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Informationen zum Dokument  BGer 8C_934/2011  Materielle Begründung
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BGer 8C_934/2011 vom 15.03.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_934/2011
 
Urteil vom 15. März 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiberin Hofer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
R.________, vertreten durch
 
Rechtsanwalt Dr. Rudolf Strehler,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau,
 
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. November 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1961 geborene R.________ nahm im Jahre 1990 im Geschäft seines Bruders eine Tätigkeit als Gisper im Stundenlohn auf. Daneben betrieb er als Selbstständigerwerbender einen Pneuhandel. Nachdem er sich im Juli 1993 bei einem Sturz eine Fraktur der linken Hand zugezogen hatte, gab er seine selbstständige Erwerbstätigkeit im Frühjahr 1995 aus gesundheitlichen Gründen vollständig auf. Im Gipsergeschäft blieb er weiterhin angestellt und konnte dort als Hilfsgipser eine ganztägige, körperlich leichtere Arbeit aufnehmen.
 
Am 23. Januar 1995 meldete sich R.________ bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau verneinte mit Verfügung vom 6. Oktober 1997 einen Rentenanspruch.
 
Aufgrund einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes sprach ihm die IV-Stelle mit Verfügung vom 19. Februar 2003 mit Wirkung ab 1. Januar 2002 eine halbe Invalidenrente zu. Mit Mitteilungen vom 9. November 2004 und 17. September 2007 bestätigte sie diesen Rentenanspruch.
 
Im März 2010 leitete die IV-Stelle ein Revisionsverfahren ein und traf dabei Abklärungen am Arbeitsplatz. In der Folge hob sie mit Revisionsverfügung vom 21. Juni 2011 die bisher ausgerichtete halbe Invalidenrente mit Wirkung ab Ende Juli 2011 auf.
 
B.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 9. November 2011 ab.
 
C.
 
R.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und die Weiterausrichtung der bisherigen halben Invalidenrente über den 31. Juli 2011 hinaus beantragen; eventuell sei die Sache zur Ermittlung des Valideneinkommens an die Vorinstanz oder die IV-Stelle zurückzuweisen.
 
IV-Stelle und kantonales Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Der Beschwerdeführer rügt vorab eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV). Zur Begründung führt er aus, das kantonale Gericht habe sich, ohne ihn vorgängig angehört zu haben, mit dem ohne Gesundheitsschaden zumutbarerweise erzielbaren, beschwerdeweise indessen von keiner Seite thematisierten Einkommen (Valideneinkommen) auseinandergesetzt und dieses gestützt auf eine rechtsfehlerhafte Sachverhaltsfeststellung wesentlich tiefer festgesetzt als das der streitigen Verfügung der IV-Stelle zugrunde gelegene Valideneinkommen.
 
3.
 
3.1 Streitgegenstand im System der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege ist das Rechtsverhältnis, welches - im Rahmen des durch die Verfügung bestimmten Anfechtungsgegenstandes - den auf Grund der Beschwerdebegehren effektiv angefochtenen Verfügungsgegenstand bildet. In der Verwaltungsverfügung festgelegte - somit Teil des Anfechtungsgegenstandes bildende -, aber auf Grund der Beschwerdebegehren nicht mehr streitige Fragen gehören, sofern sie das gleiche, verfügungsweise geregelte Rechtsverhältnis betreffen, zum Streitgegenstand. Indessen prüft das Gericht die nicht beanstandeten Punkte nur, wenn dazu auf Grund der Parteivorbringen oder anderer sich aus den Akten ergebenden Anhaltspunkte hinreichender Anlass besteht (BGE 125 V 413 E. 1b und 2 S. 414 ff. mit Hinweisen, insbesondere auf BGE 110 V 48 E. 4a S. 53). Zieht das Gericht an sich nicht bestrittene Aspekte des streitigen Rechtsverhältnisses in die Prüfung mit ein, hat es bei seinem Entscheid je nachdem die Verfahrensrechte der am Prozess Beteiligten, insbesondere das Anhörungsrecht der von einer möglichen Schlechterstellung bedrohten Partei, oder den grundsätzlichen Anspruch auf den doppelten Instanzenzug zu beachten (BGE 125 V 413 E. 2 S. 417 mit Hinweisen). Das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 1 BV) ist namentlich auch dann zu gewähren, wenn die richterliche Behörde ihren Entscheid mit einer Rechtsnorm oder einem Rechtsgrund zu begründen beabsichtigt, die im bisherigen Verfahren nicht herangezogen wurden, auf die sich die beteiligten Parteien nicht berufen haben und mit deren Erheblichkeit im konkreten Fall sie nicht rechnen konnten (BGE 128 V 272 E. 5b/bb S. 278; 126 I 19 E. 2c/aa S. 22; 125 V 368 E. 4a S. 370).
 
3.2 Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 135 I 187 E. 2.2 S. 190; 133 III 235 E. 5.3 S. 250; 132 V 387 E. 5.1 S. 390).
 
4.
 
4.1 Die Darstellung des Beschwerdeführers trifft zu, wonach das für die Bestimmung des Invaliditätsgrades massgebende Valideneinkommen zu keinem Zeitpunkt strittig war.
 
Im Vorgehen der Vorinstanz liegt zwar rechtstechnisch keine Ausdehnung des Streitgegenstandes, zumal sich die Entscheidbegründung auf das streitige Rechtsverhältnis als solches - den Rentenanspruch insgesamt - bezieht (E. 3.1 hievor).
 
Der Beschwerdeführer rügt aber zu Recht, dass das kantonale Gericht ihm vorgängig hätte Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen müssen. Denn er musste nicht ohne Weiteres damit rechnen, dass die Vorinstanz ihren Entscheid auf eine Neubeurteilung des Valideneinkommens ausdehnen würde.
 
4.2 Hinzu kommt, dass die IV-Stelle sowohl in der die halbe Rente zusprechenden Verfügung vom 19. Februar 2003 wie auch in den diese bestätigenden Revisionsverfahren (vgl. die Revisionsberichte vom 9. November 2004, 17. September 2007 und 21. Juni 2011) jeweils davon ausging, das Valideneinkommen sei nach dem hypothetischen Einkommen einer Vollzeitbeschäftigung im Betrieb des Bruders des Beschwerdeführers zu ermitteln. Die Vorinstanz nimmt demgegenüber an, ohne den Gesundheitsschaden würde der Beschwerdeführer an einigen Tagen der Woche im Gipsergeschäft seines Bruders arbeiten und an den übrigen Tagen den eigenen Pneuhandel betreiben. Sie begründet jedoch nicht näher, weshalb diese Hypothese wahrscheinlicher sei als die Annahme der IV-Stelle. Zudem ermittelte sie das Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit - anders als die IV-Stelle, welche auf Angaben des Betriebs vom 5. Februar 2002 abstellte und diese der Nominallohnentwicklung anpasste - aufgrund der Einträge im individuellen Konto (IK) des Beschwerdeführers. Bezüglich des Einkommens aus dem Pneuhandel stellte sie auf die Erfolgsrechnung ab.
 
4.3 Die Vorinstanz hat abweichend von der IV-Stelle über das Valideneinkommen entschieden ohne dem Beschwerdeführer vorgängig Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen. Die eingeschränkte Kognition des Bundesgerichts in Bezug auf den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt (Art. 105 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG) sowie der grundsätzliche Anspruch auf Einhaltung des Instanzenzuges (BGE 125 V 413 E. 2c in fine S. 417; Urteil 8C_386/2011 vom 19. September 2011 E. 3.2 mit Hinweisen) sprechen gegen eine Heilung im bundesgerichtlichen Verfahren. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben, ohne dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachten materiellrechtlichen Einwände zu prüfen wären.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. November 2011 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde gegen die Verfügung vom 21. Juni 2011 neu entscheide.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, der AXA Winterthur, Winterthur, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. März 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Die Gerichtsschreiberin: Hofer
 
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