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Informationen zum Dokument  BGer 6B_908/2013  Materielle Begründung
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BGer 6B_908/2013 vom 20.03.2014
 
{T 0/2}
 
6B_908/2013
 
 
Urteil vom 20. März 2014
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Mathys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichter Denys, Oberholzer, Rüedi,
 
Gerichtsschreiber Briw.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Stieger,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Vorladung im Strafbefehlsverfahren, Säumnis, rechtliches Gehör,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 5. August 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
 
Erwägung 2
 
2.1. Die Beschwerdeführerin rügt, das von der Vorinstanz angenommene Desinteresse am Fortgang des Einspracheverfahrens beruhe auf einer doppelten Fiktion. Zuerst werde die Kenntnis der Vorladung fingiert, um anschliessend aus dem durch Unkenntnis der Vorladung bedingten Fernbleiben auf den Rückzug der Einsprache zu schliessen. Die Annahme eines Einspracherückzugs lasse sich nur rechtfertigen, wenn die beschuldigte Person bewusst der Einvernahme fernblieb, und dies setze voraus, dass sie tatsächlich Kenntnis von der Vorladung hatte.
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2.2. Wie die Vorinstanz feststellt, wurde die Vorladung ordnungsgemäss mit eingeschriebener Postsendung zugestellt, am 29. Januar 2013 zur Abholung gemeldet und am 6. Februar 2013 mit dem Vermerk "nicht abgeholt" an die Staatsanwaltschaft retourniert. Die Beschwerdeführerin weilte vom 28. Januar bis 8. Februar 2013 in Norddeutschland in den Ferien.
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2.3. Das Bundesgericht legte im Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5 mit einlässlicher Begründung dar, dass der Strafbefehl mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) bzw. dem konventionsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu einem Gericht mit voller Überprüfungskompetenz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) nur vereinbar ist, weil es letztlich vom Willen des Betroffenen abhängt, ob er diesen akzeptieren oder mit Einsprache vom Recht auf gerichtliche Überprüfung Gebrauch machen will. Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung des Einspracherechts dürfe ein konkludenter Rückzug der Einsprache gegen den Strafbefehl nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen der Schluss aufdrängt, er verzichte mit seinem Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz. Der vom Gesetz an das unentschuldigte Fernbleiben geknüpfte (fingierte) Rückzug der Einsprache setze voraus, dass sich der Beschuldigte der Konsequenzen seiner Unterlassung bewusst ist und er in Kenntnis der massgebenden Rechtslage auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet.
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2.4. Gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO ist die Zustellung bei einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch erfolgt, "sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste". Es handelt sich um eine gesetzliche Zustellungsfiktion. Dabei erfolgt keine wirkliche Übergabe, sondern es wird aus einem bestimmten Vorgang abgeleitet, die Sendung sei zur Kenntnis des Adressaten gelangt ( HAUSER/SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, 2002, N. 2 zu § 177 GVG). Art. 85 StPO betrifft nach Gesetzessystematik und Wortlaut die "Eröffnung der Entscheide und Zustellung". Der Begriff der "Zustellung" bezieht sich auf Entscheide. Andere Mitteilungen können mit persönlicher Post zugestellt werden ( FRANZ RICKLIN, StPO, Kommentar, 2010, N. 2 zu Art. 85 StPO).
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2.5. Die einzelnen Bestimmungen der Strafprozessordnung sind im Gesamtzusammenhang des Gesetzes auszulegen. Die verfahrensmässige Durchsetzung des Strafrechts ist das einschneidendste Zwangsmittel der staatlichen Gewalt (Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 S. 1128). Das Gesetz stellt deshalb mit den "Grundsätzen des Strafverfahrensrechts" in Art. 3 StPO die Achtung der Menschenwürde und das Fairnessgebot an den Anfang der Kodifikation. Als Konkretisierungen dieser Grundsätze nennt Art. 3 Abs. 2 StPO namentlich den Grundsatz von Treu und Glauben (lit. a), das Verbot des Rechtsmissbrauchs (lit. b), das Gebot, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen das rechtliche Gehör zu gewähren (lit. c), sowie das Verbot, bei der Beweiserhebung Methoden anzuwenden, welche die Menschenwürde verletzen (lit. d). Die ratio legis verbietet damit eine formalistische Betrachtungsweise einzelner Bestimmungen.
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2.6. Der Strafbefehl ist ein Vorschlag zur aussergerichtlichen Erledigung der Strafsache. Einziger Rechtsbehelf ist die Einsprache. Sie ist kein Rechtsmittel, sondern löst das gerichtliche Verfahren aus, in dem über die Berechtigung der im Strafbefehl enthaltenen Deliktsvorwürfe entschieden wird (Botschaft a.a.O., S. 1291 zu Art. 358 E-StPO bzw. Art. 355 StPO). Wird Einsprache erhoben, liegt die Sache zunächst wieder bei der Staatsanwaltschaft. Sie trägt damit die Verantwortung für die Einhaltung der "Grundsätze des Strafverfahrensrechts" bei der Fortsetzung des Verfahrens. Die Einsprache erhebende Person darf und muss auf ein rechtsstaatliches Verfahren vertrauen können. Auf den gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 29a in Verbindung mit Art. 30 BV) kann nur der informierte Beschuldigte wirksam verzichten (vgl. MARC THOMMEN, Kurzer Prozess - fairer Prozess?, Strafbefehls- und abgekürztes Verfahren zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, 2013, S. 303 ff. zur "Fairness als Teilhabe").
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2.7. Nach den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (Art. 105 Abs. 1 BGG) hatte die Beschwerdeführerin keine Kenntnis von der Vorladung und war damit auch nicht über die Folgen eines unentschuldigten Fernbleibens belehrt. Aus ihrer Säumnis darf mangels effektiver Kenntnisnahme der Vorladung nicht geschlossen werden, sie habe ihre Einsprache zurückgezogen und damit auf die gerichtliche Überprüfung verzichtet. Mit dieser Rechtsfolge muss nach dem allgemeinen Vorladungsrecht (Art. 201 ff. StPO) nicht gerechnet werden.
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Erwägung 3
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 5. August 2013 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Der Kanton Aargau hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 20. März 2014
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Mathys
 
Der Gerichtsschreiber: Briw
 
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