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Informationen zum Dokument  BGer 8C_942/2011  Materielle Begründung
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BGer 8C_942/2011 vom 23.08.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_942/2011
 
Urteil vom 23. August 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Rechtsabteilung, 6002 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
I.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Jörg Zurkirchen,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
 
vom 10. November 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
I.________, geboren 1977, hatte sich am 28. August 2006 bei der Arbeit mit einer Fräse an der linken Hand verletzt. Dabei wurden das Kapselband und der Ramus dorsalis des Nervus ulnaris durchtrennt. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) sprach ihm mit Verfügung vom 25. Februar 2010 und Einspracheentscheid vom 29. Juni 2010 unter Annahme einer 100%igen Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 17% sowie eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 15% zu.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 10. November 2011 teilweise gut und sprach I.________ eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 37% zu; im Übrigen wurde die Beschwerde abgewiesen.
 
C.
 
Die SUVA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei insoweit aufzuheben, als dem Versicherten eine höhere Invalidenrente zugesprochen wurde; eventualiter sei die Sache zur Durchführung einer medizinischen Begutachtung und Neuverfügung im Rentenpunkt an sie zurückzuweisen.
 
Während I.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt und die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege beantragt, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
 
1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf eine Invalidenrente der Unfallversicherung (Art. 18 Abs. 1 UVG) sowie zum Beweiswert von Arztberichten und medizinischen Gutachten (BGE 135 V 465 E. 4.3 S. 468 ff.; 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.) unter Hinweis auf den Einspracheentscheid zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
Streitig ist allein die für die Beurteilung des Rentenanspruchs massgebliche Arbeitsfähigkeit des Versicherten. Während die SUVA gestützt auf die kreisärztlichen Einschätzungen von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit ausging, war nach den vorinstanzlichen Erwägungen aus denselben Stellungnahmen lediglich eine 75%ige Arbeitsfähigkeit abzuleiten.
 
Nachdem die Ärzte der Rehaklinik X.________ bereits am 10. Januar 2007 nach einem Einstieg ohne Leistungsdruck zur Anpassung und Angewöhnung mit zusätzlichen Pausen eine ganztägige Arbeitszeit als zumutbar erachtet und eine Zustandsverbesserung im weiteren Verlauf erwartet hatten, bestanden auch gemäss kreisärztlichem Bericht des Dr. med. M.________ (vom 16. April 2008) nach der Untersuchung vom 15. April 2008 keine anderen Einschränkungen als die dort genannten unzumutbaren Tätigkeiten, namentlich keine zeitlichen. Erst per 1. Januar 2009 wurden die Taggeldleistungen jedoch auf 50% herabgesetzt (Schreiben vom 18. Dezember 2008). Auf Rücksprache hin erachtete Dr. med. M.________ am 24. Juli 2009 bei unverändertem Zustand (gemäss Einschätzung des Hausarztes) eine Arbeitsfähigkeit von 75% auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als gegeben. Nachdem die Y.________ AG, welche von der SUVA mit der beruflichen Integration des Versicherten beauftragt worden war, das Mandat erfolglos hatte abschliessen müssen, wurde der Versicherte durch SUVA-Kreisarzt Dr. med. N.________ untersucht. Gemäss seinem Bericht vom 18. Dezember 2009 konnte an dem von Dr. med. M.________ am 16. April 2008 formulierten Leistungsprofil weiterhin festgehalten werden. Indessen erwähnte er, allerdings ausdrücklich hinsichtlich der Möglichkeit eines Computerarbeitsplatzes, dass eine 75%ige Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erreichbar sei. Auf Anfrage im Einspracheverfahren betreffend allfällige Einschränkungen der Leistungsfähigkeit durch die eingenommenen Medikamente (Zaldiar und Novalgin) hin führte Dr. med. N.________ am 15. Juni 2010 aus, dass bei Einhaltung der verordneten Dosierung die Konzentration und Reaktionsfähigkeit nicht erheblich beeinflusst würden und der Versicherte im Rahmen der somatischen Zumutbarkeitsbeurteilung "selbstverständlich vollumfänglich erwerbstätig" sein könne.
 
Nachdem der Fall unbestrittenerweise abzuschliessen und der Rentenanspruch zu prüfen war, vermögen die dargelegten Stellungnahmen für eine zuverlässige Beurteilung (anders als hinsichtlich des zunächst zur Diskussion stehenden Taggeldanspruchs, vgl. Art. 25 Abs. 3 UVV) nicht zu genügen. Es fehlt den kreisärztlichen Angaben an der hier erforderlichen Eindeutigkeit, und die sich daraus ergebenden Widersprüchlichkeiten hinsichtlich der attestierten Arbeitsfähigkeit sind nicht ohne Weiteres auszuräumen. Die Sache ist daher antragsgemäss an die SUVA zurückzuweisen, damit sie eine medizinische Begutachtung des Versicherten zur Abklärung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit veranlasse und über seinen Rentenanspruch neu verfüge.
 
4.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung, Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG) kann gewährt werden, weil die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin geboten war. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 10. November 2011 und der Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) vom 29. Juni 2010 werden aufgehoben. Es wird die Sache an die SUVA zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch des Beschwerdegegners auf eine Invalidenrente neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Rechtsanwalt Jörg Zurkirchen, Ebikon, wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdegegners bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 23. August 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
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