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Informationen zum Dokument  BGer 8C_609/2012  Materielle Begründung
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BGer 8C_609/2012 vom 08.11.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_609/2012
 
Urteil vom 8. November 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiber Holzer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5001 Aarau,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
S._________,
 
vertreten durch seine Mutter,
 
und diese vertreten durch den CAP Rechtsschutz,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 26. Juni 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1990 geborene S._________ meldete sich am 14. April 2008 unter Hinweis auf eine Kieferfehlstellung bei der IV-Stelle des Kantons Aargau zum Leistungsbezug an und beantragte medizinische Massnahmen. Mit Mitteilung vom 15. Mai 2008 erteilte die IV-Stelle dem Versicherten Kostengutsprache für medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziffer 208 in der Zeit vom 3. März 2008 bis zum 2. März 2013. Mit Verfügung vom 26. Januar 2012 zog die IV-Stelle diesen Entscheid in Wiedererwägung und beschränkte die Kostengutsprache auf die Zeit zwischen dem 3. März 2008 und dem 30. November 2010, da der Versicherte im November 2010 das 20. Altersjahr zurückgelegt hat.
 
B.
 
Die von S._________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. Juni 2012 gut, hob die Verfügung vom 26. Januar 2012 auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre. In den Erwägungen führte das kantonale Gericht aus, die Sache müsse zum Nachholen des Vorbescheidverfahrens an die IV-Stelle zurückgewiesen werde. Gleichzeitig hielt das Gericht fest, die Wiedererwägungsvoraussetzungen seien erfüllt, da die ursprüngliche Mitteilung zweifellos unrichtig gewesen sei. Zudem werde die IV-Stelle Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV analog anzuwenden haben, weshalb die Anspruchsänderung erst vom ersten Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats an wirksam werde.
 
C.
 
Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle, es sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides ihre Verfügung vom 26. Januar 2012 zu bestätigen. Dabei macht sie einzig Ausführungen zur Frage, ob im vorliegenden Fall Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV analog anzuwenden ist.
 
Während S._________ beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Das BGG unterscheidet in Art. 90 bis 93 zwischen End-, Teil- sowie Vor- und Zwischenentscheiden und schafft damit eine für alle Verfahren einheitliche Terminologie. Ein Endentscheid ist ein Entscheid, der das Verfahren prozessual abschliesst (Art. 90 BGG), sei dies mit einem materiellen Entscheid oder Nichteintreten, z.B. mangels Zuständigkeit. Der Teilentscheid ist eine Variante des Endentscheids. Mit ihm wird über eines oder einige von mehreren Rechtsbegehren (objektive und subjektive Klagehäufung) abschliessend befunden. Es handelt sich dabei nicht um verschiedene materiellrechtliche Teilfragen eines Rechtsbegehrens, sondern um verschiedene Rechtsbegehren. Vor- und Zwischenentscheide sind alle Entscheide, die das Verfahren nicht abschliessen und daher weder End- noch Teilentscheid sind; sie können formell- und materiellrechtlicher Natur sein. Voraussetzung für die selbstständige Anfechtbarkeit materiellrechtlicher Zwischenentscheide ist gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG zunächst, dass sie selbstständig eröffnet worden sind. Erforderlich ist sodann alternativ, dass der angefochtene Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).
 
2.
 
Beim kantonalen Entscheid vom 26. Juni 2012 handelt es sich um einen Zwischenentscheid: Die Vorinstanz hob die Verfügung der IV-Stelle vom 26. Januar 2012 auf und wies die Sache an diese zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. In den Erwägungen führte das kantonale Gericht aus, die Sache müsse zum Nachholen des Vorbescheidverfahrens an die IV-Stelle zurückgewiesen werden. Gleichzeitig hielt das Gericht fest, die Wiedererwägungsvoraussetzungen seien erfüllt, da die ursprüngliche Mitteilung zweifellos unrichtig gewesen sei. Zudem werde die IV-Stelle Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV analog anzuwenden haben, weshalb die Anspruchsänderung erst vom ersten Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats an wirksam werde. Die IV-Stelle macht geltend, durch diesen Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil zu erleiden: Könne sie diesen Entscheid nicht vor Bundesgericht anfechten, so habe dies zur Folge, dass sie gezwungen wäre, eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Diese könne sie in der Folge nicht selber anfechten; da die Gegenpartei kein Interesse haben werde, den allenfalls zu ihren Gunsten rechtswidrigen Endentscheid anzufechten, könne der kantonale Vorentscheid nicht mehr korrigiert werden und würde zu einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil für die Verwaltung führen (vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). Sie erblickt dabei die rechtswidrige Anordnung darin, dass sie durch den kantonalen Entscheid gezwungen werde, Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV analog auf den vorliegenden Fall anzuwenden.
 
3.
 
Eine Anordnung im kantonalen Entscheid kann nur dann einen Nachteil für die Verwaltung bewirken, wenn sie für die erstinstanzliche Behörde verbindlich ist. Unnötige rechtliche Ausführungen in einem Entscheid, sog. "obiter dicta", entfalten für die Vorinstanz keine bindende Wirkung (Urteil 4A_205/2009 vom 12. Oktober 2009; vgl. zur fehlenden präjudiziellen Wirkung von "obiter dicta" auch Emmenegger/ Tschentscher, Berner Kommentar, 2012, N. 486 zu Art. 1 ZGB und Andreas Traub, Bemerkungen zum Obiter dictum in der verwaltungsgerichtlichen Urteilsbegründung, in: Information und Recht, 2002, S. 303 ff., S. 310). Im vorliegenden Fall können die Erwägungen des kantonalen Gerichts, wonach die Wiedererwägungsvoraussetzungen gegeben und Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV analog anzuwenden ist, zudem bereits aus dem Grunde nicht verbindlich sein, als das kantonale Gericht die Sache zum Durchführen des Vorbescheidverfahrens zurückgewiesen hat. Wie dieses Gericht zutreffend ausgeführt hat, handelt es sich beim Vorbescheidverfahren um eine spezialgesetzliche Verfahrensregelung zur Gewährung des rechtlichen Gehörs. Eine Rückweisung zur Gewährung des rechtlichen Gehörs macht aber zum Vorneherein nur dann Sinn, wenn das Ergebnis des Verfahrens noch offen ist. Wären die umstrittenen Anordnungen für die IV-Stelle verbindlich, so wäre das Ergebnis des Verfahrens nicht länger offen. Insofern ist der kantonale Entscheid, die Sache zur Durchführung des Vorbescheidverfahrens zurückzuweisen und gleichzeitig materielle Anordnungen zu treffen, in sich widersprüchlich. In sich widersprüchliche oder unsinnige Anordnungen können aber für die unteren Instanzen nicht verbindlich sein (vgl. auch Urteil 8C_154/2010 vom 16. August 2010 E. 7.1).
 
4.
 
Entfalten somit die Erwägungen des kantonalen Gerichts, wonach die Wiedererwägungsvoraussetzungen gegeben und Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV analog anzuwenden ist, für die IV-Stelle keine bindende Wirkung, so droht der Verwaltung durch den angefochtenen Entscheid kein nicht wieder gutzumachender Nachteil. Somit ist die Eintretensvoraussetzung gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nicht erfüllt. Da eine Gutheissung der Beschwerde keinen sofortigen Endentscheid herbeiführen würde, ist auch die Eintretensalternative von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG nicht gegeben. Auf die Beschwerde der IV-Stelle gegen den kantonalen Entscheid vom 26. Juni 2012 ist somit nicht einzutreten.
 
5.
 
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. auch BGE 135 V 473).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 250.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 8. November 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Der Gerichtsschreiber: Holzer
 
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