VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 8C_655/2012  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 8C_655/2012 vom 22.11.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_655/2012
 
Urteil vom 22. November 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
 
Gerichtsschreiberin Hofer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
H.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Gemeinde Wettswil,
 
vertreten durch die Sozialbehörde, Sekretariat, 8907 Wettswil,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Sozialhilfe (Rechtsmittelfrist),
 
Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 20. Juli 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Beschluss vom 13. Dezember 2011 verpflichtete die Fürsorgebehörde Wettswil H.________ zur Rückerstattung unrechtmässig bezogener wirtschaftlicher Hilfe im Umfang von Fr. 37'849.50.
 
Den dagegen erhobenen Rekurs wies der Bezirksrat Affoltern mit Beschluss vom 19. April 2012 ab.
 
B.
 
Auf eine von H.________ gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde trat das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 20. Juli 2012 mangels Einhaltung der Rechtsmittelfrist nicht ein.
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt H.________, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben, und die Sache sei an dieses zurückzuweisen, damit es auf die Beschwerde eintrete. Zudem stellt er für das bundesgerichtliche Verfahren ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung.
 
Die Fürsorgebehörde Wettswil verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Verwaltungsgericht beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid des Verwaltungsgerichts steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (Art. 82 ff. BGG). Der Beschwerdeführer wurde zur Rückerstattung von Fürsorgeleistungen verpflichtet. Er ist damit zur Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).
 
2.
 
Im vorliegenden Verfahren ist einzig streitig, in welchem Zeitpunkt für den Beschwerdeführer die Frist für die Einlegung der kantonalen Beschwerde zu laufen begann.
 
Die Vorinstanz stellte fest, der Beschluss des Bezirksrats Affoltern sei laut "Sendeverfolgung" der Post am 20. April 2012 versandt worden. Die Sendung sei dem Beschwerdeführer am 23. April 2012 zur Abholung gemeldet worden. Der Beschwerdeführer habe den angefochtenen Entscheid am 2. Mai 2012 auf der Poststelle in Empfang genommen. Nach § 71 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes des Kantons Zürich vom 24. Mai 1959 (VRG; LS 175.2) in Verbindung mit Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO (SR 272) habe die Sendung indessen bereits als am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch vom 23. April 2012, d.h. am 30. April 2012 als zugestellt zu gelten. Die 30 tägige Beschwerdefrist nach § 53 in Verbindung mit § 22 Abs. 1 VRG habe demnach am 1. Mai 2012 zu laufen begonnen und am 30. Mai 2012 geendet. Die Beschwerde vom 1. Juni 2012 sei somit verspätet.
 
3.
 
3.1 Der Beschwerdeführer kritisiert die vorinstanzliche Betrachtungsweise als überspitzt formalistisch und willkürlich. Die Beschwerdefrist habe erst mit der "tatsächlichen Zustellung" des angefochtenen Beschlusses am 2. Mai 2012 zu laufen begonnen, sodass seine Eingabe an die Vorinstanz vom 1. Juni 2012 rechtzeitig sei.
 
3.2 Wird ein Entscheid durch eingeschriebene Postsendung zugestellt und wurde die Postsendung nicht abgeholt, so gilt die Zustellung am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO; Zustellfiktion). Diese Bestimmung gilt aufgrund des Verweises in § 71 VRG auch für das zürcherische Verwaltungsverfahrensrecht. Eine inhaltlich übereinstimmende Bestimmung findet sich zudem in Art. 44 Abs. 2 BGG, weshalb die dazu ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung massgebend ist (KATHRIN AMSTUTZ/PETER ARNOLD, Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 3 zu Art. 44 BGG).
 
3.3 Die von der Praxis festgelegte und nunmehr in die Gesetze des Bundes (Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO; Art. 44 Abs. 2 BGG) sowie durch den Verweis auf die ZPO auch im Verwaltungsrechtspflegeverfahren des Kantons Zürich geltende Zustellfiktion betrifft Fälle, in denen - wie im hier zu beurteilenden Verfahren - eine Sendung innerhalb der siebentägigen Abholfrist nicht abgeholt wurde (BGE 127 I 31 E. 2a/aa S. 34). Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie lange eine Sendung bei der Post abgeholt werden kann. Nach der von der Vorinstanz zutreffend wiedergegebenen Rechtsprechung des Bundesgerichts wird die Frist der Zustellfiktion selbst dann nicht verlängert, wenn ein Abholen nach den anwendbaren Bestimmungen der Post auch noch länger möglich ist. Auch wenn der Postbote auf der Abholungseinladung versehentlich eine andere als die siebentägige Frist notiert, ändert dies grundsätzlich nichts am Zeitpunkt des Eintritts der Zustellfiktion. Es ist daher nicht überspitzt formalistisch, die Zustellfiktion unabhängig von der postalischen Abholfrist eintreten zu lassen, auch wenn diese ohne Veranlassung durch den Empfänger von der Post spontan oder irrtümlich verlängert wird (BGE 127 I 31 E. 2a/aa und E. 2b S. 34 f.; Urteil 4A_704/2011 vom 16. Januar 2012 E. 3.4).
 
3.4 Nach der Rechtsprechung tritt die Zustellfiktion sieben Tage nach dem erfolglosen Zustellungsversuch ein, unabhängig davon, ob der letzte Tag der siebentägigen Frist auf einen Samstag oder einen anerkannten Feiertag fällt. Am siebten Tag endet normalerweise die Abholfrist. Dieser Tag markiert zugleich den Beginn der Rechtsmittelfrist, zu deren Berechnung unerheblich ist, ob sie an einem Werktag oder Samstag oder anerkannten Feiertag beginnt (BGE 127 I 31 E. 2b S. 35; Urteil 1C_85/2010 vom 4. Juni 2010 E. 1.4.2). Der Zeitpunkt der Zustellfiktion ist in der Regel ohne weiteres erkennbar, da die sieben Tage mit dem erfolglosen Zustellungsversuch beginnen, dessen Datum auf der Abholeinladung erscheint.
 
3.5 Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, als juristischer Laie habe er die Praxis der Zustellfiktion bei eingeschriebenen Sendungen nicht gekannt und sich auf die Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Entscheid verlassen dürfen, kann ihm nicht gefolgt werden. Die im Gesetz statuierte siebentägige Frist entspricht den postalischen Gepflogenheiten und gilt als allgemein bekannt (BGE 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399; 127 I 31 E. 2a/aa S. 34; Urteil 2D_37/2010 vom 23. November 2010 E. 3.2; AMSTUTZ/ARNOLD, a.a.O., N. 34 zu Art. 44 BGG).
 
4.
 
4.1 Der Beschwerdeführer rügt weiter, er sei seitens der Post insofern irregeführt worden, als diese ihm zugesichert habe, er könne die Sendung auch noch am 2. Mai 2012 abholen, nachdem der auf der Abholungseinladung vermerkte letzte Tag auf den 1. Mai und somit auf einen Feiertag gefallen sei.
 
4.2 Der Zustellungsempfänger, dem vom Postboten auf der Abholungseinladung eine längere Abholungsfrist als sieben Tage angegeben wird, kann sich grundsätzlich nicht mit Erfolg auf das in Art. 9 BV verankerte Recht auf Vertrauensschutz im Zusammenhang mit behördlichen Zusicherungen berufen. Denn der Postbote, der den Zustellungsversuch unternimmt, ist nur zur Angabe der Abholungsfrist, nicht aber zur Zusicherung von Rechtsmittelfristen zuständig, die unabhängig von der Abholungsfrist zu laufen beginnen. Vorbehalten bleibt der Fall, dass das Auseinanderklaffen des Datums der Zustellungsfiktion einerseits und des letzten Tages der Abholfrist andererseits für den Zustellungsempfänger nach dem auf der Abholungseinladung vermerkten Datum des ersten erfolglosen Zustellungsversuchs nicht klar erkennbar war (BGE 127 I 31 E. 3 S. 35 ff.).
 
Im von der Vorinstanz erwähnten, bereits zitierten Urteil 1C_85/2010 (E. 1.4) relativierte das Bundesgericht allerdings die Unabhängigkeit der gesetzlichen von der durch die Post vermerkten Abholungsfrist für Nicht-Anwälte dahin gehend, dass dem Empfänger kein Nachteil erwachsen dürfe, wenn das Auseinanderklaffen des Datums der gesetzlichen Zustellfiktion und des letzten Tages der postalischen Abholfrist für den Empfänger tatsächlich nicht erkennbar war. Im vom kantonalen Gericht ebenfalls angeführten Urteil 2D_37/2010 (E. 3.4) hat das Bundesgericht offen gelassen, inwieweit sich für einen Laien allein schon aufgrund einer durch die Post erstreckten Abholfrist eine schützenswerte Vertrauensgrundlage ergeben kann (vgl. auch Urteil 4A_704/2011 vom 16. Januar 2012 E. 3.4). Im Urteil 5A_211/2012 vom 25. Juni 2012 (E. 1.3) hat das Bundesgericht erwogen, da die Post auf Gesuch des Empfängers die Abholfrist verlängert habe, dürfe diesem unter Vertrauensgesichtspunkten aus dem Auseinanderklaffen des Datums der Zustellfiktion und des letzten Tages der postalisch verlängerten Abholfrist kein Nachteil erwachsen.
 
4.3 Unter den Aspekten Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit ist für die Festlegung des Zeitpunktes der Zustellfiktion eine klare, einfache und vor allem einheitliche Praxis notwendig. Die im Gesetz verankerte Regelung darf sich daher grundsätzlich nicht an kundenfreundlichen oder irrtümlichen Anpassungen der Abholfrist im Einzelfall orientieren. Fehler im postalischen Vermerk von Abholfristen sind somit nur ausnahmsweise als tatsächlich nicht erkennbar einzustufen (BGE 127 I 31 E. 2b S. 35; AMSTUTZ/ARNOLD, a.a.O., N. 34 zu Art. 44 BGG).
 
4.4 Der in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben verleiht einer Person Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrauens in behördliche Zusicherungen oder sonstiges, bestimmte Erwartungen begründendes Verhalten der Behörden. Vorausgesetzt ist weiter, dass die Person, die sich auf Vertrauensschutz beruft, berechtigterweise auf diese Grundlage vertrauen durfte und gestützt darauf nachteilige Dispositionen getroffen hat, die sie nicht mehr rückgängig machen kann (BGE 129 I 161 E. 4.1 S. 170; 127 I 31 E. 3a S. 36).
 
4.5 Die Vorinstanz ging davon aus, es lägen keine Anzeichen für eine falsche Angabe der Abholfrist durch die Post vor. Damit hat sie keine Sachverhaltsfeststellungen getroffen, an welche das Bundesgericht gebunden wäre (E. 1.2 hievor).
 
4.6 Gemäss der vom Beschwerdeführer aufgelegten Abholungseinladung konnte er die Sendung bis am 1. Mai 2012 auf der Post abholen. Wegen des kantonalen Feiertags wurde die Abholfrist auf Gesuch des Beschwerdeführers bis am 2. Mai 2012 verlängert. An diesem Tag hat dieser den Entscheid des Bezirksrates auch entgegengenommen. Zwar hat die Frage, wie lange eine Sendung bei der Post abgeholt werden kann, grundsätzlich keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Eintritts der Zustellfiktion (E. 4.2 hievor). Vom nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer kann indessen nicht verlangt werden, die Unterscheidung zwischen dem Ende der postalischen Abholfrist und dem Ende der Legalfrist betreffend Zustellungsfiktion zu kennen. Unter Vertrauensgesichtspunkten darf daher aus dem Auseinanderklaffen des Datums der Zustellungsfiktion (30. April 2012) und des letzten Tages der postalischen Abholfrist (2. Mai 2012) kein Nachteil erwachsen. Mit der am 1. Juni 2012 erhobenen Beschwerde hat der Beschwerdeführer die Rechtsmittelfrist gewahrt. Die Beschwerde an das Verwaltungsgericht erweist sich somit als rechtzeitig.
 
5.
 
Aus den dargelegten Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 20. Juli 2012 ist aufzuheben mit der Folge, dass die Vorinstanz die Beschwerde des Beschwerdeführers als rechtzeitig zu behandeln hat.
 
6.
 
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird verzichtet (Art. 66 Abs. 1 BGG; bereits erwähntes Urteil 2D_37/2010 E. 4.2; Urteil 5A_2/2010 vom 17. März 2010 E. 4), womit das vom Beschwerdeführer eingereichte Gesuch um unentgeltliche Prozessführung (Art. 64 BGG) gegenstandslos wird. Eine Parteientschädigung ist dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer nicht zuzusprechen (vgl. Art. 68 Abs. 1 BGG; Art. 1 des Reglements über die Parteientschädigung; SR 173.110.210.3).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 3. Abteilung, vom 20. Juli 2012 aufgehoben. Die Sache wird zu neuem Entscheid an dieses zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung wird als gegenstandslos abgeschrieben.
 
4.
 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 3. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 22. November 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Die Gerichtsschreiberin: Hofer
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).