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Informationen zum Dokument  BGer 1B_220/2012  Materielle Begründung
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BGer 1B_220/2012 vom 03.07.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_220/2012
 
Urteil vom 3. Juli 2012
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Konrad Jeker,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau,
 
Bahnhofstrasse 4, 5600 Lenzburg 2.
 
Gegenstand
 
Strafverfachen; Nichtanhandnahme,
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 23. Februar 2012 des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________, Y.________ und weitere Beteiligte einerseits und Z.________ und weitere Beteiligte anderseits gerieten in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2007 vor der Discothek Kettenbrücke in Aarau in eine tätliche Auseinandersetzung. Dabei erhielt Z.________ einen Faustschlag ins Gesicht, an dessen Folgen er starb.
 
Y.________ wurde vom Bezirksamt Aarau am 27. Mai 2009 wegen Raufhandels zu einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen und einer Busse von Fr. 5'000.-- verurteilt. Der Strafbefehl ist in Rechtskraft erwachsen.
 
X.________ wurde - u.a. gestützt auf die Aussagen von Y.________ - als Urheber des tödlichen Schlags ermittelt und vom Bezirksgericht Aarau am 21. Oktober 2009 wegen fahrlässiger Tötung, schwerer Körperverletzung und Raufhandels zu 5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Obergericht reduzierte das Strafmass am 23. Juni 2010 auf vier Jahre und wies die Berufung von X.________ im Übrigen ab. Das Bundesgericht wies die Beschwerde von X.________ gegen dieses obergerichtliche Urteil am 4. April 2011 ab, soweit es darauf eintrat.
 
B.
 
Am 5. August 2011 reichte X.________ bei der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau gegen Y.________ Strafanzeige ein wegen falschen Zeugnisses im Sinn von Art. 307 Abs. 1 StGB, mutmasslich begangen am 20. Oktober 2009, und falscher Anschuldigung im Sinn von Art. 303 StGB, mutmasslich begangen am 28. August 2007. Er konstituierte sich als Privatkläger und ersuchte um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Am 28. Oktober 2011 nahm die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau das Strafverfahren nicht an die Hand. Sie nahm die Verfahrenskosten auf die Staatskasse und sprach X.________ keine Parteientschädigung zu.
 
Am 23. Februar 2012 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Beschwerde von X.________ gegen die Nichtanhandnahme des Strafverfahrens ab. Es wies das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab und auferlegte ihm die Kosten des Verfahrens.
 
C.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neufestsetzung der Kosten ans Obergericht und zur Eröffnung einer Strafuntersuchung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
 
D.
 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der angefochtene Entscheid bestätigt, dass das vom Beschwerdeführer angestrebte Strafverfahren nicht an die Hand genommen wird. Er schliesst damit das Verfahren ab. Es handelt sich um den Endentscheid einer letzten kantonalen Instanz in einer Strafsache, gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1, Art. 90 BGG). Der Beschwerdeführer, der am kantonalen Verfahren als Privatkläger mitwirkte, ist befugt, sie zu erheben, wenn er an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids ein rechtlich geschütztes Interesse hat, insbesondere weil dieser sich auf die Beurteilung seiner Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG).
 
1.1 Falscher Anschuldigung im Sinn von Art. 303 Ziff. 1 StGB macht sich strafbar, wer einen Nichtschuldigen wider besseren Wissens bei der Behörde eines Verbrechens oder eines Vergehens bezichtigt in der Absicht, gegen ihn eine Strafverfolgung herbeizuführen. Diese Bestimmung schützt einerseits den zuverlässigen Gang der Rechtspflege, anderseits auch unmittelbar den Bürger vor ungerechtfertigter Strafverfolgung (BGE 132 IV 20 E. 4.1; 89 IV 204 E. 1 S. 206). Eine Verurteilung wegen falscher Anschuldigung setzt damit grundsätzlich eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte des fälschlich Angeschuldigten voraus und ist damit geeignet, ihm Zivilansprüche - z.B. Genugtuungsansprüche - gegen den Verurteilten zu verschaffen. Insoweit ist dem Beschwerdeführer ein Rechtsschutzinteresse zuzuerkennen und seine Beschwerdebefugnis zu bejahen.
 
1.2 Des falschen Zeugnisses im Sinn von Art. 307 Abs. 1 StGB macht sich schuldig, wer in einem gerichtlichen Verfahren als Zeuge zur Sache falsch aussagt. Der Straftatbestand schützt zwar in erster Linie allgemeine Interessen; wem die falsche Aussage indessen unmittelbar zum Nachteil gereichte, der kann als Geschädigter am Strafverfahren teilnehmen (BGE 129 IV 95 E. 3.1; 120 Ia 220 E. 3b S. 223) und ist befugt, sich als Privatkläger zu konstituieren (Art.115 Abs. 1, Art. 118 Abs. 1 StPO) und Beschwerde ans Bundesgericht zu erheben (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG).
 
Wie das Obergericht zu Recht ausführt (angefochtener Entscheid E. 2.2 3. Absatz S. 5), bringt der Beschwerdeführer zur Begründung des Tatvorwurfs nichts vor, was nicht bereits im Strafverfahren bekannt gewesen wäre und dementsprechend in die strafrechtliche Beurteilung aller drei mit dem Fall befassten Instanzen eingeflossen ist. Konkret beanstandet der Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift die beiden Aussagen von Y.________ als unwahr, der Beschwerdeführer habe nach dem (tödlichen) Faustschlag ins Gesicht des Opfers weiter auf dieses eingeprügelt, und er habe nach der Auseinandersetzung mit seinen Taten im Kampf geprahlt. Beide Aussagen wurden im Strafverfahren nicht gegen den Beschwerdeführer verwertet: Das Obergericht geht in seinem Urteil vom 23. Juni 2010 davon aus, dass der Beschwerdeführer seinem Opfer einen einzigen (tödlichen) Faustschlag ins Gesicht versetzte und lässt offen, ob er nach der Auseinandersetzung mit dieser Tat prahlte (E. 3.9 S. 42 f.). Sollte Y.________ in diesen Punkten effektiv vorsätzlich falsch ausgesagt haben, hätten diese Falschaussagen dem Beschwerdeführer nicht unmittelbar zum Nachteil gereicht. Er ist insoweit mangels eines rechtlich geschützten Interesses nicht beschwerdebefugt.
 
1.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde im dargelegten Umfang einzutreten ist. Allerdings muss die Beschwerdebegründung in der Beschwerdeschrift selbst enthalten sein (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 134 II 244 E. 2.1; 133 II 396 E. 3.2). Soweit der Beschwerdeführer in allgemeiner Form und unter Verweis auf die Akten die Existenz weiterer falscher Aussagen bzw. Anschuldigungen behauptet, die es abzuklären gelte, ohne sie in der Beschwerdeschrift konkret zu nennen, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.
 
2.
 
In Bezug auf den Straftatbestand der falschen Anschuldigung müssen sich die unwahren Vorwürfe gegen einen Nichtschuldigen richten, und sie müssen in der Absicht vorgebracht worden sein, eine Strafverfolgung gegen ihn herbeizuführen.
 
2.1 Die Staatsanwaltschaft nimmt nach Art. 310 Abs. 1 lit. a StPO eine Untersuchung u.a. dann nicht an die Hand, sobald aufgrund der Strafanzeige oder des Polizeirapports feststeht, dass die fraglichen Straftatbestände eindeutig nicht erfüllt sind. Eine Untersuchung darf danach nur dann nicht an die Hand genommen werden, wenn sicher feststeht, dass der Sachverhalt unter keinen Straftatbestand fällt. Im Zweifelsfall - wenn die Sach- und/oder die Rechtslage nicht von vornherein klar sind - ist eine Untersuchung zu eröffnen (BGE 137 IV 285 E. 2.3 mit Hinweisen auf die Lehre).
 
2.2 Das Obergericht führt zur Tatbestandsmässigkeit des Y.________ vorgeworfenen Verhaltens aus, der Beschwerdeführer sei einerseits wegen des hier umstrittenen Angriffs rechtskräftig verurteilt worden und damit kein "Nichtschuldiger" im Sinn von Art. 303 Ziff. 1 StGB. Anderseits sei die Anschuldigung in einem Zeitpunkt erfolgt, als die Strafverfolgung gegen den Beschwerdeführer, was Y.________ gewusst habe, bereits eröffnet worden sei. Sie sei damit von vornherein nicht geeignet gewesen, eine Strafverfolgung auszulösen.
 
Letzteres trifft ohne Weiteres zu und wird auch vom Beschwerdeführer nicht bestritten, womit die Tatbestandsmässigkeit schon aus diesem Grund auszuschliessen ist. Entgegen seinem Einwand trifft es indessen auch zu, dass er wegen dieses Vorfalls rechtskräftig verurteilt wurde und damit kein "Nichtschuldiger" im Sinn des Gesetzes ist. Der Vorwurf, darin liege ein Zirkelschluss, weil er ja gerade geltend mache, er sei wegen der falschen Anschuldigungen zu Unrecht verurteilt worden, geht fehl. Er ist und bleibt - vorbehältlich einer erfolgreichen Revision im Sinn der Art. 410 ff. StPO - rechtskräftig verurteilt. Daran kann die in der Strafanzeige vorgebrachte, sich ausschliesslich auf im Strafverfahren bekannte und mitbeurteilte Fakten stützende Behauptung, falsch angeschuldigt worden zu sein, nichts ändern. Ansonsten könnte mit einer solchen Behauptung jedes rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren neu aufgerollt werden, was offenkundig nicht Sinn dieses Straftatbestands sein kann.
 
3.
 
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches indessen abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verteidigung wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 3. Juli 2012
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Störi
 
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