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Informationen zum Dokument  BGer 9C_624/2012  Materielle Begründung
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BGer 9C_624/2012 vom 21.12.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_624/2012
 
Urteil vom 21. Dezember 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Z.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Hablützel,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 18. Juli 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1943 geborene Z.________ bezieht Ergänzungsleistungen zur Altersrente. Gemäss Einspracheentscheid des Amtes für AHV und IV des Kantons Thurgau vom 26. März 2009 wurde ihr u.a. für die Mehrkosten für Diätnahrungsmittel ab Mai 2008 eine monatliche Pauschale von Fr. 100.- zugesprochen. Per 1. Juli 2010 nahm das Amt eine generelle Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse vor. Mit Verfügung vom 26. Januar 2012 verneinte es den Anspruch auf Diätkostenvergütung und stellte die monatlichen Zahlungen rückwirkend ab 1. Juni 2011 ein, wobei es auf eine Rückforderung der bisher ausgerichteten Vergütungen für Diätkosten verzichtete. Auf Einsprache von Z.________ hin hielt das Amt mit Entscheid vom 29. März 2012 an seinem Standpunkt fest.
 
B.
 
Z.________ liess Beschwerde führen mit dem Hauptantrag, unter Aufhebung des Einspracheentscheides sei das kantonale Amt zu verpflichten, den Diätzuschlag in der Höhe von monatlich Fr. 175.-, entsprechend dem Betrag, den sie bis März 2008 im Kanton Zürich erhalten habe, weiterhin auszurichten, zuzüglich Zins zu 5 % seit Fälligkeit der Leistung. Mit Entscheid vom 18. Juli 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde ab.
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt Z.________ das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung.
 
Während das Amt für AHV und IV auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
1.2 Bei Anwendung und Auslegung kantonalen Rechts kann vor Bundesgericht im wesentlichen lediglich eine Verletzung von Bundesrecht, Völkerrecht oder kantonalem verfassungsmässigem Recht gerügt werden. Dabei ist näher darzulegen, inwiefern solches Recht verletzt worden ist (Art. 95 i.V. mit Art. 42 Abs. 2 und 106 Abs. 2 BGG), da das Bundesgericht in solchen Fällen nicht von Amtes wegen, sondern nur insoweit, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist, die Angelegenheit einer näheren Prüfung unterzieht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246). Wird eine Verletzung des Willkürverbots geltend gemacht, muss im Einzelnen dargelegt werden, inwiefern der angefochtene Erlass an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53 mit Hinweisen).
 
2.
 
Soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, Änderungen der Ergänzungsleistung könnten nur vorgenommen werden, wenn die Voraussetzungen von Art. 17 ATSG und Art. 25 ELV erfüllt seien, kann ihr nicht beigepflichtet werden. Wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, kann eine Verfügung über Ergänzungsleistungen in zeitlicher Hinsicht Rechtsbeständigkeit nur für das Kalenderjahr entfalten; im Rahmen der jährlichen Überprüfung können deshalb die Grundlagen zur Berechnung der Ergänzungsleistungen ohne Bindung an früher berücksichtigte Berechnungsfaktoren und unabhängig allfälliger während der Bemessungsdauer möglicher Revisionsgründe von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden (BGE 128 V 39).
 
3.
 
3.1 Der angefochtene Entscheid beruht auf kantonalem Verordnungsrecht. Der in Frage stehende § 21 der Verordnung des Regierungsrates des Kantons Thurgau zum Gesetz über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung vom 11. Dezember 2007 (RB-Nr. 831.31) umschreibt die Anspruchsvoraussetzungen und den Umfang der Leistung, indem er festhält, dass Mehrkosten für vom Arzt angeordnete lebensnotwendige Diäten von Personen, die weder in einem Heim noch Spital leben, mit höchstens Fr. 2'400.- pro Jahr vergütet werden. In Auslegung dieser kantonalen Bestimmung gelangte die Vorinstanz zum Schluss, dass ausgewiesene Mehrkosten, die als Folge einer Diätkost anfallen, dann einen Anspruch auf Kostenersatz begründen, wenn die Diät eine aus medizinischer Sicht objektiv notwendige Massnahme zur Heilung, Linderung oder Stabilisierung eines Leidens darstelle. Damit ein Kostenersatz im Sinne von § 21 der zitierten Verordnung erfolgen könnte, wären nicht nur Mehrkosten, sondern auch die Notwendigkeit der geltend gemachten Diät nachzuweisen. Im vorliegenden Fall gebreche es bereits an der Diagnose einer Zöliakie; die vorhandenen Arztberichte erwähnten Gluten- und Nahrungsmittelallergien sowie eine Nahrungsmittelunverträglichkeit. Das Fehlen der Diagnose wirke sich zum Nachteil der Beschwerdeführerin aus, die aus der unbewiesen gebliebenen und nachträglich für die entsprechende Zeitspanne nicht mehr beweisbaren Zöliakie den Anspruch auf Übernahme der Mehrkosten für die Diät ableiten wollte.
 
3.2 Die Beschwerdeführerin rügt die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung, ohne aufzuzeigen, in welchen Punkten diese offensichtlich unrichtig und damit willkürlich sein soll, weshalb die entsprechenden Ausführungen, soweit sie sich in einer Kritik an der Beweiswürdigung durch das kantonale Gericht erschöpfen, nicht zu prüfen sind. Weiter macht sie geltend, das Verwaltungsgericht habe die Beweislastregel bundesrechtswidrig angewendet. Auch dieser Vorwurf ist unbegründet. Die Vorinstanz hielt fest, dass keine Zöliakie nachgewiesen sei und die geltend gemachte Glutenunverträglichkeit durch ein ärztliches Gutachten für die in Frage stehende Zeit (ab 1. Juni 2011) nicht mehr nachgewiesen werden könnte. Insbesondere die strikte Einhaltung einer Diät verunmögliche den Nachweis der Zöliakie. Diese Überlegungen, welche die Vorinstanz veranlassten, Beweislosigkeit anzunehmen, weil der Beweis der Glutenunverträglichkeit nicht mehr zu erbringen sei, erscheinen plausibel und werden von der Versicherten denn auch nicht in Zweifel gezogen. Eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung (Art. 105 Abs. 2 BGG) kann dem Verwaltungsgericht nicht vorgeworfen werden, da es eine medizinische Begutachtung erst verworfen hat, nachdem es von deren Nutzlosigkeit überzeugt war. Sodann vermag die Erfahrungstatsache, dass niemand eine derart aufwendige Diät auf sich nimmt, ohne an der entsprechenden Glutenunverträglichkeit zu leiden, die fehlende und nachträglich nicht mehr zu erbringende Diagnose nicht zu ersetzen.
 
Des Weiteren müsste die Beschwerdeführerin die ihr zufolge der Diät entstehenden Mehrkosten nachweisen, wie vorstehend (E. 3.1 hievor) dargelegt wurde. Dass ihr dies gelingen würde, erscheint zumindest fraglich, wie einem ärztlichen Zeugnis des Dr. med. K.________, vom 7. Februar 2012 entnommen werden kann.
 
Zu einem vom angefochtenen Entscheid abweichenden Ergebnis vermag schliesslich auch die Berufung auf Art. 10 Abs. 2 BV, der die körperliche und geistige Unversehrtheit jedes Menschen garantiert, nicht zu führen. Der Beschwerdeführerin wird keine Beweismassnahme - beispielsweise in Form eines gesundheitsgefährdenden operativen Eingriffs - auferlegt, welche ihre Unversehrtheit anzutasten geeignet sein könnte.
 
3.3 Zulässige Einwendungen gegen den auf kantonalem Recht basierenden Entscheid der Vorinstanz im Sinne von E. 1.2 bringt die Beschwerdeführerin nicht vor. Sie macht geltend, die vom Kanton Thurgau verlangte Bedarfsermittlung, welche die bereits vom Bund durchgeführte Abklärung unberücksichtigt lasse, habe eine gegen Art. 8 Abs. 1 BV verstossende Ungleichbehandlung zur Folge; von Zöliakie betroffenen Kindern richte die Invalidenversicherung Pauschalbeiträge zur Deckung der Diätmehrkosten aus, während EL-Bezüger sich mit tieferen Pauschalen abfinden müssten. Auf diesen Einwand ist nicht einzugehen: Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet die Frage, ob die Beschwerdeführerin ab 1. Juni 2011 grundsätzlich weiterhin Anspruch auf eine Vergütung von Diätkosten im Rahmen der Ergänzungsleistungen hat. Erst bei Bejahung dieser Frage wäre die Höhe eines allfälligen Anspruchs in einem zweiten Schritt zu prüfen gewesen.
 
4.
 
Dem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ist stattzugeben, da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin wird jedoch auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen. Danach hat sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 21. Dezember 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer
 
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