VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1B_585/2012  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1B_585/2012 vom 30.10.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_585/2012
 
Urteil vom 30. Oktober 2012
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Merkli, Chaix,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm, Untere Grabenstrasse 32, Postfach 1475, 4800 Zofingen,
 
Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau, Kasinostrasse 5, 5000 Aarau.
 
Gegenstand
 
Entlassung aus der Untersuchungshaft / Verlängerung der Untersuchungshaft,
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 26. September 2012 des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm führt gegen X.________ eine Strafuntersuchung wegen mehrfacher Beschimpfung, mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte und mehrfacher Widerhandlung gegen das SVG. Mit Entscheid vom 6. Januar 2012 ordnete das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau die Untersuchungshaft an. In der Folge verlängerte es sie dreimal, zuletzt mit Verfügung vom 29. August 2012 bis am 4. Oktober 2012. Gegen diese Verfügung erhob X.________ Beschwerde an die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau. Mit Entscheid vom 26. September 2012 wies das Obergericht die Beschwerde ab.
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 9. Oktober 2012 beantragt X.________, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und er selbst sei in Freiheit zu entlassen.
 
Das Zwangsmassnahmengericht und das Obergericht haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde nicht einzutreten. Der Beschwerdeführer habe ein Gesuch um vorzeitigen Massnahmenvollzug gestellt, das mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 27. September 2012 (und mit Zustimmung des Amts für Justizvollzug vom 8. Oktober 2012) bewilligt worden sei. Damit bestehe kein aktuelles Rechtsschutzinteresse mehr an der Beschwerde. Der Beschwerdeführer weist in seiner Stellungnahme dazu darauf hin, dass er trotz vorzeitigem Massnahmenvollzug nach wie vor ein Interesse an der Beschwerde habe.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft die Verlängerung der Untersuchungshaft. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer befindet sich zwar mittlerweile im vorzeitigen Massnahmenvollzug. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, ein Gesuch um Haftentlassung zu stellen (BGE 137 IV 177 E. 2.1 S. 178 f. mit Hinweisen). Auf Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Massnahmenvollzug hin ist zu prüfen, ob die Haftvoraussetzungen gegeben sind (BGE 117 Ia 72 E. 1d S. 79 f.; Urteile 1B_379/2011 vom 2. August 2011 E. 2.1; 1B_6/2007 vom 20. Februar 2007 E. 2.3; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer ist somit, entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft, nach wie vor gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
 
2.
 
2.1 Nach Art. 221 StPO ist Untersuchungshaft nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a); Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Abs. 1 lit. b); oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Abs. 1 lit. c). Haft ist auch zulässig, wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahr machen (Abs. 2). Das zuständige Gericht ordnet gemäss Art. 237 Abs. 1 StPO an Stelle der Untersuchungshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen. Die Untersuchungshaft darf zudem nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 3 StPO).
 
2.2 Das Obergericht legt dar, es liege Ausführungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 2 StPO vor. Der Beschwerdeführer habe einem Beamten des Grenzwachtkorps gedroht, ihn zu töten ("Ich schneide dir den Hals auf"). Weiteren Grenzbeamten habe er gedroht, er werde zu Hause Waffen holen, "um alle umzulegen". Gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten vom 14. März 2012 erachtet das Obergericht die Gefahr, dass der Beschwerdeführer seine Drohungen in die Tat umsetzen könnte, als hoch. Schliesslich sei angesichts der zahlreichen Vorstrafen eine Freiheitsstrafe zu erwarten, welche die bisher erstandene Haft noch nicht als übermässig lange erscheinen lasse. Indessen dürfte sich die Haft nicht mehr für lange Zeit rechtfertigen lassen. Die Staatsanwaltschaft habe diesbezüglich dargelegt, dass zwischenzeitlich ein von ihr in Auftrag gegebenes Zusatzgutachten eingetroffen sei und dass einer Anklageerhebung bis zum Ende der bewilligten Haftdauer am 4. Oktober 2012 nichts im Weg stehe. Im Übrigen setze der Haftgrund der Ausführungsgefahr nicht voraus, dass eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Massnahme drohe.
 
2.3 Der Beschwerdeführer bestreitet weder den dringenden Tatverdacht noch die Ausführungsgefahr. Er macht jedoch geltend, es liege Überhaft vor und der angefochtene Entscheid verletze in dieser Hinsicht Art. 221 Abs. 2 und Art. 212 Abs. 3 StPO. Auch beim Haftgrund der Ausführungsgefahr müsse die Haft zeitlich beschränkt sein und dürfe nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Hinsichtlich der Wahl der Strafart habe das Bundesgericht mehrfach festgehalten, dass im Bereich von sechs Monaten und einem Jahr die Geldstrafe die Hauptsanktion darstelle, während Freiheitsstrafen nur verhängt werden sollten, wenn dies zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit notwendig sei. Vorliegend habe er angesichts des konkreten Tatvorwurfs nicht mit einer freiheitsentziehenden Massnahme zu rechnen, die länger sei als die bisher acht Monate dauernde Untersuchungshaft. Die ihm zur Last gelegten Drohungen hätten die Beamten namentlich offensichtlich nicht in Angst und Schrecken versetzen können. Der betreffende Rapport halte ausdrücklich fest, dass mehrere Patrouillen anwesend gewesen seien und der Transport "ohne Probleme" verlaufen sei. Man habe ihn nur deshalb weiter festgehalten, weil man habe überprüfen wollen, ob er Waffen besitze.
 
2.4 Die vorinstanzliche Argumentation erscheint teilweise widersprüchlich. So wird im angefochtenen Entscheid einerseits ausgeführt, die bisher erstandene Haft sei angesichts der zu erwartenden Freiheitsstrafe noch gerechtfertigt, wenn auch nicht mehr für lange Zeit. Andererseits wird festgehalten, der Haftgrund der Ausführungsgefahr setze gar nicht voraus, dass eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Massnahme drohe. Wie es sich damit verhält, kann jedoch offen bleiben, da eine Überhaft ohnehin zu verneinen ist. Denn diesbezüglich ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung neben der zu erwartenden Freiheitsstrafe auch die Möglichkeit einer freiheitsentziehenden Massnahme zu berücksichtigen. Das gilt auch unter dem Regime der seit 1. Januar 2011 in Kraft stehenden Schweizerischen Strafprozessordnung, auch wenn deren Art. 212 Abs. 3 lediglich die Freiheitsstrafe, nicht aber die freiheitsentziehende Massnahme nennt (Urteil 1B_524/2011 vom 13. Oktober 2011 E. 3.1 mit Hinweisen; vgl. auch WEDER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, N. 20 zu Art. 212 StPO). Dabei ist sowohl in Bezug auf die Strafe als auch die Massnahme - soweit möglich - eine konkrete Prognose anzustellen (BGE 126 I 172 E. 5 S. 176 ff.; Urteile 1B_524/2011 vom 13. Oktober 2011 E. 3.1; 1B_42/2009 vom 5. März 2009 E. 3.3.1; je mit Hinweisen). Unter diesem Gesichtswinkel liegt aus folgenden Erwägungen jedenfalls keine Überhaft vor: Nachdem das erste psychiatrische Gutachten vom 14. März 2012 dem Beschwerdeführer eine erhöhte Ausführungsgefahr hinsichtlich seiner Drohungen gegenüber den Grenzwachtangehörigen attestierte, wird im zweiten Gutachten vom 6. September 2012 eine stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB empfohlen. Der Beschwerdeführer leide unter einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und zeige zudem akzentuiert paranoide Persönlichkeitszüge. Im Weiteren habe er in den tatrelevanten Zeiträumen unter einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion sowie unter dem schädlichen Gebrauch von Alkohol gelitten und gelegentlich dysfunktionalen Gebrauch von Cannabinoiden betrieben. Zur zu erwartenden Massnahmendauer ist dem Gutachten keine direkte Aussage zu entnehmen, jedoch wird von einer hohen Rückfallgefahr ausgegangen und darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer eine Behandlung im Rahmen einer Massnahme entschieden ablehne (wobei die Chance bestehe, dass sich die Behandlungseinsicht und -bereitschaft im Laufe der Behandlung entwickelten). Diese Angaben weisen auf eine stationäre therapeutische Massnahme längerer Dauer hin. Insgesamt erweist sich deshalb die Aufrechterhaltung der seit knapp zehn Monaten dauernden Haft bzw. des vorzeitigen Massnahmenvollzugs noch nicht als unverhältnismässig.
 
3.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen. Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.
 
2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
2.2 Rechtsanwalt Kenad Melunovic wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm, dem Zwangsmassnahmengericht und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 30. Oktober 2012
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Dold
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).