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Informationen zum Dokument  BGer 2C_429/2012  Materielle Begründung
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BGer 2C_429/2012 vom 17.08.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
2C_429/2012
 
Urteil vom 17. August 2012
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Zünd, Präsident,
 
Bundesrichterin Aubry Girardin,
 
Bundesrichter Kneubühler,
 
Gerichtsschreiberin Hänni.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Steiner,
 
gegen
 
Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau, Rechtsdienst, Bahnhofplatz 3C, 5001 Aarau.
 
Gegenstand
 
Aufenthaltsbewilligung bzw. Kantonswechsel,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau vom 22. März 2012.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 X.________ (geboren 1973) heiratete am 27. Dezember 2007 in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien einen in der Schweiz niedergelassenen Landsmann. Am 1. August 2008 reiste sie mit der gemeinsamen Tochter Y.________ (geboren 23. Juni 2007) in die Schweiz ein und erhielt im Rahmen des Familiennachzugs eine Aufenthaltsbewilligung für den Kanton Luzern, gültig bis zum 1. August 2009. Die Tochter wurde in die Niederlassungsbewilligung ihres Vaters einbezogen.
 
Aufgrund einer hochgradigen Amblyopie (Schwachsichtigkeit) am rechten Auge wurde Y.________ im Oktober 2008 und Januar 2009 operiert; das Tragen einer Brille und eine linksseitige Okklusionstherapie (Abdecken eines Auges) wurden angeordnet. Operative Eingriffe waren zum Urteilszeitpunkt der Vorinstanz keine mehr vorgesehen; die medizinische Behandlung beschränkt sich nunmehr auf die Okklusionstherapie bis ins Lesealter, damit die Sehkraft am rechten Auge ansteigen kann.
 
1.2 Am 22. Januar 2009 beantragte X.________ beim Migrationsamt Aargau einen Kantonswechsel. Mit Urteil vom 3. April 2009 ordnete das Gerichtspräsidium Baden das Getrenntleben von X.________ und ihrem Gatten an. Dabei wurde festgestellt, dass sie und ihr Ehemann bereits seit dem 3. November 2008 nicht mehr zusammenwohnten. Y.________ wurde für die Dauer der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts unter die Obhut der Mutter gestellt.
 
Am 14. April 2010 wies das Migrationsamt des Kantons Aargau das Gesuch um Erteilung einer Aufenthalts- bzw. Niederlassungsbewilligung ab. Eine gegen diesen Entscheid beim Migrationsamt erhobene Einsprache blieb im Wesentlichen ohne Erfolg. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau am 22. März 2012 ab.
 
1.3 Mit Beschwerde vom 10. Mai 2012 beantragt X.________, das entsprechende Urteil aufzuheben; ihr sei eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.
 
Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau und das Bundesamt für Migration beantragen, die Beschwerde abzuweisen. Das Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau hat darauf verzichtet, sich vernehmen zu lassen.
 
Mit Verfügung vom 16. Mai 2012 hat der Abteilungspräsident der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.
 
2.
 
Die Eingabe erweist sich - soweit die Beschwerdeführerin sich darin sachbezogen mit den Ausführungen der Vorinstanz auseinandersetzt und nicht lediglich ohne Bezugnahme auf den angefochtenen Entscheid ihren Standpunkt wiederholt (vgl. Art. 42 BGG; BGE 134 II 244 E. 2.1 - 2.3) - als offensichtlich unbegründet und kann im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 BGG behandelt werden:
 
2.1
 
Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 BV) geltend; die Vorinstanz wäre aus ihrer Sicht verpflichtet gewesen, ihren Bruder als Zeuge zu vernehmen, um sich ein vollständiges Bild der behaupteten ehelichen Gewalt zu machen. Die Rüge ist unbegründet: Die Vorinstanz hat sich eingehend mit der Frage der ehelichen Gewalt auseinandergesetzt; sie durfte sich - weil das Strafverfahren eingestellt und auch keine weiteren Beweismittel wie etwa ein Arztbericht eingereicht worden waren - für die Frage des Ausmasses der Vorfälle massgeblich auf die polizeilichen Einvernahmen stützen; ebenso wurden die bereits aktenkundigen Aussagen des Bruders der Beschwerdeführerin zu den ehelichen Vorfällen berücksichtigt. Den Aussagen der Beschwerdeführerin und ihres Bruders mass die Vorinstanz ein wesentlich höheres Gewicht als den Erklärungen des Ehemannes bei, der vollumfänglich bestritt, dass es je zu Tätlichkeiten und Drohungen gegenüber seiner Gattin gekommen sei (vgl. dazu unten, E. 2.2.4). Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz in antizipierter Beweiswürdigung willkürfrei von weiteren Beweismassnahmen absehen (BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236 f.; 134 I 140 E. 5.3 S. 148; 131 I 153 E. 3 S. 157 mit Hinweisen).
 
2.2
 
2.2.1 Ausländische Ehegatten von Niedergelassenen haben unter Vorbehalt von Art. 51 Abs. 2 AuG (SR 142.20) Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn sie mit ihrem Partner zusammenwohnen (Art. 43 Abs. 1 AuG). Der Bewilligungsanspruch besteht trotz Auflösens bzw. definitiven Scheiterns der Ehegemeinschaft fort, wenn diese mindestens drei Jahre gedauert und die betroffene ausländische Person sich hier erfolgreich integriert hat (Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG; BGE 136 II 113 E. 3.3.3). Eine (relevante) Ehegemeinschaft liegt vor, solange die eheliche Beziehung tatsächlich gelebt wird und ein gegenseitiger Ehewille besteht. Dabei ist im Wesentlichen auf die Dauer der nach aussen wahrnehmbaren ehelichen Wohngemeinschaft abzustellen (BGE 137 II 345 E. 3.1.2 f. S. 347; Urteil 2C_903/2011 vom 11. Juni 2012 E. 2.2; 2C_544/2010 vom 23. Dezember 2010 E. 2.2). Die Beschwerdeführerin und ihr Gatte haben sich unbestrittenermassen spätestens im November 2008 getrennt. Ihre Ehegemeinschaft in der Schweiz hat damit keine drei Jahre gedauert, weshalb sich die Beschwerdeführerin nicht auf Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG berufen kann.
 
2.2.2 Entgegen ihrer Kritik hat die Vorinstanz auch das Vorliegen eines Härtefalls im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG zu Recht verneint: Danach besteht der Bewilligungsanspruch nach einer gescheiterten Ehe fort, falls wichtige persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen (vgl. BGE 137 II 345 E. 3.2 S. 348 ff.). Bei der Anwendung von Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG ist entscheidend, ob die persönliche, berufliche und familiäre Wiedereingliederung der betroffenen ausländischen Person bei einer Rückkehr in ihre Heimat als stark gefährdet zu gelten hätte und nicht, ob ein Leben in der Schweiz einfacher wäre und von ihr vorgezogen würde (vgl. BGE 137 II 345 E. 3.2.3 S. 350 und die Urteile 2C_489/2011 vom 16. Juni 2011 E. 2.2 sowie 2C_216/2009 vom 20. August 2009 E. 3). Ein persönlicher, nachehelicher Härtefall setzt aufgrund der gesamten Umstände eine erhebliche Intensität der Konsequenzen für das Privat- und Familienleben voraus, die mit der Lebenssituation nach dem Dahinfallen der gestützt auf Art. 43 Abs. 1 AuG abgeleiteten Anwesenheitsberechtigung verbunden sein muss (vgl. BGE 137 II 345 E. 3.2.3 S. 350; Urteile 2C_428/2012 vom 18. Mai 2012 E. 2.2.1 2C_781/2010 vom 16. Februar 2011 E. 2.2). Wurden keine engen Beziehungen zur Schweiz geknüpft und war der Aufenthalt im Land nur von kurzer Dauer, besteht praxisgemäss kein Anspruch auf einen weiteren Verbleib, auch wenn die betroffene ausländische Person hier nicht straffällig geworden ist, gearbeitet hat und inzwischen allenfalls auch etwas Deutsch spricht (vgl. Urteil 2C_428/2012 vom 18. Mai 2012 E. 2.2.1).
 
2.2.3 Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, inwiefern die Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Mazedonien besondere Probleme stellen würde, die in einem hinreichend engen Zusammenhang zur anspruchsbegründenden Ehe und dem damit verbundenen bisherigen (bewilligten) Aufenthalt in der Schweiz stünden (vgl. BGE 137 II 345 E. 3.2.3 S. 350): Die Beschwerdeführerin hält sich erst seit rund vier Jahren im Land auf und lebte hier nur während 3 Monaten mit ihrem Gatten zusammen. Zwar hat die Beschwerdeführerin Sprachkurse absolviert und eine Stelle als Reinigungskraft angetreten, doch bestehen aufgrund des verbindlich festgestellten Sachverhalts, dessen Richtigkeit sie nur appellatorisch und damit nicht rechtsgenügend kritisiert (vgl. Art. 105 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.3), keine weiteren Hinweise darauf, dass ihre Wiedereingliederung in der Heimat ernstlich beeinträchtigt erschiene. Die Beschwerdeführerin ist erst mit 34 Jahren in die Schweiz gekommen und hat den Grossteil ihres Lebens, insbesondere die Schulzeit und die kulturell prägenden Jugendjahre, in der Heimat verbracht, wo sie - wie die Vorinstanz willkürfrei annehmen durfte - eine ihrer hiesigen Tätigkeit entsprechende Stelle finden kann.
 
2.2.4 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann auch nicht gesagt werden, dass sie Opfer ehelicher Gewalt im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 50 Abs. 2 AuG geworden wäre: Die Vorinstanz hat sich mit den Aussagen der Beschwerdeführerin zu den Vorkommnissen in der Ehe anlässlich der polizeilichen Einvernahme wie auch mit den den Akten entnommenen Auskünften des Bruders vertieft auseinandergesetzt. Das gegen den Ehemann angehobene Strafverfahren wegen mehrfacher Tätlichkeiten, mehrfacher Drohung und mehrfacher Nötigung wurde eingestellt. Aufgrund des strengen Beweismasses im Strafrecht ist diese Verfahrenseinstellung nicht dahin gehend gewürdigt worden, dass es zu keiner ehelichen Gewalt gekommen sei. Vielmehr hat die Vorinstanz gestützt auf die polizeilichen Einvernahmen und die Aussagen des Bruders mit eingehender Begründung eine solche bejaht, dieser jedoch nicht eine derartige Intensität zugebilligt, dass sie für sich allein einen Härtefall im Sinne des Gesetzes hätte begründen können (vgl. hierzu Urteil 2C_821/2011 22. Juni 2012 E. 3.2, zur Publikation vorgesehen).
 
2.2.5 Zu Unrecht beruft sich die Beschwerdeführerin für ihren Verlängerungsanspruch auch auf Art. 8 EMRK: Die Tochter der Beschwerdeführerin hat ihr erstes Lebensjahr zusammen mit ihrer Mutter in Mazedonien verbracht. Sie war zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils weniger als dreieinhalb Jahre alt. Damit sind ihre Beziehungen zur Umwelt und mithin zu einem konkreten Aufenthaltsort im Wesentlichen noch durch das Zusammenleben mit ihren Eltern resp. mit ihrer sorgeberechtigten Mutter bestimmt; sofern diese ausreisen muss, kann sie ihr zwangslos ins Ausland folgen (vgl. BGE 127 II 60 E. 2b S. 67 f.); ein umgekehrter Familiennachzug fällt in dieser Konstellation nicht in Betracht (Urteil 2C_830/2010 10. Juni 2011 E. 3.2.2; 2C_328/2010 vom 19. Mai 2011 E. 4.2.2; 2C_364/2010 vom 23. September 2010 E. 2.2.4). Mit Bezug auf die gesundheitliche Situation der Tochter existieren nach den Abklärungen vor Ort und den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG) am Herkunftsort der Beschwerdeführerin Augenkliniken, welche die weiteren Untersuchungen und Behandlungen der Tochter durchführen können. Als zusätzliche therapeutische Massnahmen stehen zudem keine Eingriffe, sondern lediglich eine Okklusionstherapie (Abdeckung des Führungsauges) im Zentrum. Der blosse Umstand, dass das Gesundheits- und Sozialversicherungssystem in einem anderen Staat allenfalls nicht mit jenem in der Schweiz vergleichbar ist und die hiesige medizinische Versorgung einem höheren Standard entspricht, hat nicht bereits die Unzumutbarkeit einer Rückkehr in die früheren Verhältnisse zur Folge (vgl. das Urteil 2C_833/2011 vom 6. Juni 2012 E. 3.3.2; BGE 128 II 200 E. 5.3). Dass ihr Bruder und seine Familie die Beschwerdeführerin nach der Trennung von ihrem Gatten vorübergehend aufgenommen haben, vermag kein für einen Bewilligungsanspruch ausserhalb der Kernfamilie erforderliches Abhängigkeitsverhältnis zu begründen (BGE 129 II 11 E. 2 S. 14; Urteil 2A.564/2006 vom 10. Januar 2007 E. 2.4; Urteil 2A.29/2002 vom 14. Mai 2002 E. 3.3).
 
3.
 
3.1 Die Beschwerde somit ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Für alles Weitere wird ergänzend auf die umfassenden Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen (Art. 109 Abs. 3 BGG).
 
3.2 Die unterliegende Beschwerdeführerin hat die Kosten für das bundesgerichtliche Verfahren zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist mangels ernsthafter Erfolgsaussichten der Rechtsbegehren nicht zu entsprechen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Es sind keine Entschädigungen geschuldet (Art. 68 Abs. 3 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
2.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
2.2 Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden der Bescherdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 17. August 2012
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Zünd
 
Die Gerichtsschreiberin: Hänni
 
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