verfolgen. Es findet in diesem Fall eine Umkehr der Beweislast in dem Sinne statt, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zuungunsten des Empfängers ausfällt, der den Erhalt der Abholungseinladung bestreitet. Diese Vermutung kann durch den Gegenbeweis umgestossen werden. Sie gilt so lange, als der Empfänger nicht den Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung erbringt. Da der Nichtzugang einer Abholungseinladung eine negative Tatsache ist, kann dafür naturgemäss kaum je der volle Beweis erbracht werden. Die immer bestehende theoretische Möglichkeit eines Fehlers bei der Poststelle genügt nicht, um die Vermutung zu widerlegen, solange nicht konkrete Anzeichen für einen derartigen Fehler vorhanden sind (zum Ganzen: Urteile 6B_276/2013 vom 30. Juli 2013 E. 1.3; 1B_695/2011 vom 25. September 2012 E. 3.3; 2C_128/2012 vom 29. Mai 2012 E. 2.2; 2C_38/2009 vom 5. Juni 2009 E. 3.2 und 4.1; je mit Hinweisen).
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2.1.2. Nach den Feststellungen der Vorinstanz wurde der Strafbefehl durch eingeschriebene Postsendung am 12. Oktober 2012 um 17.29 Uhr in Sursee aufgegeben und am 15. Oktober 2012 dem Beschwerdeführer an dessen Wohnsitz zur Abholung gemeldet. Da dieser ihn bei der Poststelle nicht abholte, wurde er nach Ablauf der siebentägigen Abholfrist am 23. Oktober 2012 der Staatsanwaltschaft als "nicht abgeholt" retourniert (Beschluss S. 5 Ziff. 3.3; kantonale Akten, act. 4/4). Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer führe keine besonderen Umstände an, die für die Pflichtwidrigkeit eines Postangestellten bei der Verteilung der Abholungseinladung sprächen. Entgegen seinem Vorbringen habe dem Beschwerdeführer bereits früher eine Gerichtsurkunde durch die Post nicht zugestellt werden können. Es bestehe kein Anlass von der konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen (Beschluss S. 5 f. Ziff. 3.3).
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2.1.3. Der Beschwerdeführer weist auf verschiedene Lehrmeinungen hin, wonach der Staat die Beweislast trage, wenn er sich bei der Zustellung eines Erfüllungsgehilfen bediene. Es sei für den Beschuldigten kaum möglich, den Beweis zu erbringen, dass eine Abholungseinladung nicht hinterlegt worden sei, weshalb die allgemeine Beweislastregel von Art. 8 ZGB gelte (Beschwerde S. 16 ff. Ziff. 21 ff. mit Hinweis auf: STEFAN CHRISTEN, Anwesenheitsrecht im schweizerischen Strafprozessrecht mit einem Exkurs zur Vorladung, Zürcher Studien zum Verfahrensrecht, Bd. 161, 2010, S. 135 ff.; NINA J. FREI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2012, N. 29 zu Art. 138 ZPO; EVA-MARIA STROBEL, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 18 zu Art. 138 ZPO). Er legt jedoch nicht dar, inwiefern die von der Rechtsprechung aufgestellte Vermutung Art. 84 f. StPO und Art. 8 ZGB verletzt.
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2.1.4. Der von der Vorinstanz aus der Zugangsvermutung gezogene Schluss, der Gegenbeweis zur ordnungsgemässen Zustellung sei nicht erbracht, stellt eine Beweiswürdigung dar, welche das Bundesgericht nur auf Willkür überprüft (Urteil 2C_128/2012 vom 29. Mai 2012 E. 2.4; zur Willkür: BGE 138 I 49 E. 7.1). Der Beschwerdeführer beschränkt sich darauf, die Rechtsprechung infrage zu stellen, äussert sich jedoch nicht zu den konkreten Umständen und den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz. Insbesondere bringt er nichts vor, was auf eine Pflichtwidrigkeit eines Postangestellten hinweisen würde. Die Rüge ist unbegründet.
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2.2. Der Beschwerdeführer wendet ein, er habe weder mit einer eingeschriebenen Postsendung noch mit einem Strafbefehl rechnen müssen, da die Staatsanwaltschaft Vorladungen angekündigt habe. Die Vorinstanz verletze Art. 85 Abs. 4 lit. a und Art. 3 StPO sowie verschiedene Verfassungsbestimmungen (Art. 5 Abs. 2 und 3, Art. 9, 29 Abs. 2, Art. 29a sowie 30 BV), indem sie sich auf die Zustellfiktion berufe.
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2.2.1. Gemäss Art. 354 Abs. 1 StPO ist die Einsprache innert 10 Tagen bei der Staatsanwaltschaft einzureichen. Nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO gilt eine eingeschriebene Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als zugestellt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste. Die Begründung eines Verfahrensverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, d.h. unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akte zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 139 IV 228 E. 1.1 S. 230; 138 III 225 E. 3.1 S. 227; 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399; je mit Hinweisen). Von einem Verfahrensbeteiligten ist zu verlangen, dass er um die Nachsendung seiner an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz besorgt ist, allenfalls längere Ortsabwesenheiten der Behörde mitteilt oder einen Stellvertreter ernennt (BGE 139 IV 228 E. 1.1 S. 230; 119 V 89 E. 4b/aa; Urteil 6B_32/2014 vom 6. Februar 2014 E. 3; je mit Hinweisen).
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2.2.2. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass ein Verfahrensverhältnis bestand und er mit Mitteilungen der Staatsanwaltschaft rechnen musste. Er hatte zu gewährleisten, dass ihm diese zugestellt werden können. Eine etwaige Abwesenheit hätte er der Staatsanwaltschaft melden müssen. Andernfalls hätte er einen Stellvertreter organisieren müssen. Dabei ist irrelevant, ob er mit einer Vorladung oder einem Strafbefehl rechnete bzw. rechnen musste (siehe Beschwerde S. 10 f. Ziff. 16). Seine Ausführungen, wonach er aufgrund des Hinweises der Staatsanwaltschaft in der Eröffnungsverfügung lediglich Vorladungen habe erwarten müssen, gehen an der Sache vorbei. Jedenfalls ist die vorinstanzliche Interpretation, ihm sei nicht verbindlich mitgeteilt worden, dass im August und September 2012 erste Vorladungen verschickt würden, nicht zu beanstanden (Beschluss S. 5 Ziff. 3.3).
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2.2.3. Sein Vorbringen ist unbegründet, er habe darauf vertrauen dürfen, weitere Mitteilungen würden ihm wie die Eröffnungsverfügung an seine Geschäftsadresse geschickt. Der Strafbefehl wurde ihm gesetzeskonform an seinem Wohnsitz zugestellt (Art. 87 StPO).
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2.2.4. Unbehelflich ist sein Einwand, er habe nicht mit einer eingeschriebenen Sendung rechnen müssen, da Vorladungen mit normaler Post versendet würden. Gemäss Art. 201 Abs. 1 i.V.m. Art. 85 Abs. 2 StPO ergehen Vorladungen der Staatsanwaltschaft schriftlich und werden durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung zugestellt. Hinzu kommt, dass Vorladungen im Vorverfahren lediglich drei Tage vor der Verfahrenshandlung zugestellt werden können (Art. 202 Abs. 1 lit. a StPO). Da er gemäss eigenen Angaben mit einer Vorladung rechnete, hätte der Beschwerdeführer gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben gewährleisten müssen, dass sie ihm zugestellt werden und er innert Frist darauf reagieren kann. Dass eine verpasste Einvernahme für ihn andere Folgen gezeitigt hätte als eine verpasste Einsprachefrist, ist irrelevant (siehe Beschwerde S. 11 Ziff. 16).
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2.2.5. Weder seiner Beschwerdeschrift noch den Akten ist zu entnehmen, weshalb der Beschwerdeführer das Einschreiben nicht entgegennahm oder später bei der Post abholte. Er verweist in der Beschwerdeschrift lediglich darauf, dass in seinem Wohnsitzkanton vom 6.-21. Oktober 2012 Herbstferien waren. Da die von ihm erwartete Vorladung in den Monaten August und September 2012 nicht erfolgte, hätte er sich - sollte er tatsächlich anfangs Oktober in die Ferien verreist sein - bei der Staatsanwaltschaft erkundigen müssen, wann mit dieser zu rechnen sei. Keinesfalls musste die Staatsanwaltschaft berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer während der kantonalen Herbstferien ferienabwesend sein könnte (vgl. Beschwerde S. 16 Ziff. 20). Ferner wäre es ihm möglich gewesen, die eingeschriebene Postsendung am Montag, 22. Oktober 2012, bei der Post abzuholen.
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2.3. Die Rügen sind unbegründet, sofern sie überhaupt die Begründungsanforderungen erfüllen (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG). Der Beschwerdeführer musste mit einer (eingeschriebenen) Mitteilung der Staatsanwaltschaft rechnen. Deren Inhalt, Form und Rechtsfolgen sind nicht massgebend. Es wird vermutet, dass die Abholungseinladung in seinem Briefkasten hinterlegt wurde. In Anwendung der Zustellfiktion von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO gilt der Strafbefehl vom 11. Oktober 2012 am 22. Oktober 2012 als zugestellt. Die Einsprachefrist endete am 1. November 2012, womit die Einsprache des Beschwerdeführers vom 11. Dezember 2012 verspätet war.
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Erwägung 3
 
 
Erwägung 4
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 31. März 2014
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Mathys
 
Die Gerichtsschreiberin: Andres
 
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