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Informationen zum Dokument  BGer 6B_808/2011  Materielle Begründung
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BGer 6B_808/2011 vom 24.05.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_808/2011
 
Urteil vom 24. Mai 2012
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Mathys, Präsident,
 
Bundesrichter Schneider, Schöbi,
 
Gerichtsschreiber Briw.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Willi Egloff,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Widerhandlung gegen das Ausländergesetz (Ausgrenzung), Kosten und Entschädigung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
 
des Kantons Bern, Strafabteilung, 2. Strafkammer,
 
vom 4. November 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der Migrationsdienst des Kantons Bern verbot X.________ am 23. Januar 2003 gestützt auf Art. 13e aANAG das Betreten des Gebietes der Stadt Bern. Mit Verfügung vom 6. Oktober 2003 wurde die Ausgrenzung mit der Ausnahme von ärztlichen Terminen beibehalten. Auf eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde trat das Verwaltungsgericht des Kantons Bern am 29. April 2004 nicht ein. Nach Abweisung der Beschwerde gegen einen negativen Asylentscheid und Wegweisungsverfügung durch die Asylrekurskommission ordnete das Bundesamt für Migration am 22. Dezember 2006 die vorläufige Aufnahme an (Ausweis Kategorie F). Der Migrationsdienst erlaubte X.________ am 8. Juli 2008 zusätzlich, alle Termine bei einem Arzt in der Poliklinik des Inselspitals wahrzunehmen und sich dabei während je 30 Minuten vor und nach der Sitzung auf der Strecke zwischen Poliklinik und Bahnhof Bern aufzuhalten. X.________ beantragte am 22. Juli 2008 und am 8. Januar 2010 die Aufhebung des Betretungsverbots (worauf das Migrationsamt nicht antwortete).
 
Am 18. August 2010 wurde X.________ im Rahmen des Strafvollzugs im Bremerwald beschäftigt und um 18 Uhr zur Postautostation am Bahnhof Bern gebracht, von wo er die Heimreise anzutreten hatte. Um ca. 22 Uhr wurde er auf dem Münsterplatz in Bern durch die Polizei kontrolliert und anschliessend auf der Polizeiwache einem Urintest (Mahsan-Test) unterzogen. Die Polizei verzeigte ihn wegen Missachtens einer Ausgrenzungsverfügung und wegen Konsums von Betäubungsmitteln.
 
Das Untersuchungsrichteramt III Bern-Mittelland verurteilte X.________ mit Strafmandat vom 6. September 2010 wegen Missachtens der Ein- oder Ausgrenzung und wegen Widerhandlung gegen das BetmG durch Konsum von Cannabis, begangen am 18. August 2010 auf dem Münsterplatz in Bern, zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 30.-- sowie einer Busse von Fr. 100.-- und auferlegte ihm die Verfahrenskosten von Fr. 400.--.
 
B.
 
Das Regionalgericht Bern-Mittelland (nachfolgend: erste Instanz) sprach X.________ auf seine Einsprache hin am 7. März 2011 von der Widerhandlung gegen das BetmG frei, und zwar ohne Ausrichtung einer Entschädigung und ohne Ausscheidung von Verfahrenskosten. Es erklärte ihn schuldig der Widerhandlung gegen das Ausländergesetz (Art. 119 Abs. 1 AuG; SR 142.20) durch Missachtung einer Ausgrenzungsverfügung am 18. August 2010 in Bern und verurteilte ihn zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 25.-- sowie zu den Verfahrenskosten von Fr. 800.-- (bzw. Fr. 500.--, sofern keine schriftliche Urteilsbegründung verlangt wird).
 
Das Obergericht des Kantons Bern stellte am 4. November 2011 auf Berufung von X.________ die Rechtskraft des erstinstanzlichen Freispruchs von der Widerhandlung gegen das BetmG fest und bestätigte das erstinstanzliche Urteil im Schuld- und Strafpunkt. Es verurteilte ihn zu den erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 800.-- und auferlegte ihm die Kosten im Berufungsverfahren von Fr. 1'200.--. Es schied für den erstinstanzlichen Freispruch keine Verfahrenskosten aus und sprach für das erstinstanzliche sowie das obergerichtliche Verfahren keine Entschädigung zu.
 
C.
 
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, ihn von der Widerhandlung gegen das AuG freizusprechen, die erst- und vorinstanzlichen Verfahrenskosten dem Kanton Bern aufzuerlegen und ihm für die vorinstanzlichen Verteidigungskosten eine angemessene Entschädigung zu Lasten des Kantons Bern zuzusprechen. Eventualiter seien die für den erstinstanzlichen Freispruch entfallenden Verfahrenskosten auszuscheiden sowie dem Kanton Bern aufzuerlegen und ihm eine entsprechende Entschädigung zuzusprechen. Es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Beschwerdegegenstand ist der Schuldspruch wegen Missachtung einer Ausgrenzungsverfügung durch den Beschwerdeführer am 18. August 2010. Vorfrageweise ist die Rüge des Beschwerdeführers zu prüfen, es bestehe keine gültige Ausgrenzungsverfügung.
 
1.1 Dem Beschwerdeführer wurde am 23. Januar 2003 gestützt auf Art. 13e aANAG das Betreten des Gebiets der Stadt Bern verboten. In weiteren Verfügungen vom 6. Oktober 2003 und 8. Juli 2008 wurden Ausnahmen für ärztliche Termine bewilligt. Am 18. August 2010 wurde er abends auf dem Münsterplatz kontrolliert.
 
Massgebend ist die Verfügung des Migrationsdienstes des Kantons Bern vom 6. Oktober 2003 (welche die Verfügung vom 23. Januar 2003 ersetzte). Nach dieser auf Art. 13e aANAG gestützten Verfügung darf der Beschwerdeführer das gesamte Gebiet der Stadt Bern ab sofort und bis auf Weiteres nicht mehr betreten, ausgenommen für die Termine im Methadonzentrum der UPD und zur ärztlichen Behandlung bei Frau Dr. A.________. Er ist verpflichtet, sämtliche Termine nachzuweisen und das Stadtgebiet nach erfolgter Behandlung umgehend zu verlassen. Er wird darauf hingewiesen, dass bei einer Missachtung gestützt auf Art. 13a oder 13b aANAG Haft angeordnet werden kann und dass Widerhandlungen gegen diese Verfügung gemäss Art. 292 StGB oder gemäss Art. 23a aANAG mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Haft bestraft werden können. In der Begründung wird ausgeführt, der Beschwerdeführer verfüge über keine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung. Er störe und gefährde die öffentliche Sicherheit und Ordnung in zunehmendem Masse, indem er bereits 18 Mal, zuletzt am 14. August 2003, durch die Stadtpolizei Bern in der Drogenszene bei Handel und Konsum kontrolliert worden sei und habe verzeigt werden müssen. Ausserdem träfen wiederholt polizeiliche Anzeigen wegen Widerhandlungen gegen das Waffengesetz, wegen Diebstahls sowie wegen Verstössen gegen das Transportgesetz durch Schwarzfahren ein.
 
Im Strafregisterauszug vom 27. August 2010 sind zahlreiche rechtskräftige Urteile der Berner Strafbehörden, insbesondere wegen Widerhandlungen gegen das BetmG sowie wegen Missachtung der Ein- oder Ausgrenzung, aufgeführt, nämlich zwei Urteile 2001, ein Urteil 2002, drei Urteile 2003, zwei Urteile 2005, drei Urteile 2006 und drei Urteile 2009. Im letzten aufgelisteten Urteil vom 30. November 2009 war der Beschwerdeführer wegen Missachtung der Ein- und Ausgrenzung sowie wegen Übertretung des BetmG zu gemeinnütziger Arbeit von 120 Stunden verurteilt worden.
 
Die Ausgrenzungsverfügung bestand somit seit dem Jahre 2003 und wurde durch zahlreiche ausländerrechtliche und strafrechtliche Verfahren aufrecht erhalten.
 
1.2 Art. 13e aANAG bildete die gesetzliche Grundlage für ein so genanntes Rayonverbot. Die kantonalen Behörden können verbieten, "ein bestimmtes Gebiet zu betreten" (Art. 13e Abs. 2 aANAG). Am 1. Januar 2008 trat das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) in Kraft. Art. 74 AuG regelt die Ein- und Ausgrenzung und bestimmt in Abs. 1, dass die zuständige kantonale Behörde einer Person die Auflage machen kann, "ein bestimmtes Gebiet nicht zu betreten". Wie bereits Art. 13e aANAG bezweckt Art. 74 AuG insbesondere die Bekämpfung des Betäubungsmittelhandels. Diese Massnahme dient auch dazu, Asylbewerber von der Drogenszene fernzuhalten. Ein- bzw. ausgegrenzt werden können auch Asylbewerber und vorläufig Aufgenommene im Sinne von Art. 83 AuG (THOMAS HUGI YAR, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Auflage 2008, Rz. 10.171). Dieser Rechtslage steht nicht entgegen, dass der vorläufig Aufgenommene seinen Aufenthaltsort frei wählen kann (Art. 14c Abs. 2 aANAG bzw. Art. 85 Abs. 5 AuG). Die Wahlfreiheit besteht unter den Voraussetzungen der Ausländergesetzgebung, insbesondere von Art. 74 AuG.
 
Art. 13e aANAG und Art. 74 AuG stimmen im zu beurteilenden Zusammenhang überein (unten E. 2.2). Mit dem Inkrafttreten des AuG wurde der Tatbestand der Ein- und Ausgrenzung in das neue Gesetz übernommen. Das AuG hob die bestehenden Ausgrenzungsverfügungen nicht auf. Das wird durch das Günstigkeitsprinzip von Art. 126 Abs. 4 AuG bestätigt, wonach auf Widerhandlungen vor Inkrafttreten des AuG dessen Strafbestimmungen anzuwenden sind, sofern sie für den Täter milder sind. Die Aufhebung des Betretungsverbots bedürfte einer entsprechenden Individualverfügung. Der Beschwerdeführer hatte zwei Mal die Aufhebung beantragt. Der Migrationsdienst beantwortete die Gesuche nicht (was die Vorinstanz beanstandet). Der Migrationsdienst hielt die Massnahme aufrecht (angefochtenes Urteil S. 7). Die Aufrechterhaltung der Zwangsmassnahme ist angesichts des andauernd renitenten Verhaltens (oben E. 1.1) gerechtfertigt. Das Vorbringen, es hätte keine unbefristete Ausgrenzungsverfügung erlassen werden dürfen, geht an der Sache vorbei. Sie wurde mit Verfügung vom 8. Juli 2008 und in ihrer Gültigkeit durch zahlreiche Strafurteile bestätigt (ferner unten E. 1.3). Bestand aus gesundheitlichen Gründen die Notwendigkeit des Betretens der Stadt, wurde dies dem Beschwerdeführer bewilligt. Der Vorwurf der Rechtsverweigerung wegen Nichtbeantwortung der beiden Aufhebungsgesuche hätte im entsprechenden Verfahren erhoben werden können.
 
Die mit Ausnahmen versehene Massnahme verletzt als gesetzlich bestimmter, relativ leichter Eingriff in die persönliche Freiheit (Urteil 2A.148/2003 vom 30. Mai 2003 E. 2.3) weder Art. 10 Abs. 2 BV noch erweist sie sich als unverhältnismässige Einschränkung der Grundrechte im Sinne von Art. 36 BV (vgl. BGE 134 I 140 E. 6 betreffend ein anderweitiges Rayonverbot). Die Verhältnismässigkeit zeigt sich auch darin, dass dem Beschwerdeführer in der Praxis diskussionslos Ausnahmen zugestanden wurden (unten E. 3, Urintests).
 
1.3 Unbegründet ist ferner die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil die Vorinstanz nicht auf den geltend gemachten Verstoss gegen Art. 12 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) sowie auf die Frage einer Begrenzung der Ausgrenzungsverfügung eingegangen sei.
 
Die Zwangsmassnahme ist mit Art. 12 Abs. 1 des Internationalen Pakts vereinbar (HUGI YAR, a.a.O., Rz. 10.170). Die Rechte aus dieser Bestimmung dürfen bei Ausländern unter den Voraussetzungen von Abs. 3 eingeschränkt werden (MANFRED NOWAK, U.N. Convenant on Civil and Political Rights, 2. Auflage 2005, Art. 12 N 9). Art. 12 steht der räumlichen Einschränkung des Aufenthaltsgebiets nicht entgegen. Der Aufenthalt eines Ausländers ist nur insoweit rechtmässig, als die Bedingungen oder Beschränkungen eingehalten werden, an die seine Bewilligung geknüpft ist (EuGRZ 1987 S. 336 betreffend den mit Art. 12 Abs. 1 des Pakts gleich lautenden Art. 2 Abs. 1 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK; ROBERT ESSER, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage 2012, Bd. 11, EMRK/IPBPR, S. 985 N 4).
 
Die Begrenzung einer Ausgrenzungsverfügung ist unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit zu beurteilen. Der Rayon muss so bestimmt werden, dass soziale Kontakte und dringliche Verrichtungen möglich bleiben. Das war vorliegend der Fall. Weiter kann eine Eingrenzung grundsätzlich nicht auf unabsehbare Zeit aufrecht erhalten bleiben. Sie ist aufzuheben, wenn der Betroffene zu begründeter Hoffnung Anlass gibt, er werde sich künftig wohl verhalten (Urteil 2A.193/1995 vom 13. Juli 1995 E. 2c). Dazu bestand angesichts des renitenten Verhaltens und des andauernden Kontakts des Beschwerdeführers mit der Drogenszene kein Anlass. Entgegen seinem Vorbringen ergibt sich aus dem Urteil 2A.148/2003 vom 30. Mai 2003 nicht einfach die Meinung des Bundesgerichts, dass unbefristete Ausgrenzungsverfügungen ohnehin unverhältnismässig und damit rechtswidrig sind. In diesem Urteil wird vielmehr darauf hingewiesen, dass Massnahmen der Ein- oder Ausgrenzung dem Prinzip der Verhältnismässigkeit unterliegen. Sie müssen geeignet und erforderlich sein. Überdies müssen Zweck und Mittel in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen, was insbesondere bei der Festlegung und Grösse des Rayons und der Dauer der Massnahme zu beachten ist (Urteil 2A.148/2003 vom 30. Mai 2003 E. 2.4 mit Hinweis auf die Urteile 2A.583/2000 vom 6. April 2001 E. 3a sowie 2A.193/1995 vom 13. Juli 1995 E. 1c). Im Urteil 2A.583/2000 vom 6. April 2001 E. 3c wird festgehalten, dass die Massnahme nicht unverhältnismässig ist, weil der Betroffene immer noch die Möglichkeit behält, deren Aufhebung zu beantragen, indem er den Nachweis erbringen kann, dass er keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mehr darstellt.
 
Eine Gehörsverletzung ist zu verneinen. Eine Behörde muss nicht jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegen. Sie kann sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken (BGE 136 I 229 E. 5.2).
 
2.
 
Aufgrund des massgebenden Sachverhalts ist der Schuldspruch gemäss Art. 119 Abs. 1 AuG nicht zu beanstanden. Die Vorbringen wegen unrichtiger Feststellung des Sachverhalts gehen an der Sache vorbei und sind unbegründet.
 
2.1 Die Ein- oder Ausgrenzung gemäss Art. 13e aANAG wie gemäss Art. 74 AuG ist insbesondere auf vorläufig aufgenommene Ausländer zugeschnitten, welche die öffentliche Ordnung stören (ANDREAS ZÜND, in: Spescha/Thür/Zünd/Bolzli (Hrsg.), Migrationsrecht, 2. Auflage 2009, Art. 119 Rz. 2). Der Beschwerdeführer kannte Bestand und Inhalt der Ausgrenzungsverfügung und wusste, dass er sich im Gebiet der Stadt Bern nur in bestimmten Ausnahmesituationen aufhalten durfte. Diese Tatsache wurde in zahlreichen Urteilen bekräftigt.
 
Einen Rechtfertigungsgrund verneint die Vorinstanz zutreffend. Ein rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB) kann angenommen werden, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten. Das zu schützende Rechtsgut muss höherwertig sein als dasjenige, in welches zu dessen Rettung eingegriffen wird (BGE 129 IV 6 E. 3.2). Es ist nicht erkennbar, welches Rechtsgut der Beschwerdeführer aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr hätte retten wollen. Entgegen den Beschwerdevorbringen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass er sich im Tatzeitpunkt bei seinem Aufenthalt auf dem als Drogentreff bekannten Münsterplatz "auf dem Heimweg von seinem Arbeitseinsatz" befand. Nach seiner Angabe wollte er von einer Bekannten Geld ausleihen. Er hatte bei der Anhaltung zwei Franken auf sich, die Fahrkarte kostete Fr. 2.70 bzw. ohne Halbtagsabonnement vier Franken (erstinstanzliches Urteil S. 7 f.). Wegen des behaupteten Geldmangels für den Kauf der Busfahrkarte hätte er sich im Bahnhof Bern und nicht um ca. 22 Uhr bei der Toilettenanlage auf dem Münsterplatz um Hilfe umsehen können. Seinem Einwand, er hätte sich wegen des fehlenden Geldes um 18 Uhr nicht bei der Polizei am Bahnhof melden können, denn Sozialhilfe sei klarerweise nicht die Aufgabe der Polizei, ist entgegenzuhalten, dass mit einer Meldung bei der Polizei die Sache rechtzeitig hätte geordnet werden können.
 
2.2 Gemäss Art. 23a aANAG ist strafbar, wer Massnahmen nach Art. 13e aANAG nicht befolgt und aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht weg- oder ausgewiesen werden kann (sachlich ebenso Art. 119 Abs. 2 AuG). Das ist beim Beschwerdeführer der Fall (vgl. Urteil 2A.148/2003 vom 30. Mai 2003 E. 2.2).
 
Art. 13e aANAG und Art. 74 AuG stimmen im Tatbestand überein (Urteil 2C_437/2009 vom 27. Oktober 2009 E. 2.1), nicht aber Art. 23a aANAG und Art. 119 Abs. 1 AuG in der Strafandrohung. Gemäss Art. 126 Abs. 4 AuG sind auf Widerhandlungen vor Inkrafttreten des AuG die Bestimmungen des aANAG anzuwenden, sofern sie für den Täter milder sind. Auf Widerhandlungen nach dem Inkrafttreten sind somit die Strafbestimmungen des AuG anzuwenden. Zu beachten hatte die Vorinstanz die Strafandrohung bis zu einem Jahr Gefängnis oder Haft gemäss Art. 23a aANAG in der massgebenden Ausgrenzungsverfügung vom 6. Oktober 2003. Anders als Art. 23a aANAG bedroht Art. 119 Abs. 1 AuG die Nichtbefolgung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Dem Beschwerdeführer wurde in der Verfügung vom 6. Oktober 2003 für Zuwiderhandlungen die einjährige Gefängnisstrafe oder Haft gemäss aANAG angedroht (neben der inzwischen geänderten Strafandrohung Busse in Art. 292 StGB; vgl. oben E. 1.1). Es blieb in der Folge bei der Strafandrohung von Art. 23a aANAG. Gemäss Art. 24 aANAG finden auf die Strafnorm von Art. 23a aANAG die Allgemeinen Bestimmungen des StGB Anwendung. Obwohl sich eine solche Verweisung im AuG nicht findet, gilt dieser Grundsatz auch für dessen Strafbestimmungen. Art. 23a aANAG und Art. 119 Abs. 1 AuG ermöglichen unter dem Gesichtspunkt des milderen Rechts (Art. 126 Abs. 4 AuG und Art. 2 Abs. 2 StGB) sowie unter Berücksichtigung von Art. 41 StGB, wonach auf eine kurze Freiheitsstrafe nur ausnahmsweise zu erkennen ist, die Anwendung von Art. 34 StGB, so dass eine Geldstrafe in Betracht kam.
 
Die Geldstrafe von 30 Tagessätzen ist nicht zu beanstanden. Der bedingte Strafvollzug (Art. 42 StGB) durfte infolge der einschlägigen Vorstrafen und uneinsichtigen Haltung (erstinstanzliches Urteil S. 12) verweigert werden.
 
3.
 
3.1 Seit dem 1. Januar 2011 ist die schweizerische Strafprozessordnung (StPO) in Kraft. Ist ein Entscheid vor Inkrafttreten der StPO gefällt worden, so werden Rechtsmittel dagegen nach bisherigem Recht, von den bisher zuständigen Behörden, beurteilt (Art. 453 Abs. 1 StPO). Für Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheide, die nach dem 31. Dezember 2010 gefällt werden, gilt neues Recht (Art. 454 Abs. 1 StPO). Ausschlaggebend für die Anwendbarkeit des alten oder neuen Prozessrechts ist das erstinstanzliche Entscheiddatum (BGE 137 IV 219 E. 1.1). Der Begriff der "Erstinstanz" ist im Sinne des "erstinstanzlichen Hauptverfahrens" gemäss Art. 450 StPO auszulegen. Vorausgesetzt ist ein Gericht im Sinne von Art. 339 StPO (vgl. NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, Art. 450 N 1 und Art. 453 N 1). Folglich ist der erstinstanzliche Entscheid des Regionalgerichts vom 7. März 2011 (oben Bst. B) massgebend und nicht das Strafmandat vom 6. September 2010 (oben Bst. A). Die Vorinstanz wendet zutreffend die StPO an. Für die Beurteilung von Verfahrenskosten, Entschädigung und Genugtuung kann auf die zusammenfassenden Erwägungen im Urteil 6B_618/2011 vom 22. März 2012 verwiesen werden.
 
3.2 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 429 StPO wegen Verweigerung einer Parteientschädigung. Die Vorinstanz stelle aktenwidrig fest, der Vorwurf des Betäubungsmittelkonsums habe zu keinem zusätzlichen Aufwand geführt. Er sei aufgrund eines offenbar falschen Mahsan-Tests der Polizei mit Strafmandat vom 6. September 2010 wegen Widerhandlung gegen das BetmG schuldig gesprochen worden. Aus eigener Initiative habe er Urintests durchführen lassen. Diese Massnahmen zur Selbstverteidigung hätten ihm einen Zeitaufwand von ca. sechs Stunden und drei zusätzliche Postautofahrten nach Bern im Betrag von je acht Franken verursacht.
 
Es kann offen bleiben, ob damit ein Schaden hinreichend begründet wird (Art. 42 Abs. 2 BGG). In der Hauptsache ging es im erstinstanzlichen Verfahren um einen Vergehenstatbestand des AuG. Die Übertretung von Art. 19 Abs. 1 BetmG hatte untergeordnete Bedeutung. Wegen des Bagatellcharakters der Übertretung war der Beizug eines Verteidigers nicht geboten (erstinstanzliches Urteil S. 12 und 13). Auch die Vorinstanz richtet wegen des erstinstanzlichen Freispruchs weder eine Entschädigung aus noch setzt sie die erstinstanzlichen Kosten herab, weil der Vorwurf der Übertretung des BetmG zu keinem zusätzlichen Aufwand geführt habe, der nicht ohnehin im Verfahren betreffend das AuG entstanden wäre. Eine Überprüfung des positiven Tests sei bereits bei der Anzeigeerstattung infolge der Entsorgung der Urinprobe nicht mehr möglich gewesen. Die Erstinstanz habe deshalb in dubio pro reo freigesprochen.
 
Die Strafbehörde kann die Entschädigung verweigern, wenn die Aufwendungen der beschuldigten Person gering sind (Art. 430 Abs. 1 lit. c StPO). Diese Bestimmung ist grundsätzlich entsprechend der bisherigen Rechtsprechung anzuwenden. Eine Person muss das Risiko einer gegen sie geführten materiell ungerechtfertigten Strafverfolgung bis zu einem gewissen Grade auf sich nehmen. Daher ist nicht für jeden geringfügigen Nachteil eine Entschädigung zu leisten. Die Entschädigungspflicht setzt vielmehr eine gewisse objektive Schwere der Untersuchungshandlung und einen dadurch bedingten erheblichen Nachteil voraus (Urteile 6B_490/2007 vom 11. Februar 2008 E. 2.3 und 6B_595/2007 vom 11. März 2008 E. 2.2, je mit Hinweisen; STEFAN WEHRENBERG/IRENE BERNHARD, in: Schweizerische Strafprozessordnung, Basler Kommentar, Art. 430 N 18 f.; YVONA GRIESSER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Zürcher Kommentar, Art. 430 N 14; CÉDRIC MIZEL/VALENTIN RÉTORNAZ, in: Code de procédure pénale suisse, Commentaire Romand, Art. 430 N 9 ff.). Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, wenn sie für den Freispruch vom Vorwurf der Übertretung des Art. 19 Abs. 1 BetmG keine Entschädigung ausrichtet.
 
3.3 Die beschuldigte Person trägt die Verfahrenskosten, wenn sie verurteilt wird (Art. 426 Abs. 1 StPO). Der Beschwerdeführer wurde im erstinstanzlichen Verfahren verurteilt und hat die Kosten zu übernehmen, die auch angesichts des (untergeordneten) Freispruchs gerechtfertigt sind. Die Kosten im Rechtsmittelverfahren trägt der Unterliegende (Art. 428 Abs. 1 StPO). Entsprechend ist ihm auch keine Entschädigung zuzusprechen. Es gilt der Grundsatz, dass bei Auferlegung der Kosten keine Entschädigung oder Genugtuung auszurichten ist (BGE 137 IV 352 E. 2.4.2).
 
4.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren abzuweisen (Art. 64 BGG). Die Notwendigkeit einer Rechtsvertretung lässt sich nicht mit ausführlichen erst- und zweitinstanzlichen Urteilserwägungen begründen. Dem Beschwerdeführer mit einschlägigen Erfahrungen musste die Korrektheit der Beurteilung des wenig komplexen Sachverhalts klar sein. Daran ändert nichts, dass sich Rechtsfragen aufwerfen lassen, deren Erörterung aufwändig sein kann. Der finanziellen Lage des sozialhilfeabhängigen Beschwerdeführers ist mit herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Strafabteilung, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 24. Mai 2012
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Mathys
 
Der Gerichtsschreiber: Briw
 
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