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Informationen zum Dokument  BGer 1B_500/2012  Materielle Begründung
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BGer 1B_500/2012 vom 03.12.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_500/2012
 
Urteil vom 3. Dezember 2012
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Mattle.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Bernhard Jüsi, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; amtliche Verteidigung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 3. August 2012.
 
Sachverhalt:
 
Mit Strafbefehl vom 13. April 2012 verurteilte die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen X.________ wegen einfacher Körperverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 45 Tagessätzen und einer Busse von Fr. 400.--. X.________ wurde von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegt, im Verlauf einer Auseinandersetzung mit einer anderen Person habe er diese mit beiden Händen am Hals gepackt und ihr in die Nase gebissen, was eine Bisswunde zur Folge gehabt habe, die ärztlich habe behandelt werden müssen. X.________ erhob gegen den Strafbefehl Einsprache und ersuchte um die Bewilligung der amtlichen Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft wies das Gesuch um Bewilligung der amtlichen Verteidigung am 6. Juni 2012 ab. Eine von X.________ gegen die Verweigerung der amtlichen Verteidigung erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen am 3. August 2012 ab. Gegen den Entscheid des Obergerichts hat X.________ am 4. September 2012 Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht erhoben. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und ihm für das Strafverfahren ein amtlicher Verteidiger zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz haben unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid auf Vernehmlassung verzichtet.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft eine Strafsache im Sinne von Art. 78 Abs. 1 BGG und wurde von einer letzten kantonalen Instanz gefällt (Art. 80 Abs. 1 und 2 BGG). Es handelt sich um einen das Strafverfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid, der geeignet ist, einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu bewirken. Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG beschwerdebefugt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, so dass auf die Beschwerde einzutreten ist.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid verletze Art. 132 StPO (SR 312.0) sowie Art. 6 EMRK.
 
2.1 Liegt kein Fall notwendiger Verteidigung gemäss Art. 130 StPO vor, ordnet die Verfahrensleitung eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und (kumulativ) der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre (Art. 132 Abs. 2 StPO). Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten, eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen oder gemeinnützige Arbeit von mehr als 480 Stunden zu erwarten ist (Art. 132 Abs. 3 StPO). Nach dem Wortlaut von Art. 132 Abs. 2 StPO, wonach die amtliche Verteidigung zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person "namentlich" unter den Voraussetzungen von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO geboten ist, ist nicht ausgeschlossen, dass die Gewährung der amtlichen Verteidigung zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person aus anderen als den in dieser Bestimmung genannten Gründen geboten sein kann (Urteil 1B_477/2011 vom 4. Januar 2012 E. 2.2 mit Hinweisen).
 
2.2 Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO entsprechen weitgehend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur unentgeltlichen Verteidigung gemäss Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK (Urteile 1B_477/2011 vom 4. Januar 2012 E. 2.2 sowie 1B_195/2011 vom 28. Juni 2011 E. 3.2, nicht publ. in: BGE 137 IV 215). Demnach hat die bedürftige Partei Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Falls das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition des Betroffenen eingreift, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten. Dies trifft insbesondere im Strafprozess zu, wenn dem Beschuldigten eine schwerwiegende freiheitsentziehende Massnahme oder eine Strafe droht, deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausschliesst. Droht zwar eine erhebliche, nicht aber eine besonders schwere Freiheitsbeschränkung, müssen zur relativen Schwere des Eingriffs besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Betroffene - auf sich allein gestellt - nicht gewachsen wäre. Als besondere Schwierigkeiten, die eine Verbeiständung rechtfertigen können, fallen auch Gründe in der Person des Gesuchstellers in Betracht, insbesondere dessen Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden. Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint das Bundesgericht einen unmittelbaren verfassungsmässigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 mit Hinweisen).
 
3.
 
Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO bedürftig ist. Die Vorinstanz ist im angefochtenen Entscheid indessen zum Schluss gekommen, die amtliche Verteidigung sei zur Wahrung der Interessen des Beschwerdeführers nicht geboten, weil es sich um einen Bagatellfall handle und der Straffall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten biete, denen er alleine nicht gewachsen wäre.
 
3.1 Hält die Staatsanwaltschaft nach der Einsprache der beschuldigten Person gegen einen Strafbefehl und nach der allfälligen Abnahme weiterer Beweise am Strafbefehl fest, überweist sie die Akten dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens. Diesfalls gilt der Strafbefehl als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1 i.V.m. Art. 355 Abs. 1 und Abs. 3 lit. a StPO).
 
Der Beschwerdeführer ist per Strafbefehl wegen einfacher Körperverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 45 Tagessätzen und einer Busse von Fr. 400.-- verurteilt worden. Aus den Akten ist nicht ersichtlich, dass die Staatsanwalt beabsichtigen würde, entgegen ihrer Einschätzung im Strafbefehl Anklage wegen (versuchter) schwerer Körperverletzung zu erheben. Dass der Beschwerdeführer - wie er vorbringt - vom erstinstanzlichen Gericht statt für eine einfache Körperverletzung für eine (versuchte) schwere Körperverletzung verurteilt werden könnte, ist unter diesen Umständen unwahrscheinlich. Damit ist eine Strafe zu erwarten, die deutlich unter der Grenze liegt, ab welcher gemäss Art. 132 Abs. 3 StPO jedenfalls nicht mehr ein Bagatellfall vorliegt. Dass die Vorinstanz unter diesen Umständen von einem Bagatellfall im Sinne von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO ausgegangen ist, ist nicht zu beanstanden.
 
3.2 Zu prüfen bleibt, ob aufgrund besonderer Umstände die Gewährung der amtlichen Verteidigung zur Wahrung der Interessen des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO geboten ist, obwohl die zu erwartende Strafe deutlich unter der Grenze liegt, ab welcher jedenfalls nicht mehr ein Bagatellfall vorliegt. Dies wäre unter Umständen zu bejahen, wenn die Interessen des Beschwerdeführers zwar nicht wegen der zu erwartenden strafrechtlichen Sanktion, aber aus anderen Gründen in schwerwiegender Weise unmittelbar betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen (vgl. Urteil 1B_372/2011 vom 29. August 2011 E. 2.2.3).
 
3.2.1 Der Beschwerdeführer, ein vorläufig in der Schweiz aufgenommener Ausländer (vgl. Art. 83 AuG [SR 142.20]), bringt vor, eine Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung könne für ihn aus ausländerrechtlicher Sicht schwer wiegende Konsequenzen haben. Eine strafrechtliche Verurteilung verbunden mit einem Eintrag ins Strafregister könne dazu führen, dass ein (künftiges) Gesuch um Aufenthaltsbewilligung abgewiesen werde. Mit Blick auf die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung habe er ein grosses Interesse daran, dass er vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen werde. Er stelle sich im Strafverfahren auf den Standpunkt, dass er in Notwehr gehandelt habe. Der Fall biete damit tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten, welche ihn ohne Verteidigung überfordern würden.
 
3.2.2 Wie die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid zu Recht festgestellt hat, ist nicht davon auszugehen, dass eine Verurteilung des Beschwerdeführers wegen einfacher Körperverletzung unmittelbar zur Folge hätte, dass die vorläufige Aufnahme des Beschwerdeführers aufgehoben würde (vgl. Art. 83 Abs. 7 lit. a und b i.V.m. Art. 84 Abs. 2 AuG). Davon geht in seiner Beschwerde ans Bundesgericht auch der Beschwerdeführer nicht (mehr) aus. Nicht gänzlich auszuschliessen ist zwar, dass sich eine rechtskräftige Verurteilung im Hinblick auf ein vom Beschwerdeführer allenfalls in Zukunft gestelltes Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung unter Umständen nachteilig auswirken könnte (vgl. Art. 84 Abs. 5 i.V.m. Art. 30 Abs. 1 lit. b und Art. 31 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201] sowie PETER BOLZLI, in: Spescha/ Thür/Zünd/Bolzli, Migrationsrecht - Kommentar, N 10 ff. zu Art. 84 AuG). Eine aus einer allfälligen Verurteilung fliessende unmittelbare schwere Betroffenheit des Beschwerdeführers kann darin aber nicht gesehen werden, zumal er einerseits nicht geltend macht, er habe ein entsprechendes Gesuch bereits eingereicht, und andererseits ein allfälliges Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung dannzumal anhand verschiedener Kriterien umfassend zu prüfen wäre, sodass im jetzigen Zeitpunkt nicht feststeht, dass dem Beschwerdeführer wegen einer allfälligen Verurteilung im hängigen Strafverfahren die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zu verweigern wäre.
 
3.2.3 Hinzu kommt, dass nicht ersichtlich ist, inwiefern der Straffall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten bieten soll. Der Beschwerdeführer bringt zwar vor, er habe in Notwehr gehandelt, was von der Staatsanwaltschaft nicht berücksichtigt worden sei. Im vorliegenden Straffall ist die Klärung der Frage, ob der Beschwerdeführer in Notwehr gehandelt hat, aber nicht mit besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten verbunden. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beschwerdeführer der Verhandlungssprache offenbar nicht mächtig ist, bzw. dass zumindest derart grosse Sprachprobleme bestehen, dass für die Einvernahme seiner Person der Beizug eines Dolmetschers nötig ist. Zwar sind die Schwierigkeiten eines Straffalls an den Fähigkeiten der beschuldigten Person zu messen. Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer der Verhandlungssprache offenbar nicht genügend mächtig ist, führt aber vorliegend nicht zum Schluss, er sei auf sich allein gestellt den Schwierigkeiten des Falls nicht gewachsen, sodass er sich ohne Verteidigung im Strafverfahren nicht zurechtfinde. Dies zumal die Sprachprobleme mit dem erneuten Beizug eines Dolmetschers überwunden werden können. Wie die Vorinstanz sodann zu Recht festgehalten hat, ist für die Beurteilung des Gesuchs um amtliche Verteidigung des Beschwerdeführers im gegen ihn geführten Strafverfahren irrelevant, ob eine von ihm gemachte Äusserung von der Staatsanwaltschaft als Strafantrag gegen die andere an der Auseinandersetzung beteiligte Person hätte entgegengenommen werden müssen oder nicht.
 
3.3 Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände erweist sich die Gewährung der amtlichen Verteidigung des Beschwerdeführers für das Strafverfahren zur Wahrung seiner Interessen nicht als im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO geboten. Ein Anspruch auf amtliche Verteidigung ergibt sich auch nicht aus Art. 29 Abs. 3 BV oder Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK. Damit ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz mit dem angefochtenen Entscheid die Verweigerung der amtlichen Verteidigung bestätigt hat.
 
4.
 
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG). Er ersucht indes um unentgeltliche Rechtspflege. Da die Voraussetzungen von Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
 
2.2 Rechtsanwalt Bernhard Jüsi wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500-- ausgerichtet.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 3. Dezember 2012
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Mattle
 
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