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Informationen zum Dokument  BGer 1C_608/2012  Materielle Begründung
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BGer 1C_608/2012 vom 11.12.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 1/2}
 
1C_608/2012, 1C_609/2012, 1C_619/2012, 1C_620/2012
 
Verfügung vom 11. Dezember 2012
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Hans Anton Keller,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Schweizerische Bundeskanzlei, Bundeshaus West, 3003 Bern.
 
Gegenstand
 
1C_608/2012
 
Verfügung der Bundeskanzlei vom 30. Oktober 2012 über das Nicht-Zustandekommen des Referendums gegen den Bundesbeschluss vom 15. Juni 2012 über die Genehmigung des Abkommens zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich,
 
1C_609/2012
 
Schreiben der Bundeskanzlei vom 6. November 2012 zu Referenden gegen Staatsverträge,
 
1C_619/2012
 
Verfügung der Bundeskanzlei vom 30. Oktober 2012 über das Nicht-Zustandekommen des Referendums gegen den Bundesbeschluss vom 15. Juni 2012 über die Genehmigung des Abkommens zwischen der Schweiz und Deutschland,
 
1C_620/2012
 
Verfügung der Bundeskanzlei vom 30. Oktober 2012 über das Nicht-Zustandekommen des Referendums gegen den Bundesbeschluss vom 15. Juni 2012 über die Genehmigung des Abkommens zwischen der Schweiz und Österreich,
 
Beschwerden gegen die Verfügungen vom 30. Oktober 2012 und 6. November 2012 der Schweizerischen Bundeskanzlei.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die Schweizerische Eidgenossenschaft beabsichtigt, mit Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Österreich Staatsverträge über die Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt abzuschliessen. Die mit diesen Staaten ausgehandelten Abkommen wurden im BBl 2012 5039 ff., 5157 ff. und 5335 ff. veröffentlicht. Die Bundesversammlung erliess am 15. Juni 2012 entsprechende Bundesbeschlüsse über die Genehmigung der Abkommen. Die Referendumsfrist von 100 Tagen (Art. 141 Abs. 1 BV) lief für diese Bundesbeschlüsse am 27. September 2012 ab (BBl 2012 5823, 5825, 5827). Mit Verfügungen vom 30. Oktober 2012 hielt die Schweizerische Bundeskanzlei fest, dass die Referenden nicht zustande gekommen seien, da sie die notwendigen 50'000 Unterschriften innert der Sammelfrist von 100 Tagen nicht erreicht hätten (BBl 2012 8555, 8575, 8591).
 
B.
 
Mit E-Mail vom 25. Oktober 2012 an die Bundeskanzlei verlangte Anton Keller:
 
"1. Es sei sicherzustellen, dass meine rechtzeitig vor Ablauf der Referendumsfrist an meinem Wohnsitz Genf geleisteten Unterschriften der obigen Referenden mitgezählt worden sind.
 
2. Eventualiter sei die vom 20. Juni bis 27. September 2012 gelaufene Referendumsfrist zu den genannten Verträgen als ungültig zu erklären und neu anzusetzen.
 
3. Subeventualiter seien alle beglaubigten Unterschriften zu den obigen Referenden als fristgerecht eingereicht mitzuzählen, soweit diese vor oder am 26. September von den Beglaubigungsbehörden der Post übergeben worden sind, und damit bei pflichtgemässer Behandlung am 27. September 2012 bei der Bundeskanzlei hätten sein können.
 
4. Soweit die Bundeskanzlei sich nicht zur selbständigen Befolgung dieser Eingabe in der Lage sieht, sei der Bundesrat und/oder die dafür zuständigen Kommissionen der Eidgenössischen Räte damit zu betrauen."
 
C.
 
Die Bundeskanzlei teilte Anton Keller mit Schreiben vom 6. November 2012 mit, sie könne über seine Unterschriften keine Auskunft geben. Die Genfer Staatskanzlei stelle grösstenteils Gesamtbescheinigungen aus, in welchen auf einem Begleitbrief für alle beigelegten Unterschriftenlisten das Stimmrecht gesamthaft bescheinigt werde. Solche Gesamtbescheinigungen müssten mit den davon erfassten Unterschriftenlisten fest verbunden werden (vgl. die Weisungen in BBl 1978 I 1650 Ziff. 7). Genf verschnüre die erfassten Unterschriftenlisten zusammen mit der sie umfassenden Gesamtbescheinigung. Diese würden von der Bundeskanzlei nicht geöffnet, weil sonst der Beweis für die Gültigkeit der Unterschriften gerade zerstört würde. Die Bundeskanzlei könne aus diesem Grund die einzelnen Unterzeichnungen bei dieser Art der Gesamtbescheinigung nicht einsehen. Den Eventual- und Subeventualanträgen gab die Bundeskanzlei keine Folge, da sie die in der Verfassung festgelegte Referendumsfrist nicht für ungültig erklären könne und diese auch nicht neu ansetzen dürfe. Zudem müssten die Referenden nach Art. 59a BPR (SR 161.1) mit der nötigen Anzahl Unterschriften samt Stimmrechtsbescheinigung innerhalb der Referendumsfrist bei der Bundeskanzlei eintreffen. Nach Art. 1 Abs. 4 lit. b der Organisationsverordnung für die Bundeskanzlei vom 29. Oktober 2008 (SR 172.210.10) veröffentliche die Bundeskanzlei die Rechtstexte und die übrigen nach der Publikationsgesetzgebung zu veröffentlichenden Texte so schnell wie möglich und in der gebotenen Qualität. Es bestehe keine Praxis, wonach die Publikation im Bundesblatt erst 10 Tage nach einem Parlamentsbeschluss erfolge. Es habe auch schon andere mit den vorliegenden Steuerabkommen vergleichbare Fälle gegeben. Ausserdem habe die Bundeskanzlei die sofortige Publikation u.a. mit einer vorangehenden Medienmitteilung bekannt gegeben. Eine Weiterleitung der Eingabe an den Bundesrat oder eine Parlamentskommission sei unter den gegebenen Umständen nicht angebracht. Stattdessen verwies die Bundeskanzlei Anton Keller auf ihre Verfügungen vom 30. Oktober 2012 zu den Referenden gegen die drei Abgeltungssteuerabkommen.
 
D.
 
Mit Beschwerde an das Bundesgericht vom 28. November 2012 beantragt Anton Keller in Bezug auf die Verfügungen vom 30. Oktober 2012 zum Nicht-Zustandekommen der Referenden und das Schreiben der Bundeskanzlei vom 6. November 2012:
 
"1. Es sei festzustellen, dass die nicht bedarfsgerechte, die nicht zweckmässige und/oder die nicht zeitgemässe Handhabung der Unterschriftenbeglaubigung durch eine signifikante Anzahl dafür zuständiger Behörden die Verfassungs-Garantie zu den politischen Rechten verletzte, auf welche auch der Beschwerdeführer Anspruch hat.
 
2. Es seien die Nichtzustandekommens-Verfügungen der Bundeskanzlei vom 1. November 2012 [recte 30. Oktober 2012] aufzuheben, und eine neue Verfügung zu erlassen gestützt auf eine Nachzählung, wobei alle beglaubigten Unterschriften zu den obigen Referenden als fristgerecht eingereicht mitzuzählen sind, soweit diese vor oder am 26. September 2012 sich im Besitz der Beglaubigungsbehörden befanden, und damit bei pflichtgemässer Behandlung am 27. September 2012 bei der Bundeskanzlei hätten fristgerecht eintreffen können.
 
3. Eventualiter sei die vom 20. Juni bis 27. September 2012 gelaufene Referendumsfrist zu den genannten Verträgen als ungültig zu erklären und neu anzusetzen.
 
4. Es seien die mit den angefochtenen Bundeskanzlei-Akten erfolgten Rechtsverweigerungen festzustellen.
 
5. Es sei dieser Beschwerde aufschiebende Wirkung beizulegen.
 
6. Es sei im Sinne von Art. 62 Abs. 1 BGG auf die Erhebung eines Kostenvorschusses ganz oder teilweise zu verzichten. Gegebenenfalls sei im Sinne von Art. 64 Abs. 2 BGG dem Beschwerdeführer ein besonders qualifizierter anwaltschaftlicher Beistand beizugeben.
 
7. Eventualiter, und soweit das Bundesgericht sich nicht zur selbstständigen Befolgung dieser Beschwerde in der Lage sehen mag, sei diese im Sinne von Art. 33 BV dem Bundesrat und/oder den dafür zuständigen Kommissionen der Eidgenössischen Räte zur Erledigung an die Hand zu geben.
 
E.
 
Mit Schreiben vom 10. Dezember 2012 beantragt die Bundeskanzlei, das Gesuch um aufschiebende Wirkung sei umgehend abzuweisen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Gemäss Art. 103 Abs. 3 und Art. 104 BGG kann der Instruktionsrichter einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung beilegen oder vorsorgliche Massnahmen treffen, um den bestehenden Zustand zu erhalten oder bedrohte Interessen einstweilen sicherzustellen. Einem Begehren um Erteilung der aufschiebenden Wirkung ist indes nur ausnahmsweise stattzugeben, nämlich dann, wenn dem Gesuchsteller ohne diese Massnahme ein erheblicher, nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen könnte. Die Notwendigkeit einer solchen Massnahme ist grundsätzlich durch den Gesuchsteller darzulegen.
 
2.
 
Mit den angefochtenen Verfügungen der Bundeskanzlei wird festgehalten, dass die Referenden gegen die drei Staatsverträge nicht zustande gekommen sind. Es handelt sich dabei um negative Feststellungsverfügungen, bei welchen die Gewährung der aufschiebenden Wirkung ausgeschlossen ist. Die aufschiebende Wirkung bezieht sich auf das Dispositiv der angefochtenen Verfügungen. Da diese keine Anordnungen enthalten sondern lediglich das Nicht-Zustandekommen des Referendums festhalten, können gar keine durch die angefochtenen Verfügungen begründeten Rechtswirkungen aufgeschoben werden (vgl. XAVER BAUMBERGER, Aufschiebende Wirkung bundesrechtlicher Rechtsmittel im öffentlichen Recht, 2006, S. 68 ff.).
 
3.
 
3.1 Der Beschwerdeführer verlangt denn auch tatsächlich nicht die aufschiebende Wirkung, sondern vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 104 BGG, um bedrohte Interessen einstweilen sicherzustellen. Er führt aus, bei einer Inkraftsetzung auch nur eines der Staatsverträge vor dem anbegehrten Entscheid des Bundesgerichts würde ein allfälliger Volksentscheid über das Referendum verhindert. Ein allfälliges Unterliegen würde ihm hingegen keinen materiell-rechtlichen Vorteil bringen, und die Inkraftsetzung könnte danach ohne weiteres erfolgen.
 
3.2 Die Bundeskanzlei wendet gegen das Gesuch des Beschwerdeführers ein, die Inkraftsetzung sei laut allen drei Abkommen jeweils nur auf Jahresbeginn möglich (vgl. Abkommen mit Deutschland Art. 43 [BBI 2012 5066], Abkommen mit dem Vereinigten Königreich Art. 43 [BBI 2012 5188], Abkommen mit Österreich Art. 39 Ziff. 1 [BBI 2012 5357]; dazu die beiden Botschaften des Bundesrates, BBI 2012 4992, 5014 und 5328). Die aufschiebende Wirkung würde die Inkraftsetzung aller drei Abkommen auf den 1. Januar 2013 verunmöglichen. Von einer "Inkraftsetzung ohne weiteres" könne schon aus diesem Grund keine Rede sein. Als Folge der Gewährung der aufschiebenden Wirkung befürchtet die Bundeskanzlei, dass die Abkommen nicht notifiziert werden könnten und damit nicht per 1. Januar 2013 in Kraft treten würden. Ein Inkrafttreten auf einen späteren Zeitpunkt sei hingegen nicht möglich, da die im Anhang I zu den Abkommen enthaltenen Formeln zur Vergangenheitsregularisierung (BBI 2012 5067, 5190 und 5359 f.) auf eine Übergangsfrist von zwei Jahren ausgerichtet seien, die mit dem 31. Dezember 2010 beginne und damit am 31. Dezember 2012 ende. Werde das Inkrafttreten der Abkommen verschoben, müssten entweder der Beginn oder die Dauer dieser Frist angepasst werden. Eine Verschiebung des Beginns dieser Frist sei jedoch nicht möglich, da dieser im Abkommen fixiert sei. Eine Verlängerung der Frist würde zunächst eine neue Definition der Formel erfordern. Da aber auch diese Formel Vertragsbestandteil sei, müsste in allen Fällen der Vertrag neu verhandelt werden. Der Stichtag vom 31. Dezember 2010 sei zudem massgebend für den Kreis der erfassten Vermögenswerte, da beispielsweise der Wohnsitz am Stichtag für die Anwendung des Vertrags massgebend sei. Aus den genannten Gründen habe das Parlament die Genehmigung der Abkommen in Anwendung von Art. 85 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes (SR 171.10) denn auch im beschleunigten Verfahren behandelt. Paradoxer Weise erhielte der Beschwerdeführer mit der Gewährung der aufschiebenden Wirkung sogar mehr, als bei einem Zustandebringen der Referenden hätte erreicht werden können, nämlich die Verhinderung des lnkrafttretens der Abgeltungssteuerabkommen ohne den Segen des Volkes. Die aufschiebende Wirkung würde somit dazu führen, dass unabhängig vom Zustandekommen des Referendums rechtmässig abgeschlossene und vom Parlament genehmigte Abkommen definitiv scheitern würden. Werde hingegen die aufschiebende Wirkung nicht erteilt, so habe dies zur Folge, dass der Vertrag auf den einzig möglichen Termin per 1. Januar 2013 in Kraft treten könnte. Bei einer späteren Gutheissung der Beschwerde und negativem Abstimmungsergebnis könnte der Vertrag auf den ersten möglichen Termin (d.h. nach zwei Jahren) gekündigt werden.
 
3.3 Bei der Prüfung des Gesuchs des Beschwerdeführers ist vom Inhalt der angefochtenen Verfügungen auszugehen. Diese beziehen sich nicht auf die Notifikation der Bundesbeschlüsse, gegen welche die Referenden gerichtet sind, sondern lediglich auf das Zustandekommen der Referenden. Der Beschwerdegegenstand ist somit auf die Frage des Zustandekommens der Referenden beschränkt. Die Notifikation an den jeweiligen Vertragsstaat, dass die innerstaatlichen gesetzlichen Erfordernisse für das Inkrafttreten der Abkommen erfüllt sind, ist vom vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht erfasst. Die Notifikation liegt in der Verantwortung der politischen Behörden (Bundesrat), gegen deren Akte kein Rechtsmittel an das Bundesgericht zur Verfügung steht (Art. 189 Abs. 4 BV). Somit ist ein Entscheid über die Notifikation der Zuständigkeit des Bundesgerichts entzogen. Nach Art. 184 Abs. 2 BV ist der Bundsrat zuständig, Staatsverträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren (vgl. DANIEL THÜRER/BINH TRUONG/FELIX SCHWENDIMANN, Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 14 zu Art. 184 BV). In diese Zuständigkeit des Bundesrats kann nicht mit einer vorsorglichen Massnahme im Sinne von Art. 104 BGG im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens gegen die Verfügung der Bundeskanzlei über das Nicht-Zustandekommen eines Referendums eingegriffen werden. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung bzw. vorsorgliche Massnahmen ist deshalb abzuweisen.
 
Demnach verfügt der Präsident:
 
1.
 
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung bzw. vorsorgliche Massnahmen wird abgewiesen.
 
2.
 
Diese Verfügung wird dem Beschwerdeführer und der Schweizerischen Bundeskanzlei sowie in Kopie dem Verein Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 11. Dezember 2012
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident:
 
Fonjallaz
 
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