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Informationen zum Dokument  BGer 8C_464/2012  Materielle Begründung
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BGer 8C_464/2012 vom 21.12.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_464/2012
 
Urteil vom 21. Dezember 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichter Frésard, Maillard,
 
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
G.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt H.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 4. Mai 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1983 geborene G.________ war seit 12. Mai 2005 als angelernter Monteur für die X.________ AG tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Im Juli 2005 kam es zu einem Selbstunfall mit dem Motorrad. Dabei zog sich G.________ verschiedene Verletzungen zu. Die SUVA erbrachte Versicherungsleistungen, kürzte allerdings die Taggeldleistungen wegen Grobfahrlässigkeit (Blutalkoholkonzentration 0,59 Promille) um 10 %. Mit Verfügung vom 8. Juni 2009 sprach die SUVA G.________ rückwirkend ab 1. Februar 2008 eine Rente, basierend auf einer Erwerbsunfähigkeit von 19 %, und eine Integritätsentschädigung, entsprechend einer Integritätseinbusse von 10 %, zu. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 6. Mai 2010).
 
B.
 
Nachdem das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern G.________ eine reformatio in peius angedroht und ihm Gelegenheit eingeräumt hatte, sein Rechtsmittel zurückzuziehen, wies es die gegen den Einspracheentscheid vom 6. Mai 2010 erhobene Beschwerde ab und setzte die Rente in Abänderung des Einspracheentscheids auf die Basis einer 16%igen Erwerbsunfähigkeit herab (Dispositiv-Ziffern 1 und 2); ferner bezifferte es die Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistands aus der Gerichtskasse auf Fr. 2'800.- inklusive Auslagen und Mehrwertsteuer (Dispositiv-Ziffer 3; Entscheid vom 4. Mai 2012).
 
C.
 
G.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, die SUVA sei zu verpflichten, ihm ab 1. Februar 2008 eine ganze Rente und eine Integritätsentschädigung entsprechend einer Integritätseinbusse von 80 % zu gewähren; eventualiter habe die SUVA eine psychiatrische Abklärung zu veranlassen. Zudem wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht.
 
Der Rechtsvertreter von G.________ richtet sich in der gleichen Beschwerdeschrift gegen die Höhe der vorinstanzlich zugesprochenen Parteientschädigung gemäss Dispositiv-Ziffer 3 des angefochtenen Gerichtsentscheids und beantragt, es sei ihm eine Entschädigung von Fr. 4'314.- zuzusprechen; eventualiter sei das kantonale Gericht im Rahmen einer Rückweisung anzuweisen, über die Höhe der Entschädigung neu zu befinden. Diese Angelegenheit wird im Verfahren 8C_465/2012 beurteilt.
 
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten beigezogen. Es ist kein Schriftenwechsel durchgeführt worden.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es prüft, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389 mit Hinweisen; Urteil 8C_934/2008 vom 17. März 2009 E. 1, nicht publ. in: BGE 135 V 194, aber in: SVR 2009 UV Nr. 35 S. 120).
 
1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
 
2.
 
Im Einspracheentscheid der SUVA, auf welchen die Vorinstanz hinweist, werden die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf Leistungen der Unfallversicherung im Allgemeinen (Art. 6 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 4 ATSG) und zum Anspruch auf eine Invalidenrente im Besonderen (Art. 18 Abs. 1 UVG) sowie zu dem für einen Leistungsanspruch nebst anderem vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen Unfall und eingetretenem Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 111 f.) und zu der im Weiteren erforderlichen Adäquanz des Kausalzusammenhangs generell (BGE 129 V 177 E. 3.2 S. 181) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Ergänzungen des kantonalen Gerichts zur Adäquanz bei psychischen Unfallfolgen im Besonderen (BGE 115 V 133; vgl. auch BGE 134 V 109 E. 6.1 S. 116 mit Hinweisen) und zum Wegfall unfallbedingter Ursachen eines Gesundheitsschadens bei Erreichen des Status quo sine vel ante sowie zur damit verbundenen Beweislast (SVR 2011 UV Nr. 4 S. 12 E. 3.2, 8C_901/2009). Darauf - wie auch auf die Erwägungen zu dem im Sozialversicherungsrecht massgebenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 134 V 109 E. 9.5 S. 125) - wird verwiesen.
 
3.
 
Die Parteien sind sich einig, dass der Beschwerdeführer aus rein somatischer Sicht aus unfallbedingten Gründen in einer körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeit in Wechselbelastung nicht eingeschränkt ist. Der vom kantonalen Gericht korrigierte Einkommensvergleich ergibt mit Blick darauf eine Erwerbsunfähigkeit von 16 %. Aufgrund der organischen Unfallfolgen besteht ebenfalls unstreitig eine Integritätseinbusse von 10 %. Streitig und zu prüfen ist hingegen, ob die SUVA für die psychisch bedingten Einschränkungen ebenfalls eine Leistungspflicht trifft.
 
4.
 
4.1 Ob der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis vom 24. Juli 2005 und den anhaltend geklagten, organisch nicht hinreichend nachweisbaren Beschwerden des Versicherten gegeben ist, wurde von der Vorinstanz offen gelassen. Dieses Vorgehen lässt sich nicht beanstanden, denn es kann tatsächlich darauf verzichtet werden, Bestand und natürliche Kausalität der nicht mit dem im Sinne der Rechtsprechung objektiv erklärbaren Einschränkungen und Beschwerden näher abzuklären, wenn es sich erweist, dass ein allfälliger natürlicher Kausalzusammenhang nicht adäquat und damit nicht rechtsgenüglich wäre (BGE 135 V 465 E. 5.1 S. 472). Der Versicherte verkennt, dass vorliegend für eine einwandfreie Adäquanzprüfung keine zusätzlichen Abklärungen zum psychischen Gesundheitszustand mehr notwendig sind.
 
4.2
 
4.2.1 Die Vorinstanz führte die Adäquanzprüfung nach BGE 115 V 133 durch, was im Grundsatz unbestritten ist. Ausgangspunkt der Adäquanzbeurteilung bildet das (objektiv erfassbare) Unfallereignis. Abhängig von der Unfallschwere sind je nachdem weitere Kriterien in die Beurteilung einzubeziehen (BGE 115 V 133 E. 6 S. 138 ff.; SVR 2010 UV Nr. 3 S. 11, 8C_283/2009 E. 9.1; 2008 UV Nr. 8 S. 26, U 2/07 E. 5.3.1). Massgebend für die Beurteilung der Unfallschwere ist der augenfällige Geschehensablauf mit den sich dabei entwickelnden Kräften (erwähnte Urteile SVR 2010 UV Nr. 3 E. 9.1 und 2008 UV Nr. 8 E. 5.3.1). Das kantonale Gericht ging von der Unfallschilderung der Kantonspolizei X.________ (welche ihrerseits namentlich auf eine Zeugenaussage eines Verkehrsteilnehmers abstellte) aus, wonach der Beschwerdeführer auf der Autobahn bei wenig Verkehrsaufkommen und mit einer Geschwindigkeit von knapp 120 km/h vorerst langsam auf die Überholspur, unmittelbar danach auf die Normalspur zurück und weiter auf den Pannenstreifen geschwenkt sei, wo es zu einer Kollision mit der Leitplanke gekommen sei. Immer noch fahrend sei der Versicherte der Leitplanke entlang bis zu deren Ende geschlittert, wo er eine Böschung hinuntergestürzt und schliesslich in einem Wildschutzzaun zum Stillstand gekommen sei. Der Umstand, dass sich der Versicherte Verletzungen primär am Oberkörper und an den Armen (namentlich Frakturen an der Schulter rechts, am Ellenbogen rechts, am Vorderarm rechts und an den Ringfingern) zuzog, spricht nach Auffassung der Vorinstanz dafür, dass er im Zeitpunkt des Aufpralls an der Leitplanke noch auf dem Motorrad sass und die Beschädigungen an der Leitplanke durch das Motorrad verursacht wurden. Im angefochtenen Gerichtsentscheid wird der Unfall in Würdigung aller Umstände als mittelschwer im eigentlichen Sinn qualifiziert. Es wird in der Folge mit nachvollziehbarer Begründung aufgezeigt, dass von den für eine Bejahung der Adäquanz erforderlichen Kriterien lediglich eines, dieses jedoch nicht in besonders ausgeprägter Form erfüllt ist. Deshalb hat das kantonale Gericht die Rente und die Integritätsentschädigung in Verneinung der Adäquanz bezüglich der organisch nicht hinreichend nachweisbaren Beschwerden einzig aufgrund der Auswirkungen des unfallbedingten somatischen Leidens bemessen.
 
4.2.2 Die Vorbringen des Beschwerdeführers vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Soweit er vor Bundesgericht die bereits im vorinstanzlichen Verfahren entkräfteten Rügen wiederholt, kann auf die zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Gerichtsentscheid verwiesen werden.
 
4.2.2.1 Die Beurteilung des Ereignisses als Unfall im mittelschweren Bereich, weder an der Grenze zu den leichten noch zu den schweren Unfällen, lässt sich aufgrund des sich aus den Akten ergebenden Geschehensablaufes und im Lichte der Rechtsprechung zu im Wesentlichen vergleichbaren Unfallereignissen (Urteil 8C_431/2011 vom 7. Februar 2012 Sachverhalt A und E. 7.1 mit Hinweis) nicht beanstanden. Ein Grenzfall zu den schweren Unfällen oder gar ein schwerer Unfall liegt entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers auch dann nicht vor, wenn man von seiner Schilderung des Unfallhergangs ausgehen würde.
 
4.2.2.2 Bei einem mittelschweren Unfall im engeren Sinn müssten von den zusätzlich zu beachtenden Kriterien (BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140) mindestens drei in der einfachen Form oder aber eines in besonders ausgeprägter Weise erfüllt sein, damit der adäquate Kausalzusammenhang bejaht werden könnte (SVR 2012 UV Nr. 23 E. 4.2, 8C_435/2011; SVR 2010 UV Nr. 25 S. 100, 8C_897/2009 E. 4.5; Urteil 8C_498/2011 vom 3. Mai 2012 E. 6.2.2, nicht publ. in: BGE 138 V 248). Ob besonders dramatische Begleitumstände oder eine besondere Eindrücklichkeit des Unfalls vorliegen, beurteilt sich objektiv und nicht aufgrund des subjektiven Empfindens bzw. Angstgefühls der versicherten Person. Jedem mindestens mittelschweren Unfall ist eine gewisse Eindrücklichkeit eigen, die somit noch nicht für eine Bejahung des Kriteriums ausreichen kann (Urteil 8C_996/2010 vom 14. März 2011 E. 8.1). Besonders dramatische Begleitumstände oder eine vergleichbare Eindrücklichkeit des Unfalles können in casu nicht bejaht werden, selbst wenn der Beurteilung der Unfallhergang zugrunde gelegt wird, wie ihn der Beschwerdeführer beschreibt. Das Kriterium wird somit im angefochtenen Gerichtsentscheid zu Recht verneint. Es ist dem Versicherten sodann zwar beizupflichten, dass das Kriterium der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung in der Anwendung in verschiedener Hinsicht Schwierigkeiten bietet (vgl. BGE 134 V 109 E. 10.2.3 S. 128). Im vorliegenden Fall kommen solche Probleme aber nicht zum Tragen, da eine zweijährige Behandlung - bezogen auf die somatischen Beschwerden - so oder anders nicht als ungewöhnlich lange qualifiziert werden kann. Für das Vorliegen weiterer Adäquanzkriterien bestehen ebenfalls keine Anhaltspunkte. Der Beschwerdeführer übersieht bei seiner Argumentation, dass die organisch nicht objektiv ausgewiesenen Faktoren im Rahmen der Adäquanzprüfung nach BGE 115 V 133 von der Vorinstanz zu Recht ausgeklammert worden sind. Das kantonale Gericht hat korrekterweise lediglich die Erfüllung des Kriteriums der Schwere oder besonderen Art der Verletzung als "knapp" erfüllt erachtet, was beim gegebenen Schweregrad des Unfalls für die Bejahung der Adäquanz nicht ausreicht (SVR 2010 UV Nr. 25 S. 100, 8C_897/2009 E. 4.5).
 
5.
 
Es besteht nach dem Gesagten kein Anspruch auf eine Erhöhung von Rente und Integritätsentschädigung.
 
6.
 
Zur Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistands für das kantonale Gerichtsverfahren äussert sich das Bundesgericht im Verfahren 8C_465/2012 (vgl. Sachverhalt C).
 
7.
 
Der Prozess ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Seinem Ersuchen um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) kann jedoch entsprochen werden, da die Bedürftigkeit als ausgewiesen gelten kann, das Rechtsbegehren nicht als von vornherein aussichtslos anmutet und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin als geboten erscheint (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135; 128 I 225 E. 2.5.3 S. 235). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen. Rechtsanwalt H.________ wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdeführers bestellt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Rechtsanwalt H.________ wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 21. Dezember 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz
 
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