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Informationen zum Dokument  BGer 8C_263/2012  Materielle Begründung
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BGer 8C_263/2012 vom 31.08.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_263/2012
 
Urteil vom 31. August 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichter Frésard, Maillard,
 
Gerichtsschreiber Jancar.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
D._______,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Elisabeth Glättli,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Rechtsabteilung, Postfach 4358, 6002 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 15. Februar 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a Der 1954 geborene D._______ war seit 1972 bei der Firma X.________ AG als Monteur angestellt. Am 19. Juli 1973 brach er sich bei einem Arbeitsunfall beide Beine. Die SUVA, bei der er obligatorisch unfallversichert war, richtete ihm ab 10. März 1974 eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 25 % aus (Bescheid vom 30. Dezember 1974, Mitteilung vom 4. Mai 1997). Mit Verfügung vom 13. Juni 1996 erhöhte sie die Invalidenrente ab 1. Mai 1996 bei einer Erwerbsunfähigkeit von 33.33 %. Nach einer vom Versicherten am 8. März 2000 anbegehrten Rentenüberprüfung richtete sie weiterhin die bisherige Rente aus. Am 19. Februar 2009 verlangte der Versicherte eine Rentenerhöhung. Die SUVA veranlasste eine kreisärztliche Untersuchung vom 15. April 2009. Mit Verfügung vom 8. Mai 2009 lehnte sie eine Rentenerhöhung ab. Mit Entscheid vom 29. Juni 2009 wies sie die Einsprache des Versicherten ab, da seit dem letzten Revisionszeitpunkt vom 1. Mai 1996 keine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten sei. Hiegegen reichte der Versicherte beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau Beschwerde ein, welche dieses mit Entscheid vom 11. November 2009 abwies. Dieser Entscheid wurde vom Bundesgericht mit Urteil 8C_41/2010 vom 20. April 2010 bestätigt.
 
A.b Am 7. Mai 2010 reichte der Versicherte bei der Unfallversicherungsanstalt Y.________ das Gesuch um Neufeststellung der Unfallrente durch die SUVA ein; am 28. September 2010 verlangte er direkt bei der SUVA eine neuerliche Feststellung der Unfallfolgen sowie Folgeschäden. Diese Eingaben und ein Begleitschreiben der Unfallversicherungsanstalt Y.________ vom 11. Mai 2010 gingen bei der SUVA am 1. Oktober 2010 ein. Sie eröffnete dem Versicherten mit Verfügung vom 7. Dezember 2010, sie trete auf das Wiedererwägungsgesuch nicht ein. Dagegen erhob er Einsprache mit dem Antrag, in Aufhebung der Verfügung sei die SUVA zu verpflichten, auf sein Revisionsgesuch einzutreten, die nötigen Abklärungen vorzunehmen und einen Entscheid zu fällen. Die SUVA teilte ihm am 11. März 2011 mit, da gegen die Wiedererwägungsverfügung vom 7. Dezember 2010 kein ordentliches Rechmittel bestehe, könne sie die Einsprache materiell nicht behandeln.
 
B.
 
Die hiegegen eingereichte Rechtsverweigerungsbeschwerde wies das kantonale Gericht mit Entscheid 15. Februar 2012 ab.
 
C.
 
Mit Beschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die Sache an die SUVA zurückzuweisen, damit sie prüfe, ob die Rente infolge der durch den Beckenschiefstand verursachten Rückenbeschwerden zu revidieren sei.
 
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Immerhin prüft es grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
 
2.
 
2.1 Die Vorinstanz erwog, mit Verfügung vom 7. Dezember 2010 sei die SUVA auf das Wiedererwägungsgesuch des Versicherten vom 7./11. Mai bzw. 28. September 2010 nicht eingetreten. Ob der geltend gemachte Beckenschiefstand und die daraus resultierenden Rückenbeschwerden schon Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung des mit bundesgerichtlichem Urteil 8C_41/2010 abgeschlossenen Revisionsverfahrens gewesen seien, könne offen bleiben. Denn auch wenn diese Punkte im vorgenannten Verfahren noch nicht thematisiert worden wären, ändere dies nichts an der Tatsache, dass Verfügungen, mit denen das Eintreten auf ein Widererwägungsgesuch abgelehnt werde, weder beschwerde- noch einsprachweise anfechtbar seien (vgl. Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 133 V 50). Damit liege keine Rechtsverweigerung vor, weshalb die Beschwerde abzuweisen sei.
 
2.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz verkenne, dass er kein Wiedererwägungsgesuch, sondern - infolge der Auswirkungen seiner Beinlängendifferenz und des Beckenschiefstandes - ein Revisionsgesuch nach Art. 17 ATSG gestellt habe. Er mache keine Revisionsgründe nach Art. 53 Abs. 1 BGG geltend und stelle nicht die ursprüngliche Richtigkeit der mit bundesgerichtlichem Urteil 8C_41/2010 bestätigten Verfügung in Frage. Da die Voraussetzungen von Art. 17 ATSG vorlägen, liege das Zurückkommen der SUVA auf die streitige Verfügung vom 7. Dezember 2010 nicht in deren Ermessen. Denn der durch seine Beinlängendifferenz verursachte Beckenschiefstand mit Rückenbeschwerden seien nicht Gegenstand der Revisionsverfahren in den Jahren 1996 und 2009 gewesen und weder im vorinstanzlichen Entscheid vom 11. November 2009 noch im Bundesgerichtsurteil 8C_41/2010 überprüft worden. Da natürlich- und adäquat-kausale Spätfolgen des ursprünglichen Unfalls (vom 19. Juli 1973) in Frage stünden, die eine erhebliche Verschlimmerung der Unfallfolgen bewirkten, sei zu prüfen, ob eine erhebliche Änderung des Invaliditätsgrades vorliege.
 
3.
 
3.1 Massgebend für die Auslegung von Willenserklärungen zwischen Behörden und versicherten Personen ist das Prinzip von Treu und Glauben. Danach sind Willenserklärungen so auszulegen, wie sie der Empfänger in guten Treuen verstehen durfte und musste. Eine sichtlich ungewollte oder unbeholfene Wortwahl schadet der am Recht stehenden Person ebenso wenig wie eine unglückliche oder rechtsirrtümliche Ausdrucksweise. Bei der Auslegung des Sinnes eines zu wenig bestimmt formulierten Rechtsbegehrens kann insbesondere auch auf dessen Begründung zurückgegriffen werden (nicht publ. E. 3.2.1 des Urteils BGE 130 V 61; Urteil 9C_359/2011 vom 25. August 2011 E. 2.3).
 
3.2 Die Gesuche vom 7./11. Mai 2010 - mit dem Antrag auf Neufeststellung der Unfallrente - und vom 28. September 2010 - mit dem Antrag auf neuerliche Feststellung der Unfallfolgen sowie Folgeschäden - verfasste der Versicherte ohne anwaltliche Vertretung. Aus diesen Gesuchen - an die keine allzu strengen formellen Anforderungen zu stellen sind (vgl. Urteil 8C_164/2007 vom 13. September 2007 E. 2.2) - geht nicht eindeutig hervor, ob er eine Wiedererwägung des Einsprachentscheides vom 29. Juni 2009 nach Art. 53 Abs. 2 ATSG oder eine Rentenrevision wegen nachträglicher Änderung des massgebenden Sachverhalts (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 130 V 343 E. 3.5.2 S. 350) verlangte. In der von seiner Rechtsvertreterin erstellten Einsprache gegen die streitige Nichteintretensverfügung wurde beantragt, auf sein Revisionsgesuch sei einzutreten. Anderseits argumentierte die Rechtsvertreterin in der vorinstanzlichen Beschwerde, die SUVA habe die erforderlichen Abklärungen betreffend Beinlängenverkürzung und Rückenbeschwerden vorzunehmen; erst gestützt darauf könne die Pflicht zur Wiedererwägung beurteilt werden (Art. 53 Abs. 2 ATSG).
 
3.3 Letztlich kann jedoch offen bleiben, ob ein Wiedererwägungsgesuch nach Art. 53 Abs. 2 ATSG oder ein Revisionsbegehren nach Art. 17 Abs. 1 ATSG vorlag. Denn der Versicherte stützte sich in den Gesuchen vom 7./11. Mai und 28. September 2010 auf ärztliche Berichte bzw. Befunde vom 24. Mai 1995 und aus dem Jahr 2009; er berief sich aber auf keine Arztberichte, die nicht bereits in dem mit bundesgerichtlichem Urteil 8C_41/2010 abgeschlossenen Verfahren - das den Einspracheentscheid der SUVA vom 29. Juni 2009 betraf - vorlagen. In diesem Lichte hat er das Bestehen einer rechtserheblichen Tatsachenänderung - d.h. eines Rückfalles oder einer Spätfolge (hierzu vgl. Urteil 8C_41/2010 E. 3 mit Hinweisen) - seit diesem Einspracheentscheid nicht glaubhaft gemacht; demnach hätte die SUVA auf die Gesuche vom 7./11. Mai und 28. September 2010 auch nach Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht eintreten dürfen (vgl. BGE 133 V 108, 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f.; Urteil U 55/07 vom 13. November 2007 E. 4.1; Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 17 N 29).
 
3.4 Weiter ist festzuhalten, dass der Versicherte auch in der Einsprache gegen die Nichteintretensverfügung vom 7. Dezember 2010, im vorinstanzlichen Verfahren und letztinstanzlich nur Arztberichte anruft, die im mit Urteil 8C_41/2010 abgeschlossenen Verfahren bereits vorlagen. Damit ist eine gesundheitliche Verschlechterung seit dem Einspracheentscheid vom 29. Juni 2009 nicht belegt. Die Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG wäre somit abzulehnen, selbst wenn die SUVA auf die Gesuche vom 7./11. Mai und 28. September 2010 eingetreten wäre.
 
3.5 Nicht stichhaltig ist der Einwand des Versicherten, der durch seine Beinlängendifferenz verursachte Beckenschiefstand und die daraus folgenden Rückenbeschwerden seien bisher nicht überprüft worden. Denn im vorinstanzlichen Entscheid vom 11. November 2009 wurde erwogen, das umstrittene Ausmass des Beckenschiefstandes sei nicht erheblich und für die Revision nicht von Relevanz. Im Urteil 8C_41/2010 wurde unter anderem der Bericht des Dr. med. univ. O.________, Facharzt für Unfallchirurgie, vom 8. Juli 2009 berücksichtigt, wonach die Beckenübersichtsaufnahme eine Beinverkürzung rechts von 22 mm gezeigt und an der Lendenwirbelsäule eine rechtskonvexe Rotationsskoliose mit Chondrose L4/5 und L5/S1 bestanden habe. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen.
 
4.
 
Der unterliegende Versicherte trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 31. August 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar
 
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