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Informationen zum Dokument  BGer 8C_390/2012  Materielle Begründung
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BGer 8C_390/2012 vom 10.10.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_390/2012
 
Urteil vom 10. Oktober 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
M.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (vorinstanzliches Verfahren),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 29. Februar 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
M.________ war bei der Firma X.________ AG als Malerlehrling angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (nachfolgend: SUVA) gegen die Folgen von Unfällen versichert, als er am 18. November 1979 mit seinem Mofa in einer Kurve frontal in ein entgegenkommendes Auto fuhr. Dabei zog er sich mehrere Brüche am linken Bein und an der linken Hand, eine Contusio cerebri mit frontalem Hygrom beidseits sowie eine Schädelbasisfraktur zu. Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen. M.________ schloss seine Lehre ab und arbeitete danach als Maler und in anderen Tätigkeiten. Die SUVA richtete ihm ab Dezember 1980 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 20 % aus; per 1. Januar 1987 fand infolge verbesserter wirtschaftlicher Verhältnisse eine Reduktion auf 10 % statt. Sie kam für verschiedene Leistungen im Rahmen von Rückfällen auf, so für Nachoperationen (vgl. etwa Bericht der Chirurgischen Klinik, Spital Y.________, vom 18. November 1981), für eine Haarplastik (vgl. Bericht der Klinik für Plastische und Wiederherstellungschirurgie, Spital Y.________, vom 28. September 1982) sowie in Zusammenhang mit der Femoro-Patellararthrose (Bericht Dr. med. B.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie, vom 13. Dezember 1993), und anerkannte auch die psychischen und kognitiven Beschwerden als Unfallfolge (vgl. etwa Notiz des Kreisarztes vom 6. Februar 1992 sowie kreisärztlicher Bericht vom 23. September 1986 und 13. Oktober 1983 als auch Bericht des Dr. phil. C.________, Psychologe, Rehabilitationsklinik Z.________, vom 26. September 1984). Während seiner Badeferien verlor M.________ infolge einer überraschend grossen Welle am 18. (recte: 14.) August 2004 den Stand und wurde mitgerissen. Am 3. September 2004 verletzte sich M.________ an den Fingern, als ihm eine angehobene Steinplatte auf die Hände fiel. Die SUVA lehnte ihre Leistungspflicht für die geklagten Beschwerden, welche M.________ vornehmlich auf den Unfall vom 18. November 1979 zurückführte, mit Verfügung vom 15. September 2005, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 4. August 2011, ab.
 
B.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 29. Februar 2012 ab.
 
C.
 
M.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die SUVA zu verpflichten, ihm ab 1. September 2005 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 50 % auszurichten; eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zu seiner "Anhörung" zurückzuweisen.
 
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, da die Beschwerde unter Einhaltung der gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) und Form (Art. 42 BGG) von einer durch die Entscheidung besonders berührten Partei mit einem schutzwürdigen Interesse an deren Aufhebung oder Änderung (Art. 89 Abs. 1 BGG) eingereicht wurde und sich das Rechtsmittel gegen einen von einer letzten kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG) gefällten Endentscheid (Art. 90 BGG) in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a BGG) richtet und keine der in Art. 83 BGG erwähnten Ausnahmen greift.
 
2.
 
2.1 Nach Art. 6 Ziff. 1 Satz 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Vorliegend sind zivilrechtliche Ansprüche im Sinne dieser Norm streitig (BGE 122 V 47 E. 2a S. 50). Gemäss diesem Leiturteil hat das kantonale Gericht, dem es primär obliegt, die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten, bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen Parteiantrags grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE 122 V 47 E. 3 S. 54). Ein während des ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag gilt als rechtzeitig (BGE 134 I 331). Dem aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleiteten Anspruch auf deren Abhaltung ist Genüge getan, wenn die Recht suchende Person mindestens vor einer Instanz in einer öffentlichen Verhandlung gehört wird (Urteil 8C_504/2010 vom 2. Februar 2011 E. 1.2 und 2.2).
 
2.2 Von einer öffentlichen Verhandlung kann nicht deswegen abgesehen werden, weil es sich um ein Verfahren mit hauptsächlich medizinischer Fragestellung handelt. Bildet Gegenstand einer Verhandlung einzig die Auseinandersetzung mit fachärztlichen Stellungnahmen zu Gesundheitszustand und Arbeitsunfähigkeit, kann deren Durchführung nicht verweigert werden mit dem Argument, das schriftliche Verfahren sei besser geeignet, medizinische Fragen zu erörtern (BGE 136 I 279 E. 3 S. 283).
 
2.3 Der Grundsatz der Öffentlichkeit bezieht sich sowohl auf die Parteiöffentlichkeit als auch auf die Publikums- und Presseöffentlichkeit. Er umfasst unter anderem den Anspruch des Einzelnen, seine Argumente dem Gericht mündlich in einer öffentlichen Sitzung vortragen zu können. Dagegen gilt das Öffentlichkeitsprinzip nicht für die Beratung des Gerichts; diese kann unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden (BGE 122 V 47 E. 2c S. 51; Urteil 8C_138/2011 vom 21. Juni 2011 E. 2.3 mit Hinweisen). Der Öffentlichkeitsgrundsatz beinhaltet keinen Anspruch darauf, dass bestimmte Beweismittel öffentlich und in Anwesenheit der Parteien abgenommen werden. Die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung setzt daher im Sozialversicherungsprozess einen - im erstinstanzlichen Verfahren zu stellenden - ausdrücklichen oder zumindest konkludenten Parteiantrag voraus, aus dem klar und unmissverständlich hervorgehen muss, dass eine konventionskonforme Verhandlung mit Publikums- und Presseanwesenheit durchgeführt werden soll. Wird lediglich eine persönliche Anhörung oder Befragung, ein Parteiverhör, eine Zeugeneinvernahme oder die Durchführung eines Augenscheins verlangt, darf das Gericht daraus schliessen, dass es dem Antragsteller um die Abnahme bestimmter Beweismittel und nicht um die Durchführung einer Verhandlung mit Publikums- und Presseanwesenheit geht (BGE 122 V 47 E. 3a S. 55; SVR 2009 IV Nr. 22 S. 62 E. 1.2 [9C_599/2008]).
 
In einem neueren Entscheid hat das Bundesgericht festgehalten, ein Antrag auf "persönliche Anhörung" schliesse den Antrag auf eine mündliche (öffentliche) Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK mit ein, sofern es der gesuchstellenden Person nicht um eine Befragung im Sinne einer Beweisabnahme, sondern um die Darlegung ihres persönlichen Standpunkts zum Beweisergebnis vor einem unabhängigen Gericht geht (Urteil 2C_100/2011 vom 10. Juni 2011 E. 2). In einem weiteren Entscheid hat das Bundesgericht festgestellt, ein Antrag auf eine mündliche Verhandlung, welche nach den anwendbaren (kantonalen) Normen öffentlich sein müsse, sei zumindest sinngemäss als Antrag auf eine öffentliche Verhandlung auszulegen (Pra 2011 Nr. 25 S. 171 E. 2.7 [2C_370/2010]).
 
3.
 
3.1 Der Versicherte liess in seiner Beschwerde an die Vorinstanz ausführen:
 
"Wir beantragen ausdrücklich eine Anhörung des Beschwerdeführers (der ja einen Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung des Falles hat), damit sich das Gericht ein Bild von seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen machen kann, wobei wohl schon die Akten ein klares Bild zeichnen."
 
Damit brachte er unmissverständlich zum Ausdruck, dass er - gestützt auf seinen Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK - eine persönliche Befragung im Rahmen einer Verhandlung verlangt. Da das Begehren - entgegen der Ansicht der SUVA - über einen blossen Beweisantrag hinausgeht und sämtliche Verhandlungen vor Verwaltungsjustizbehörden des Kantons Aargau öffentlich sind (§ 57 Abs. 1 in Verbindung mit § 58 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Aargau vom 4. Dezember 2007 über die Verwaltungsrechtspflege [Verwaltungsrechtspflegegesetz, VRPG; SAR 271.200]), wurde ausdrücklich oder zumindest konkludent (BGE 122 V 47 E. 3b S. 56) und damit in rechtsgenüglicher Weise eine öffentliche Verhandlung beantragt (vgl. E. 2.3). Demnach liegt kein Verzicht auf eine konventionskonforme öffentliche Verhandlung vor.
 
3.2 In diesem Lichte sind die Voraussetzungen für einen Verzicht auf die vom Versicherten vorinstanzlich ausdrücklich beantragte Durchführung einer öffentlichen Verhandlung nicht gegeben. Weder ist der Antrag schikanös, noch läuft er dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwider. Sodann kann das Rechtsmittel nicht als offensichtlich unbegründet oder unzulässig bezeichnet werden. Von hoher Technizität kann im vorliegenden Fall ebenfalls nicht gesprochen werden: Streitig ist, ob die vom Versicherten geklagten Beschwerden in einem natürlich- und adäquat-kausalen Zusammenhang mit dem Unfall vom 18. November 1979 stehen. Damit liegt ein Streit vor, der keine Ausnahme von der Pflicht, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, begründet.
 
Indem die Vorinstanz unter diesen Umständen und ohne Ausführungen in ihrem Entscheid von der beantragten öffentlichen Verhandlung abgesehen hat, wurde dieser in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantie nicht Rechnung getragen. Es ist daher unumgänglich, die Sache an sie zurückzuweisen, damit sie den Verfahrensmangel behebt und die vom Versicherten verlangte öffentliche Verhandlung durchführt. Danach wird sie über die Beschwerde materiell neu befinden (BGE 136 I 279 E. 4 S. 284; Urteil 8C_139/2010 vom 30. Juni 2010 E. 2.3).
 
3.3 Bei diesem Ausgang des Verfahrens kann offen bleiben, ob das Ereignis vom 18. November 1979 als mittelschwer an der Grenze zu den leichten Fällen, als im eigentlich mittleren Bereich oder als mittelschwer an der Grenze zu den schweren Fällen einzustufen ist (vgl. dazu etwa RKUV 1999 Nr. U 330 S. 122 E. 4b/bb, Urteil 8C_621/2011 vom 31. Januar 2012 E. 3.4.3 sowie Urteil 8C_381/2011 vom 1. Dezember 2011 E. 3.1). Ebenfalls nicht zu beantworten ist im jetzigen Verfahrensstadium, ob der adäquate Kausalzusammenhang nach der Rechtsprechung von BGE 115 V 133 oder aber nach der Rechtsprechung zu den Schädel-Hirntraumata (BGE 134 V 109; 117 V 369) zu beurteilen ist.
 
4.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende SUVA hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 29. Februar 2012 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 4. August 2011 neu entscheide.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 10. Oktober 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold
 
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